Krieg und Weltkrieg

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Die guten Wünsche zum Ende des Jahres helfen nichts, keine Perspektive für Friedensverhandlungen, nicht einmal eine Waffenruhe über die Weihnachtstage ist in Sicht. Im Gegenteil: die Fronten für 2023 sind noch einmal verdeutlicht und verschärft worden.

Selenski hat seine Soldaten in der hart umkämpften Stadt Bachmut im Donbass, die einmal 70.000 Einwohner zählte, besucht und den Durchhaltewillen der ukrainischen Bevölkerung, die unter Dauerbeschuss steht, bekräftigt. Er will alle Gebiete der Ukraine zurückerobern, die Bevölkerung steht hinter ihm, es gibt diesbezüglich keinen Kompromiss mehr. Die Annexion der vier ukrainischen Regionen im September durch Putin haben die Eskalationsschwelle erhöht.

Der 21. Dezember ist ein historischer Tag, an dem vieles gleichzeitig passiert: Selenski reist überraschend in die USA, und Putin hält seine Rede vor den Militärs in Moskau. Ersteres hat deutliche Parallelen zu Churchills Besuch 1941, als die atlantische Revolution gegen Hitler entstand. Putin wiederum sieht die USA in einem Stellvertreterkrieg gegen Russland. Er gibt sich siegessicher und verkündet gegen die Nato eine gewaltige Re-Militarisierung auf Russisch. Die Streitkräfte sollen mit Waffensystemen, die „weltweit keine Entsprechung haben“, aufgerüstet werden.

Die Rede ist aus zwei Gründen bemerkenswert: militärisch, indem sie nichts Gutes verheißt, und politisch, indem einmal mehr deutlich wird, dass der politische Diskurs beziehungsweise das legitimierende Narrativ sich nicht verändert hat. Es ist vielmehr „nach dem Muster einer Verschwörungstheorie“ (Nicolosi) erstaunlich stabil geblieben:

„Auf der Basis von starken Emotionen produziert er (der politische Diskurs, H.K.) in seiner Deutung des Weltgeschehens eine grundsätzliche semiotische Eindeutigkeit, da er beliebige Ereignisse nicht als kontingent, sondern immer als signifikant im Sinn des eigenen Narrativs betrachtet. An sich ist dieser Diskurs nicht falsifizierbar. Diese paranoide Form politischen Denkens kennt keine Kompromisse, Verhandlungsmöglichkeiten oder grundsätzliche Korrekturen; es lebt im Modus des permanenten Krieges, aus dem Russland nur als Sieger hervorgehen könne. In seiner ganzen paranoiden Abgründigkeit existiert dieser Diskurs seit Jahren: nicht versteckt, sondern offen und für alle zugänglich. Das russische Regime ist in Bezug auf die Ukraine nie ambivalent gewesen. Der furchtbare Vernichtungskrieg ist die endgültige Offenlegung und Realisierung aller Argumente und Narrative, die das Regime sorgfältig konstruiert und unzählige Male wiederholt hat. Überraschend am 24. Februar war allein, dass so viele davon überrascht waren.“ (Riccardo Nicolosi, Paranoia, Ressentiment und Re-Enactment, in: Merkur, Oktober 2022, S.30f.).

Putin spricht noch immer von der „Ukraine als Brudervolk“ und einer “gemeinsamen Tragödie“, an der „dritte Länder Schuld hätten“, die schon lange auf den “Ausschluss Russlands aus der Weltgemeinschaft“ hinarbeiten (21.12.22). Bei einem Überraschungsbesuch von Putins Vertrauten und Stellvertreter Medwedew, der auf seinem Telegram-Kanal auch schon von Angriffen auf Nato-Staaten gesprochen hatte, bei Xi in China brachte dieser die beruhigende Botschaft mit, dass man sich “im Ukraine-Konflikt zurückhalten soll.“

Putin benennt die Probleme bei seiner ‚Spezialoperation‘ und der neulich durchgeführten Teilmobilisierung. Er benutzt den Ukraine-Krieg als Erfahrungslektion und ermahnt seine hohen Militärs aller Waffengattungen (mitten unter ihnen auch ein Mann mit Bischofskrone), die wie bei einer Generalstabsübung brav und aufrecht allesamt vor ihm sitzen oder per Video zugeschaltet sind. Bis auf Details der Winterbekleidung geht er auf Defizite ein. Verantwortung kann er so einerseits von seiner Person abwenden und gleichzeitig gegenüber seinen Soldaten und der Bevölkerung scheinbar emphatisch fürsorgliche Führung demonstrieren.

