Seit dem 21. April, nachdem die überlebenswichtigen 61 Milliarden-Hilfen der USA für die Ukraine nicht mehr blockiert sind, steht die Frage in Europa wieder im Zentrum: wird sich das Blatt im Krieg noch einmal zugunsten der Ukraine wenden oder wird es zu einer weiteren Eskalation des Krieges mit der Nato kommen?
Lawrow spricht davon, dass die Konfrontation der Atommächte ein Schritt näher gerückt ist.
Beide Parteien im Kalten Krieg gaben zu, dass Kernwaffen „auf Abschreckung und nicht auf Entscheidung abzielen“ (Raymond Aron, Clausewitz: Den Krieg denken, Propyläen 1980, S.567). Auch China, der Dritte im heutigen Hochrüstungswettlauf, spricht sich offiziell dahingehend aus. Die weltpolitische Situation allerdings wird komplizierter. Es gibt neue und mehrere geopolitische Konfliktherde.
Bundeskanzler Scholz zeigte sich beim vorletzten Besuch in Peking beruhigt über diese Versicherung. Er meinte, allein deshalb habe sich der Besuch gelohnt. China ist beides: Handelsstaat und Imperium, das zahlreiche Grenzkonflikte austrägt. Im Fokus ist heute lediglich Taiwan, Tibet ist schon wieder vergessen. Von den zahlreichen Anrainerkonflikten im südchinesischen Meer wollen wir nicht reden. Auf Chinas Schein-Verhandlungsaktivitäten, die sich daraus ergeben, werden wir zurückkommen.
Europa unter der Käseglocke der Pax Americana
Die deutsche Atomangst vor einer Eskalation ist gross. Das sieht man an der endlosen Debatte über den Marschflugkörper Taurus. Scholz sieht bei einer Lieferung Deutschland als Kriegspartei. Bisher hatte er sich mit Präsident Biden auch persönlich abgestimmt. Nach dessen kürzlicher Zusage für Atacms-Raketen mit grosser Reichweite (sie ist von 160 Kilometer auf 300 Kilometer erhöht worden) ist der Mann mit den guten Nerven neuerlich unter Druck geraten.
Ende April wirbt die SPD für den Europa-Wahlkampf in grossen unübersehbaren Lettern „Den Frieden sichern“ und „Besonnen handeln“. Diese Besonnenheit hat Scholz bisher für sich in Anspruch genommen, und sie wird auch von Vielen in der Bevölkerung, gegenüber der er politische Verantwortung trägt, geschätzt. Bei den Fragen über Krieg und Frieden ist stets der Zusammenhang von Innen – und Aussenpolitik zu beachten, was Militärs gerne übersehen. Das gilt für alle Länder und politische Systeme.
Außenstehende militärpolitische Kritiker von Rang und Namen (Rasmussen), vor allem Politiker aus Großbritannien und Polen werfen Scholz und der SPD vor, Friedenspolitik mit Appeasementpolitik zu verwechseln. Sie erinnern jetzt an den Fall der Tschechoslowakei 1938, die man Hitler überließ, um den Frieden zu retten.
Diese historische Analogie wiederum wird kurzgeschlossen mit der Erinnerung an die Parole „Lieber rot als tot“, die in den 80er Jahren der Friedensbewegung verbreitet war. Der letzte Teil selbstkritischer Erinnerung wird hingegen oft weggelassen: der entscheidende Schritt kam von Helmut Schmidt, der bei der Nato Druck gemacht hatte für den innenpolitisch heftigst umstrittenen Nato-Doppelbeschluss.
Ja, es war eine gefährliche Situation an der Nähe des Abgrunds. Aber die Menschen in der Sowjetunion wollten nicht verhungern, und das hatte ihr Reformpräsident Gorbatschow begriffen, der nach innen hin auch ein ‚kleiner Putin‘ sein konnte, was die Balten nicht vergessen haben.
Wenn wir aus dieser durchaus gegenwärtigen historischen Erfahrung etwas lernen wollen, so könnte das bedeuten, dass das heutige neoimperiale Russland überall ökonomische und militärische Verluste spüren muss sowie eine maximale internationale Isolation, um wenigstens ein bisschen zurückzuweichen. Das ist die harte Wahrheit.
