Legitime Proteste

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In der Politikwissenschaft gibt es die Unterscheidung zwischen konventionellen und unkonventionellen Beteiligungsformen.

Die sogenannten konventionellen Beteiligungsformen einer Demokratie, die keineswegs immer und überall selbstverständlich sind, mussten in verschiedenen historischen Prozessen, die nicht linear abliefen, erkämpft werde. Die politischen Teilhaberechte kommen oft nach den anderen Kategorien von Rechten, den bürgerlichen und sozialen Rechten. 

Bei all diesen fortschrittlichen Kämpfen um Rechte gab und gibt es auch Rückschläge im Kampf ums Recht. Der gewaltenteilige, zuverlässige (Rechtssicherheit!) und durchsetzungsfähige demokratische Rechtsstaat ist deshalb eine große zivilisatorische Errungenschaft. Wahlen und Abstimmungen sind nicht bloß konventionelle Routine, sondern immer wieder eine Herausforderung für die Bürgerschaften und ihre Regierungen, an denen sie sich messen lassen müssen. Ignoranz und Indifferenz sind schädlich. 

„Unkonventionell“ waren die Streiks (von engl. strike) der Arbeiterbewegung in der Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit. Im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts haben sie sich in den Gewerkschaften geradezu zu einer Wissenschaft für sich entwickelt (siehe dazu Eduard Bernstein, Der Streik, 1905). Darüber hinaus gab es intensive Debatten über den Massenstreik und den politischen Generalstreik. Diese wichtige und lehrreiche Geschichte wollen wir hier nicht noch einmal aufrollen 

Wir fragen uns stattdessen, ab wann die Unterscheidung konventionelle und unkonventionelle Protestformen eingeführt worden ist und was sie bedeutet. Lateinisch ‚protestari‘ bedeutet ursprünglich, öffentlich Widerspruch einzulegen. 

„Mit der Schwierigkeit, Nein zu sagen“, fing es an (Klaus Heinrich i964). Mit Sit-Ins und Teach -Ins, der Übernahme von Protestformen aus der amerikanischen Studentenbewegung gegen den Vietnamkrieg, ging es 1966 an der Freien Universität Berlin weiter. Dann kam der „Schuss in viele Köpfe““: Benno Ohnesorg 1967, bei einer Demonstration gegen den Schah aus Persien. Die kurze deutsche Studentenbewegung und die lange Geschichte ihrer positiven, wie fatalen Folgen wären von hier aus vielfältig nachzuerzählen. Wir wollen aber, in der Kürze etwas systematischer, bei den unkonventionellen Protestformen bleiben. 

In den USA gab es schon seit Henry David Thoreau und Martin Luther Kings Bürgerrechtsbewegung eine Tradition des bürgerlichen Ungehorsams. Hier finden wir eine ganze Palette von ebenso mutigen wie schöpferischen Widerstandshandlungen, die trotz massiver körperlicher Gewalterfahrungen friedlich bleiben – vorbildlich bis heute überall auf der Welt. 

In Deutschland und der Schweiz wurde der ‚civil disobedience‘ in den 70er Jahren rezipiert in der Anti-AKW Bewegung für die Besetzung von Baugelände in Kaiseraugst und Wyhl 1975. Seitdem wurde der stets politisch heftig umstrittene zivile Ungehorsam in den sogenannten neuen sozialen Bewegungen (Frieden, Frauen, Ökologie, Asyl) nicht nur vielfältiger, sondern auch begrifflich genauer sowie moralisch und rechtlich gewissenhafter als ziviler Widerstand im Rechtsstaat diskutiert im bewussten Unterschied zur großen ideengeschichtlichen Tradition des klassischen Widerstandsrechts mit seinen verschiedenen Varianten und Begründungen (Peter Saladin u.a., Widerstand im Rechtsstaat, Fribourg 1988; Heinz Kleger, Der neue Ungehorsam, Ffm/N.Y.1993). 

In den 80er Jahren war dieser neue Ungehorsam sodann ein hauptsächliches Thema beyond the hype. Ende der 80er, anfangs der 90er Jahre wurde es bereichert und überlagert durch die europäischen antitotalitären Revolutionen, in deren Zentrum Zivilgesellschaft, demokratische Legitimität und neue liberale Verfassung standen. Diese historische Erfahrung setzt die neuen Protest- und Widerstandsformen unter zusätzlichen Rechtfertigungsdruck. 

