Krisen- und Solidaritätskonkurrenz

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Kaum ein Wort ist während der Coronakrise so häufig verwendet und beschworen worden wie Solidarität. Seit Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine ist wieder Solidarität die omnipräsente Hauptparole. Überall, wo die gelbblauen Fahnen aufscheinen, ist diese Solidarität gemeint, die konkret mit zahlreichen und vielerlei Hilfen verbunden wird. Dass diese Hilfe hilft, daran gibt es keinen Zweifel.

Die Häufigkeit und Relevanz des Wortes verdankt sich seiner breit geteilten Bedeutung von Hilfsbereitschaft über Verbundenheit bis Zusammenhalt. Für viele ist Solidarität geradezu ein Synonym für ’sozial‘ und ‚Moral‘. Das ist in der Philosophie des Solidarismus der dritten französischen Republik (1870-1940) genauso wie in der klassischen Soziologie von Emil Durkheim (1858-1917). Angesprochen ist damit die nicht-liberale Moral der gesellschaftlichen Gemeinschaft. Beides wirkt politisch (neue Republik) und soziologisch (Parsons, Bellah, Habermas, Münch u.a.) weiter.

Politisch ist heute (in Frankreich) von 5. und 6. Republik die Rede, die grundlegend umstritten sind. Die weitere Geschichte ist deshalb offen. In der Bundesrepublik Deutschland setzt man krisenbedingt auf eine „Politik des Zusammenhalts“, die neben Solidarität auch andere gewichtige Bezugspunkte wie Würde, Gleichheit, Demokratie und Meritokratie enthält. Siehe den Blog Politik des Zusammenhalts (4.2.21).

Dass die fortschreitende Differenzierung und Individualisierung zur Auflösung dieser gesellschaftlichen und republikanischen Solidarität führen, ist eine Befürchtung, welche die beschleunigte Moderne von Anbeginn begleitet. Zu dieser Krisendiagnose gibt es ein bekanntes Spektrum von progressiven bis reaktionären Positionen, die bis heute durchgespielt werden.

Inzwischen wird auffällig, wie oft die Politik im Krisenmodus den Zusammenhalt beschwört. Die Parteien streiten darum, wie dieser Zusammenhalt besser organisiert werden kann. Die Sozialdemokraten halten sich für „Spezialisten“ auf diesem Gebiet. Die Solidarität und noch deutlicher die sogenannte Politik des Zusammenhalts spannt jedoch einen weiten Bogen, welcher von Solidarität als universalistischem Wert, der unterschiedslos auf die ganze Menschheit bezogen ist, zur Solidarität als Gefühl der Anteilnahme führt, das mit der Entfernung des Beziehungskreises abnimmt. Darin steckt schon die ganze Problematik.

Die Inflation des Krisenbegriffs ist ebenfalls kein Zufall. Das gegenwärtige Krisenbewusstsein nimmt mehrere Krisen gleichzeitig wahr (Polykrise). Wir leben nicht nur in einer Zeit des Krieges, sondern auch einer Zeit der Katastrophen und Krisen. Statt normaler Krisen, die aufeinander folgen, herrscht synchrone Krisennormalität als Ausnahmesituation (siehe auch den Blog Krisennormalität statt normaler Krisen). Mit der Klimakrise und der Gefahr eines Atomkrieges ist zudem die verdrängte Apokalypse zurückgekehrt. Und der geschichtliche Horizont, sie durch weiteren Fortschritt, zum Beispiel Rüstungskontrolle, überwinden zu können, schwindet.

Der „brutalste Krieg“ und die „schlimmste humanitäre Katastrophe“ (falls man das noch steigern kann) findet derzeit nicht in der Ukraine statt, sondern in Äthiopien und Jemen, schreibt Andrea Böhm in ihren „Grüßen aus Jemen“ (Die Zeit, 5.5.). Sie drückt darin zugleich ein Unbehagen mit ihrer eigenen Branche aus, die einer bestimmten Aufmerksamkeitsökonomie folgt. Auch unsere so freie Meinungsbildung ist ‚gelenkt‘.

Der Krisenjournalismus und die Medienintellektuellen folgen den Gesetzen des Marktes in der Mediengesellschaft. Realität und Wahrheit sind mehr denn je dadurch ‚produziert‘, der Alarmismus ebenso. Ebenso konkurrieren nämlich die zahlreichen Hilfsorganisationen um Aufmerksamkeit und Spenden, die einzuwerben ein Geschäft für sich geworden ist. Die Spendenbereitschaft ist groß und mit Einsatz der Medien noch grösser und effektiver geworden. 2021 kam in Deutschland so viel wie noch nie zuvor zusammen, am meisten für die Opfer der Flutkatastrophe im Ahrtal – SolidAHRität. Bis Ende April wird dies noch von der Ukrainehilfe übertroffen.