Die Stärke Russlands sieht er in der Einheit von Volk und Militär. Der häufigste Satzanfang in seiner Rede lautete bezeichnenderweise „wir müssen“: Wir müssen modernisieren und das Militär weiter aufstocken – auf 1,5 Millionen Mann. Das Potenzial ist noch lange nicht ausgeschöpft ist. Die politische Führung stellt den Militärs buchstäblich alle Mittel zur Verfügung, ausdrücklich ohne Grenzen! Kein Parlament der Welt hat diesen technologischen Rüstungswettlauf unter Kontrolle.

Selenski wiederum bringt das Patriot-Flugabwehrsystem von seinem Besuch in Washington mit, welches die Amerikaner lange zurückgehalten haben. Es schließt eine große Lücke und hilft in der gegenwärtigen Phase des Krieges, dem russischen Raketenterror standzuhalten. Aber auch Patriot, dass es seit mehr als 40 Jahren gibt, ist keine “Wunderwaffe“, die eine Wende des Krieges bringen wird.

Diese wird von beiden Seiten von den Frühlingsoffensiven erwartet und benötigt andere schwere Waffen, vor allem Kampfpanzer, Schützenpanzer für die Infanterie und Flugzeuge. Biden sieht davon ab, auch in Rücksicht auf die Europäer, “die einen 3.Weltkrieg befürchten“. Moskau wiederum warnt einmal mehr vor einer Verschärfung und Verlängerung des Krieges, worauf die USA unter Biden “auf dieses Säbelrasseln“ einmal mehr routiniert und souverän reagieren. Auf dieser entscheidenden Ebene stehen sich zwei Player gegenüber, mit ihren eigenen Interpretationen, die allerdings auch Kipppunkte kennen.

Die USA und die Nato gehen auf einem schmalen Grat, indem sie die Ukraine in ihrem Verteidigungskrieg massiv unterstützen, ohne selbst Kriegspartei zu sein. Selenski hat in seiner Rede vor dem Kongress weitere schwere Waffen gefordert. Zudem wird die Munition knapp. Viele Kommentatoren sehen das sogenannte “Momentum“ dennoch auf der Seite der Ukraine. Manche davon haben schon im Sommer vorschnell prognostiziert, dass Putin den Krieg verloren habe. Die Friedensverhandlungen werden sich jedenfalls nach den bestehenden militärischen Frontverläufen richten, soviel ist gewiss. Wie es allerdings im Riesenland Russland, diesem aktiven Vulkan (Diner), der zu explodieren droht, weitergehen wird, weiß niemand.

Aber wie weit will man in der Ukraine militärisch noch gehen, um die Fronten zu verschieben? Möglicherweise drohen noch zusätzliche Fronten – von Belarus her im Süden, in Moldawien, auf der Krim? Vieles ist offen und verändert sich täglich. Der ehemalige ukrainische Botschafter fordert Deutschland zu einer “europäischen Panzerallianz“ auf (Melnyk, MAZ 23.12., S.4). Die Entschlossenheit, den Krieg zu gewinnen, ist auf beiden Seiten am Ende des Jahres groß, das Leiden der Zivilbevölkerung noch größer, und die Verluste toter russischer Soldaten überschreitet inzwischen die Marke von 100 000.

Wie das zerstörte Mariupol, das einmal auf einem hoffnungsvollen eigenen, europäischen Weg unterwegs war, russischerseits wieder aufgebaut wird, weist auf eine düstere zivile Zukunft hin, die nicht so schnell wieder verschwinden wird.

Bildnachweis: IMAGO / ZUMA Wire