Die Kriterien für zivilen Ungehorsam sind streng. Er ist eine gut begründete Ausnahme- und keine Regelmethode der erkämpften und wehrhaft (auch gegen den Widerstand von Rechts) bleibenden Demokratie. Davon sollte man nicht abrücken, es darf keinen modisch billigen Ausverkauf des zivilen Ungehorsams geben. Über einige Kriterien muss vielmehr Klarheit bestehen gerade in diesen turbulenten Zeiten der Krisen und Kriege.


Zu einer konsensfähigen Definition gehören folgende Komponenten bzw. Kriterien:

  • öffentlich mit einer Aufklärungsintention
  • gewaltlos, besser friedlich (siehe dazu Laker, Baden-Baden 1986)
  • gewissensbestimmt, besser moralisch- politisch begründbar
  • gesetzwidrig, besser tatbestandliche Rechtsverletzung, für die man/frau die Konsequenzen zu tragen hat; und wir wollen noch hinzufügen:
  • politisch vertretbar. Warum dies?


Wir müssen uns immer wieder fragen – quasi nach der Einführung des zivilen Ungehorsams in das Vokabular der politischen Sprache, wo wir nicht sicher sein können, dass er wirklich eingebürgert ist (im Wortsinne) und die Aggressivität der Auseinandersetzungsformen zunimmt -, was, wann und wie zur Demokratiestärkung passt und was nicht. 

Genauso wichtig ist es heute, die Regeln und das sinnvolle Engagement für die konventionellen Methoden der Politik zu stärken. Der Kampf fürs Recht gegen den rechtsfreien Raum im Internet und bei der Überwachung beispielsweise ist auch ein ziviler Widerstand. Viele sagen, der Kampf um die Zukunft der Demokratie werde wohl netzpolitisch im world-wide-Netz entschieden. Neue Regeln und Regulierungen sind für Veränderungen ebenso wichtig, ja gewichtiger, als unkonventionelle Handlungsformen, für die es keinen Kanon gibt. 

Der neue (zivile) Ungehorsam hatte von Anfang an auch eine zeitdramatisierende Wirkung: schon in den 70er Jahren stieg der Meeresspiegel, schmolzen die Gletscher und Polkappen. Der Verlust der natürlichen Lebensgrundlagen und die Grenzen des Wachstums waren ein intensiv diskutiertes, neues politisches Thema. Das hat sich mit der Debatte über den Klimawandel und die Klimakrise als Menschheitsaufgabe nicht verändert, aber noch einmal gesteigert. Die heutige Klimakrise ist etwas anderes als eine wirtschaftliche, soziale oder politische Krise. Sie ist tatsächlich mehr als eine Krise. 

Die Zeitdramatisierung von Widerstand – Jetzt ist das Zeitfenster, um katastrophale Entwicklungen abzuwenden – ist generell ein schwieriges und problematisches ‚apokalyptisches‘ Argument ebenso wie die selbstgewisse Berufung auf die Wissenschaft (Erderwärmung, Heißzeit, Kipppunkte), denn der Mensch herrscht evolutionär nicht über die Zeit, und die Wissenschaft regiert nicht, sie kann bestenfalls Handlungsempfehlungen geben, obwohl sie zuerst und schon lange vor der Klimakrise warnt. Seit 800 000 Jahren gab es keinen größeren CO2-Anteil in der Atmosphäre. 

Ein zweites bezeichnendes Merkmal des neuen Ungehorsams, das sich ebenfalls drastisch gesteigert hat, ist seine kalkulierte mediale Öffentlichkeitswirksamkeit, mit Beginn der teils spektakulären Aktionen von Greenpeace seit den 70er Jahren. Die maximale Aufmerksamkeit wird gesucht: So ist das Video über die Kartoffelbrei-Attacke auf das weltberühmte Gemälde von Claude Monet ‚Getreideschober‘ im Museum Barberini in Potsdam 19 Millionen mal angeschaut worden. Mit dem schnellen medialen Überbietungswettbewerb in Sachen moralischer Eindeutigkeit sollte man indes bei aller aufklärenden Öffentlichkeit, die heute immer bequem in Anspruch genommen wird, vorsichtiger werden, was für alle Seiten gilt (https://uebermedien.de/78287/die-unmoegliche-debatte-um-den-tod-einer-radfahrerin/). 

