Am 27.3. kündigt Bundespräsident Steinmeier in seiner sonntäglichen Ansprache „härtere Zeiten“ an. Was kann noch kommen nach den zahlreichen dringlich-eindringlichen Aufrufen zur Solidarität und den Durchhalteappellen während der Pandemiekrise der letzten zwei Jahre? Vergehen die neuen Krisen nicht mehr wie die früheren ökonomischen und politischen Krisen, die zwar heftig sein konnten, aber jeweils von relativ kurzer Dauer waren?
Historisch-sozialwissenschaftlich unterschied man deshalb zwischen kurzen Krisenphasen und längerfristigen Strukturen der Stabilität (ökonomisch, rechtlich, politisch, kulturell). Die grundlegende Orientierungskrise fiel in die analytisch interessante Krisenphase, in der es jeweils einen Deutungskampf um deren Diagnose und Therapie gab, oft mit innovativem Ausgang aufgrund einer Politik von Verständigungen.
Der Ausgang aus historisch kontingenten Krisen war per se offen, so dass die Geschichte abseits der vormals strukturierenden Normalphase einen anderen Verlauf nahm. Die Restabilisierung versprach wieder Regelvertrauen für Investitionen in die Zukunft. Zukunftsvertrauen ersetzte mithin das Krisenbewusstsein, so dass man in der Krise auch Chancen sah. Wissenschaftlich sprach man von der diskontinuierlichen Abfolge von Gesellschaftsmodellen (siehe Literatur).
Neu an der gegenwärtigen Situation ist die Erfahrung, dass es neuartige Krisen gibt, die nicht so schnell aus der Welt verschwinden werden. Für den Herbst erwarten wir eine neue Corona-Welle, vielleicht auch eine Mutation des Virus. In Schanghai droht gerade ein Lockdown, der die internationalen Lieferketten unterbricht. Neu ist auch, dass unser Krisenbewusstsein mehrere Krisen gleichzeitig wahrnimmt. Die Inflation des Krisenbegriffs ist kein Zufall, wenngleich man nicht inflationär von Krisen reden sollte. Probleme sind noch keine Krise.
Die bisherige Begriffsgeschichte von Krise für die Neuzeit hat Reinhart Koselleck geschrieben.
Im Rahmen dieser Begriffs- und Ideengeschichte, die gleichzeitig eine Epochenerfahrung ausdrückt, konnte man analytisch präzise bestenfalls von Mehrfachkrise sprechen, etwa der EU: Eurokrise, Finanzkrise, Verfassungskrise, Migrationskrise. Die klarsichtig diagnostizierte Polykrise, auf die als Reaktion vielfach der Populismus folgte, ist indessen noch nicht unsere heutige Megakrise, in der sich ‚querdenkerisch‘ eine Antwort zusammenbraut, die niemand kennt.
Verstärkend kommt gegenwärtig die Redeweise von der Apokalypse hinzu, die ein Spiegel davon ist, dass sich die schleichende ökologische Krise beziehungsweise die durch wissenschaftliche Forschung in den Vordergrund gerückte dramatische Klimakrise (Zeit als Frist!) zunehmend in ökologischen Katastrophen (Überschwemmungen, Waldbränden, Dürren usw.) manifestiert, die weltweit als apokalyptische Bilder aufgenommen werden.
Eine andere verdrängte Apokalypse ist mit dem Ukraine-Krieg zurückgekehrt: die reale Drohung mit dem Atomkrieg. Kriege und Katastrophen sind schlimmer als Krisen, lösen aber in der Folge wieder neue Krisen aus. Zurzeit tritt die Krisennormalität an die Stelle normaler Krisen, die einzeln und diachron auftreten und bearbeitet werden können. Das ist nicht nur eine Zeitenwende in verteidigungs- und sicherheitspolitischer Hinsicht (Nato und Bundeswehr betreffend), sondern die Signatur einer Zeit, die aus den Fugen geraten ist. Alle Etiketten dafür werden irreführend.
Seitdem Ukraine-Krieg kehren schlagartig nicht nur die Ängste wieder, die in den 80er Jahren zur Friedensbewegung geführt haben, sondern es wird ebenso bewusster, dass die Krisen „nicht mehr einzeln kommen, sondern kumulativ, mitunter exponentiell, sie interagieren, verstärken sich teils gegenseitig, und sie werden so bald nicht enden…“ (Ulrich, in: Die Zeit, 24.3., S.4).
Die Krisennormalität ist vielmehr unsere Gegenwart geworden. In fünf Krisen sind wir bereits gefangen: Artensterben, Klimakrise, Pandemie, der mehr als ein Monat dauernde Krieg in der Ukraine und die daraus resultierende größte Fluchtbewegung seit dem 2. Weltkrieg (Ulrich).
Im Gefolge dessen droht zudem eine globale Versorgungskrise mit Hungersnöten, die zu mehr Flüchtlingen führen werden. Damit kommen wir auf sieben handfeste materielle Krisen (ausführlich Ulrich). Diese Krisen häufen und beschleunigen sich in diesem Jahr. Nicht nur das permanente Krisenmanagement der Politik, sondern auch der wissenschaftliche und intellektuelle Diskurs sind heillos überfordert. Wir stochern im Nebel und sind von einer realistischen Einschätzung der Weltlage weit entfernt.
Die gewohnten Fluchtpunkte von Krisendiskurs und Krisenpolitik entfallen: „Für die neue Lage fehlen die Worte“ (Ulrich). Wie kann man dennoch über diese Situation reden, ohne schon Lösungen anzubieten?
Die ständige Aufstiegs -und Wachstumsgesellschaft wird sich unter Bedingungen eingeübter Solidarität und großer Hilfsbereitschaft auf neue Zumutungen und Verunsicherungen gefasst machen müssen. Die Verzahnung der Krisen und Probleme muss erkannt und angegangen werden. Ulrich spricht handlungsoptimistisch von einem „Fest der Synergie“. Städte machen es vor: in Klimabündnissen, sozialgerecht und offen mit Integrationskonzepten, neuem Wohnen und nachhaltigem Bauen. Das ist Teil der großen sozialökologischen Transformation, die Wirtschaft und Lebensweisen verändert, und alltäglich mehr als routiniertes Lernen erfordert.
Neben der krisenübergreifenden Synergie braucht es eine neue lagerübergreifende Politik, deren nötige Grundlagen wiederum der Krieg drastisch vor Augen führt: Bipartisan – Modelle und effektive Demokratiepolitik, die tatkräftig zusammen mit den Bürgerinnen und Bürgern Lösungen sucht und umsetzt.
Literatur:
Reinhart Koselleck, Art. ‚Krise‘, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, 1976
Hansjörg Siegenthaler, Regelvertrauen, Prosperität und Krisen, Tübingen 1993
Kurt Imhof, Heinz Kleger, Gaetano Romano (Hg.), Krise und sozialer Wandel, 3 Bde., Zürich 1993/96/99
Kontinuität und Krise. Sozialer Wandel als Lernprozess, Zürich 1994
Volker Bornschier Westliche Gesellschaft im Wandel, Ffm./N.Y. 1988
Bernd Ulrich, Sieben auf einen Streich, Die Zeit, 24.3.2022
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