Für die Europäer lautet einstweilen die beruhigende Wahrheit: Amerika geht wieder voran. Doch wird gleichzeitig unübersehbar deutlich, dass Europa verspätet, vielleicht zu spät, was sich schon lange angebahnt hatte, dringend mehr für die Ukraine tun muss (siehe Ulrich Speck, NZZ, 30. April, S.7). Es darf nicht bei leerer Rhetorik bleiben, mit welcher zum Beispiel der französische Staatspräsident glänzt, der vor kurzem noch die Nato als „hirntot“ erklärt hatte.
Kürzlich erklärte er (in ,The Economist’) zum zweiten Mal, dass er Bodentruppen nicht ausschließen wolle, falls die Front im Donbass kippt: „Russland darf nicht gewinnen“. Wer droht, muss Drohungen auch wahrmachen können, wenn er glaubwürdig bleiben will. Macron hätte besser zu Beginn des Krieges seine Rafale Kampfjets liefern sollen. Er führt eine Ukraine-Allianz ebensowenig an wie Scholz.
Seine zweite ausführliche Grundsatzrede (am 25.4. nach 2017) in der Aula der ehrwürdigen Sorbonne „Europa ist sterblich“ mag mehr strategische Weitsicht demonstrieren als die deutsche Regierung. Innenpolitisch indes ist Macron eine ‚lame duck‘ und aussenpolitisch, was etwa afrikanische Länder betrifft, die französisch sprechen, nicht erfolgreich.
„Es blieb den Ostmitteleuropäern – den Tschechen und Esten – überlassen, die dringend benötige Munition zu beschaffen.“ Schon lange herrscht für die Soldaten an der Front ein geradezu mörderischer Munitionsmangel. Zudem gibt es Rekrutierungsprobleme. Ein neues Mobilisierungsgesetz versucht, 500 000 Soldaten zu gewinnen, die alle noch ausgebildet werden müssen.
Dramatische Lage vor der Niederlage
Die Personalsituation ist und bleibt entscheidend in einem lang andauernden Zermürbungskrieg. In der Ukraine gibt es kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung, und in der russischen Armee möchte man nicht Soldat sein. Ist Desertion ein Menschenrecht? Was ist ein Menschenrecht? Wie wird es begründet und wie durchgesetzt?
An dieser Stelle wäre ein Seminar, welches Hobbes, Kant und Hegel vergleicht, lehrreich. Ich meine, dass es bei Hobbes ein Widerstandsrecht auf Desertion aus Gründen physischer Selbstbehauptung (vor Selbstverstümmelung) gibt, wenn man in diesem Fall ‚Recht‘ nicht im strengen Sinne auslegt.
Die russischen Offensiven erzielen gegenwärtig unter schwersten Verlusten an Soldaten Einbrüche im Donezk, etwa westlich von Awdijiwka. Das sind taktische Erfolge, die sich schnell zu strategischen ausweiten können, wenn zum Beispiel der Durchbruch in Richtung Kramatorsk gelingen sollte. Mit einer russischen Offensive wird gerechnet.
Zumindest dagegen muss man sich nun mit neuen Waffen und Verteidigungslinien schnellstmöglich wappnen können, während Putin bis zum 9. Mai, dem wichtigsten russischen Feiertag des Sieges über Nazideutschland, Erfolge vorzeigen will. Die Beutestücke aus dem Ukraine-Krieg, etwa Leopard-Panzer, sind für die grosse Publikumsschau in Moskau schon ausgestellt.
Dazu kommt die brutale Luftkriegsführung gegen die zweitgrösste Stadt Charkiv (auch am Tag 800 des Ukraine-Krieges) und wieder auf Odessa, wie zu Beginn des Krieges. Was steckt dahinter ausser der puren Zerstörung? Selenski fordert verzweifelt Patriots und Granaten.
Darauf hörten die MAGA-Republikaner im amerikanischen Wahlkampf gegen die Demokraten nicht. Ihnen war die eigene Partei wichtiger als das eigene Land, auf das es in der Weltpolitik gegen die Achse Russland-China-Nordkorea-Iran zunehmend ankommt.