In den internationalen Medien ist darüber berichtet worden, und in den sozialen Medien „tobt“(buchstäblich) eine Debatte darüber, wie weit ziviler Ungehorsam gehen darf Es „sei irgendwie ‚cool‘ gewesen, dass die ‚New York Times‘ und andere Medien weltweit darüber berichtet hätten“ (in: Märkische Allgemeine, 4.11., S.15). Andernorts mussten Vermeer, van Gogh, Toulouse-Lautrec und Goya für diese Kulturbarbarei herhalten. 

Greta Thunberg mit ihrem Pappkarton vor dem schwedischen Parlament im August 2018, auf dem sie zu einem Schulstreik für das Klima aufrief, wurde sodann zur Ikone einer neuen globalen Bewegung ‚Fridays for Future‘ so wie einst Rosa Park für die amerikanische Bürgerrechtsbewegung. Stur und zu Recht blieb sie im Bus sitzen, wo sie nicht sitzen durfte. Beides sind neue Formen von Streik, dem sich in der Folge eine große Zahl wirksam angeschlossen hat. Überraschend war auch der Beginn des arabischen Frühlings in Tunesien mit dem tragischen Schicksal von Mohamed Bouazizis 2011. Es gibt Wunder, gerade auch in der Politik (Arendt). 

Die Klimaaktivisten haben sich inzwischen in verschiedene Gruppen differenziert: Ausgangspunkt für Fridays for Future war die Orientierung an der Klimafolgenforschung, mit der sie sich intensiv beschäftigt haben, häufig im Schulterschluss mit Wissenschaftlern. Dann kam im Zusammenhang mit den Protesten gegen den weiteren Ausbau der Kohlekraftwerke, etwa in der Lausitz, „Ende Gelände“ und „Extinction Rebellion“(vor allem auf Plakaten) radikalisierend hinzu. 

In diesem Zusammenhang hat man 2016 zum ersten mal explizit gehört, vermittelt über die Wissenschaft und den Wahlkampf der Grünen, dass “ wir die letzte Generation sind, die den Klimawandel noch aufhalten kann.“ Das war die ultimative Zeitdramatisierung des Widerstandes im tagespolitischen Kontext: „Die Zeit drängt!“ Der Anteil der erneuerbaren Energien steigt zwar, die Produktion von Kohlestrom sinkt aber nicht. 

Das kleine Dorf Proschim bei Welzow (Spree-Neiße) wurde deshalb zum Austragungsort einer weitherum beachteten Aktion des zivilen Ungehorsams im Tagebau. Proschim soll abgebaggert werden wie zuvor Horno 2004/5. Am 14. Mai 2016 ziehen 2000 Braunkohlegegner dorthin. Es kam zu Blockaden des Kohletransports zum Kraftwerk Schwarze Pumpe‘ in Spremberg. Der Polizeieinsatz gegen die Demonstranten war heftig, 130 sind verhaftet worden. 

Gewaltfreier ziviler Widerstand ist ein legitimes Mittel, um den „Normalitätswahnsinn“ zu unterbrechen und „Druck auf die Regierung auszuüben „, so die Wissenschaftlerin und Klimaaktivistin Cornelia Huth. “ Das Katastrophenszenario, das sich abzeichne, liege in gar keiner fernen Zukunft mehr. Ohne gegenzusteuern, werde nicht nur das 1,5- Grad-Ziel dauerhaft überschritten. Bis zum Ende des Jahrhunderts könnten wir in einer im Durchschnitt 3 Grad heißeren Welt leben.“

„Und in unseren Breiten – auf größeren Landflächen – könne die Temperatur sogar um 5 oder 6 Grad ansteigen – mit katastrophalen Folgen.“ Hungersnöte, massive Überflutungen, Dürren Massenmigration und Kriege zählt die Wissenschaftlerin als Folgen dieser Entwicklung auf (Märkische Allgemeine, 4.11., S.15). Die Klimaaktivisten haben jedoch eine unrealistische allmächtige Vorstellung von einer demokratischen Regierung: “ Die Bundesregierung soll unseren Protest beenden – jetzt, indem sie die Krise in den Griff bekommt.“