In Äthiopien wurden im Krieg zwischen Regierung und Rebellen seit November 2020 schätzungsweise 500 000 Tausend Menschen getötet. Im Jemen brauchen Dreiviertel der Bevölkerung dringend Nothilfe, in Somalia herrscht die längste Dürre. Der Zusammenhang mit dem Klimawandel ist offensichtlich: Dürren nehmen weltweit stark zu. Die planetare Grenze für den Wasserhaushalt wird derzeit ebenfalls überschritten (SRC 2022). Klimaziele werden unterlaufen, um den Angriffskrieg in der Ukraine eindämmen zu können.

Schreckliche Bilder von hungernden Kindern erreichen uns, trotzdem ereignet sich gerade jetzt eine der schlimmsten humanitären Katastrophen. „Es passiert jetzt“ – das trifft nicht nur auf die Klimakatastrophe zu. Die Zeitdramatisierung (Zeit als Frist) ist überhaupt das Kennzeichen gegenwärtiger ‚exterministischer‘ Prozesse. „Die Zeit läuft uns davon“ (Greenpeace). Alle 10 Sekunden stirbt ein Kind an Hunger, was eine weltweite Tragödie sondergleichen ist. Die Worte Krise und Katastrophe genügen hier nicht mehr.

Im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg droht eine globale Ernährungskrise. 25 Millionen Tonnen Getreide sind derzeit im Hafen von Odessa blockiert. Diese Krisen hängen miteinander zusammen und verstärken sich wechselseitig. Aufmerksamkeit, Solidarität, Hilfs- und Spendenbereitschaft sind vorhanden, aber auch begrenzte Ressourcen, um die mit Superlativen, dramatisierender Sprache und aufwühlenden Bildern geworben wird.

Die eine Katastrophe steigert so die andere, obwohl sie langfristig auch Mitkatalysatoren zum Besseren werden können – heraus aus bestimmten Lebensformen, die ansonsten wegen ihrer starken Pfadabhängigkeit nur schwer zu verändern sind. Das ist freilich kein Trost für diejenigen, die jetzt ums Überleben kämpfen. Das „Placebo der großen guten Nachricht“ (Böhm) gibt es nicht, nur einige weniger schlechte Nachrichten. So könnten beispielsweise US-Sanktionen auch in Äthiopien wirken.

Der Tipp der erfahrenen Journalistin lautet: die Komplexität annehmen, denn mit ihr ist nicht nur die Ausrede verbunden, man könne ohnehin nichts tun. Komplexität ist nicht gleichzusetzen mit Undurchschaubarkeit und anonymem Geschehen. Zivile Komplexität des politischen Handelns kann vielmehr sogar bedeuten, sich proaktiv auf schwierige, widersprüchliche Lösungen einzulassen, die mehrere Teile und Schritte umfassen: „kleine Neujustierungen neben Jahrhundertaufgaben“ (Böhm). 

Die Einsicht, dass alles mit allem zusammenhängt, birgt Handlungschancen der Verknüpfung: sachlich, sozial und politisch. Das Welternährungsprogramm zum Beispiel benötigt einen festen Haushalt, und die Energiewende kann sich als Teil der Lösung vieler Probleme erweisen. So kommen wir aus unproduktivem Krisengerede heraus, das die Wirtschaft und uns Wohlfahrtsstaatsbürger ohnehin mit Inflationssorgen, Rezessionsgefahren, Preissteigerungen und Wohlstandsverlusten mental zu sehr in Anspruch nimmt. Dabei verlieren wir die wirklich großen Krisen aus dem Blick, für die wir auch in anderen Weltteilen mitverantwortlich sind.

Mit dem Irakkrieg 2003-2011, eine ‚Spezialoperation‘, die ebenfalls mit einer Lüge begonnen hatte, und seinen verheerenden Folgen haben wir noch immer zu tun. Und das Afghanistan-Debakel 2021 ist kaum vorbei, geschweige denn aufgearbeitet und schon wieder stehen wir im Bann eines neuen Krieges mit weltpolitischen Auswirkungen. Die Jugoslawienkriege mitten in Europa 1991-2001 mit Genozid und Urbanizid scheinen außerdem schon wieder vergessen, wenn man die vielen schnellen Einschätzungen des Ukrainekrieges hört. Die überraschten Bekenntnis-Europäer wissen tatsächlich nicht viel, selbst die gewollte Osterweiterung ging mit einer großen Portion Ignoranz einher, was auch auf den Balkan zutrifft.