„Bis dahin geht der Widerstand weiter „(Märkische Allgemeine, 5./6. 11. S.10). Und er schaukelt sich hoch bis zu einer Machtprobe zwischen Staat und Protest. Auf beiden Seiten werden die politischen Kampfbegriffe immer stärker und unpräziser, von kriminell bis terroristisch auf der einen Seite, von gefährlichen und gefährdenden Aktionen bis zum „einzig moralisch Richtigen“ auf der anderen Seite (Märkische Allgemeine, a.a.O).

Das friedliche Protestbündnis ‚Fridays for Future‘ warnt zurecht vor einer Verschiebung der Debatte und Versuchen, „wichtige Proteste zu delegitimieren. Was gerade passiert, ist keine ehrliche (und sachlich präzise, H.K.) Debatte über Aktivismusformen, sondern Stimmungsmache gegen Aktivismus“ (Märkische Allgemeine, a. a.O.).

Der zivile Ungehorsam, wie wir ihn oben definiert haben, darf nicht andere Menschen gefährden und soll immer auch eine sachliche Aufklärungswirkung haben und nicht Menschen abschrecken und gegen sich aufbringen, schon gar nicht auf Politikfeldern, die ein möglichst breites sachliches und politisches Bündnis (das ja selber aufgebaut werden muss!) erfordern, um nachhaltig überhaupt etwas bewirken zu können. Wir erinnern noch einmal daran, dass gerade die sogenannte Klimakrise keine gewöhnliche Krise ist, sie betrifft vielmehr eine ganze moderne urbane Zivilisation und ihre Energie.

Die kurze Kaperung eines Frachtschiffes im Lübecker Hafen am 4. November durch Greenpeace Germany, bei der ein Transparent entrollt wurde, das auf mehr Waldschutz auch in Europa aufmerksam machen sollte, ist ein anderes Beispiel, von denen es viele gibt. Das blockierte Schiff hatte ein Menge Papier aus grossflächig abgeholzten Ländern in Skandinavien an Bord. Solche Aktionen sind beispielgebend neben dem nicht-aktivistischen Versuch, die (knappe) Kraft, Energie und Phantasie im Alltag und der Politik, in Wissenschaft und Technologie für viele kleine Fortschritte einzusetzen. Alle, insbesondere jüngere Menschen, die man erreichen kann, sollte man vor allem dazu ermuntern.

Mit abschreckenden, gefährlichen und unsympathischen Aktionen, die auch in der Sache nicht zielsicher weiterführen, dekultiviert man den zivilen Ungehorsam und überhöht den Widerstand. So stürzt man (junge) Leute ins Unglück, so überzeugt man auch keine neuen Leute. Man bringt sie vielmehr nur gegen sich auf und das gerade auf einem Politikfeld, auf dem man nur, soviel ist sicher, in breitesten Bündnissen, die über die eigene Gruppe und Partei, das eigene Land und die eigene Regierung hinausgehen, etwas bewirken kann. 

Deutschland und Europa sind nicht die Welt, dessen sollte man sich bewusst sein, wenn man „die Welt retten will“. Hybris, die in fanatisches Überzeugtsein und Gewalt umschlagen kann, ist nicht am Platze. Die offene und hartnäckige Fähigkeit, andere öffentlich zu überzeugen, ist das Fundament der zivilen Demokratie.

Die deutschen Grünen wollten in die Regierung mit dem historischen Argument, eine „Klimaregierung“ zu bilden. Sie haben wie ‚ Krieger der Demokratie‘ dafür gekämpft. Die Zusammenlegung von Wirtschaft und Klimaschutz zu einem großen Ministerium war strategisch richtig, die Aussenklimapolitik liegt nun in den Händen der vormaligen Greenpeace-Chefin Jennifer Morgan, die als Staatssekretärin zur 27. Klimakonferenz nach Ägypten reist. Die deutsche Klimabilanz ist „desaströs“ (Luisa Neubauer, 7.11.). Nichtsdestotrotz machen solche Konferenzen Sinn, indem sie, vielleicht zu spät, Fortschritte bringen.

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