Wir werden von den (Medien-) Ereignissen geradezu überrollt und richten unsere Aufmerksamkeit nach ddem, was medial jeweils im Vordergrund steht. Wir beschäftigen uns mit einer sehr selektiven, ausschnitthaften Realität, selbst bei gutem ‚Eurozentrismus‘, wenn wir überhaupt noch zu einer genauen Wahrnehmung der Gegenwart kommen, die im Gedächtnis bleibt. Die Atemlosigkeit einer Politik im permanenten Krisenmodus ist offensichtlich. Bei einem ohnehin schon verkürzten Aufenthalt in der Gegenwart (Lübbe 1991) werden damit Indifferenz und Ignoranz erst recht zu einem erkenntnistheoretischen Problem. 

Die notwendige Indifferenz und die souveräne Ignoranz, um überhaupt handeln zu können, werden folglich zu heiklen ethischen Fragen, was nicht gerne zugegeben wird, weil man ja zu den Guten auf der richtigen Seite der Geschichte gehören will. Beneidenswert, wer die genannten Haltungen dennoch selbstbewusst erreicht, denn Indifferenz und Ignoranz werden objektiv immer grösser. Außerdem darf man subjektiv auch einmal seine Ruhe haben wollen, und Spontaneität, die zum Leben gehört, ist keine moralisch-politische Haltung. Aufmerksamkeit, Solidarität und Hilfsbereitschaft sind begrenzte Ressourcen, die intern zusammenhängen.

Ich glaube allerdings nicht, dass es weniger Solidarität(en) gibt oder dass die Idee der Solidarität im Schwinden begriffen ist, im Gegenteil. Das eigentliche Problem für das Individuum in der modernen Gesellschaft, so scheint mir, liegt in der Kombination und Konkurrenz der Solidaritäten. Solidarität ist auf vielen Gebieten neu zu denken und zu organisieren. Ich glaube allerdings auch, dass durch Klugheit und Fokussierung politisch mehr möglich ist, insbesondere durch besseres Zusammen-handeln-Können (das kleine und große Wir). Heißt: Solidarität muss man können.

Solidarität eignet sich in der liberalen Moderne als moralische Allerweltsformel, was ich nicht abwertend meine, im Gegenteil. Gerade eine Allerweltsformel, die als neuer Grundwert gilt, ist auf vielerlei Weise und an verschiedenen Orten individuell spezifizier- und konkretisierbar, abhängig von historischen Entscheidungen und politischen Prioritäten. Sie ist erweiterungsfähig nach innen wie außen, europäisch wie global, intensiv wie extensiv. 

Selbstverständlich kann auch die nationale Solidarität nicht ersetzt werden, nicht umsonst war in den existentiellen Krisensituationen der Pandemie häufig von „nationalen Kraftanstrengungen“ die Rede. Die verrechtlichte Solidarität, mit der wir zudem in Deutschland wie selbstverständlich rechnen, beruht historisch ebenfalls auf solchen Anstrengungen, die oft in Konkurrenz zu anderen nationalen Modellen entstanden sind (Varianten des Wohlfahrtsstaates und Systemkonkurrenz). Diese Grundlagen von Nation, Demokratie und Staat werden im Wohlstandsland gerne vergessen. Wir erwarten immer noch mehr von anderen und wenig von uns.

Eine allumfassende Erfolgs- oder Erlösungsformel ist die Solidarität gleichwohl nicht, das gilt auch für die Kampfsolidarität von unten. Solidarität ist notwendig, aber nicht hinreichend, um große Probleme zu lösen und jeweils einen historischen Krisenausgang zu finden – Krise und Verständigung. Die Stärke und zugleich die Schwäche der Solidarität bleibt, dass sie in Großgruppen stattfindet, die objektiv zum Teil in Konkurrenz zueinander stehen und intern eine gewisse Loyalität erfordern.

Daraus kann auch eine ethische Blindheit entstehen, wenn die fügsamen „Egoismen des Wir“ (Todorov) unkritisch dominieren. Selberdenken, individueller Mut und Störenfriede müssen möglich bleiben. Solidarität als Idee, die in unterschiedlichen Kontexten (republikanisch, sozialistisch, katholisch) entstanden ist, darf nicht zu einem inflationären universalistischen Wert werden, der so unbrauchbar ist wie das inflationäre Krisengerede. 

Der Begriff ‚Solidarität‘ hat als Kohärenzkraft auch eine kognitive Komponente, das heißt: sie muss immer wieder über alle Differenzen hinweg neu Zusammenhänge erkennen, für die man einstehen muss. Zumindest sollte klar sein, wozu Solidarität die Alternative sein kann und vor allem: sein muss.

Bildnachweis: IMAGO / Christian Ender