Biden gehört zu den letzten überzeugten Transatlantikern, denen die Sicherheit Europas wirklich am Herzen liegt. Für ihn ist das Bündnis eine „heilige Verpflichtung“, wie er in Polen schon im April 2022 versicherte. Umgekehrt verlassen sich die Polen (neben großen eigenen Anstrengungen!) aus historischen Erfahrungen auf die Amerikaner, so wie sich zum Glück Israel darauf verlassen kann.
Der amerikanische Schutz hat die funktionierende Friedensordnung in Europa ermöglicht. Wenn es diese vitale Unterstützung behalten will, müssen sich politische Haltungen und Prioritäten verändern. Ulrich Speck (a.a.O.) schlägt vor, dass die Europäer auf dem Nato-Gipfel in Washington im Juni die Verteidigungsausgaben auf 3 % der Wirtschaftsleistung erhöhen sollen. Dazu soll ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Ukraine kommen, was schon Stoltenberg angeregt hatte.
Krieg denken
Geld und Waffen wären in Westeuropa vorhanden, allein es fehlt der politische Wille und die militärische Entschlossenheit, die gegen einen militärisch entschlossenen Gegner wie Putins Russland nötig ist. Der Zeitfaktor und die nötige Entschiedenheit spielten schon öfters im bisherigen Kriegsverlauf eine entscheidende Rolle (siehe dazu unsere Blogs zum Ukraine-Krieg, die das belegen). Panzer zum Beispiel spielen als Offensivwaffe dann nicht mehr die große Rolle, wenn der Feind genug Zeit hatte, befestigte Verteidigungslinien und Minenfelder zu errichten.
Große Schritte der verschiedenen Länder sind jetzt nötig, um das transatlantische Bündnis in Zukunft auf starke Beine stellen zu können, unabhängig davon, wer im November amerikanischer Präsident wird. Stoltenberg will die Nato „Trump-fest“ machen. Es ist heute schwieriger, Frieden zu denken als Krieg. Woran liegt es, dass selbst unter Friedensfreunden Friedensutopien – Wandel durch Handel, Verrechtlichung der Aussenpolitik, Zivilisierung des Krieges – politisch naiv erscheinen?
Gewiss nicht nur an der Rückkehr der Machtpolitik, denn Machtpolitik gab es schon immer. Verteidigung und Patriotismus als selbstverständliche wehrfähige Demokratie ebenso. In den 80er Jahren war das vor allem in Deutschland anders, das hat sozialisiert. Die objektive Lage aber war nicht weniger dramatisch, im heutigen Ostdeutschland lagerten Atomwaffen von doppelter Hiroshima-Stärke.
Was können wir aus den längeren und kürzeren (Kriegs-und Friedens-)Zeiten lernen? Wo liegen die kleinen aufschlussreichen Unterschiede? Zum Beispiel bei der Einschätzung der Sowjetunion und des Putinismus.
Die Sowjetunion war eine saturierte Status quo-Macht. Chruschtschow, der die Stufe des Kommunismus erreicht sah und sich auf seiner Amerikareise vor den Arbeitern damit blamierte, hatte mit seinem Rückzug aus Kuba dies bewiesen. Die alten Herren, die ihm nachfolgten, hatten daran nichts verändert. Die Intervention in Afghanistan war keine Offensive gegen den Westen, sondern ein missglückter Versuch, die eigene Grenzregion zu sichern und islamistische Tendenzen zu bekämpfen.
Das Gefährliche an Putin ist sein Bonapartismus, der riskante Abenteuer und politische Wetten riskiert, zumal wenn er auf schwache Gegenspieler in Europa und Amerika trifft. Wir wollen hier nicht auf die Fehler der Natoerweiterung eingehen und auf Obamas Wort von der „Regionalmacht“ (das zugleich Wort und Attitüde war).
Auf Putins Wutausbruch an der Sicherheitskonferenz in München 2007 hätte man aber zumindest hören sollen. Es war doch nur ein Seminar. Auch der historisch und persönlich erfahrene Machtrealist Kissinger war der Auffassung , dass nicht nur Putin Fehler gemacht hat. Für den Zerstörungskrieg gegen die Ukraine trägt er indessen die ganze Verantwortung.
Frieden denken
Russland, das eine Friedenskonferenz über Selenskis 10 Punkte-Plan in der Schweiz inhaltlich vehement ablehnt, holt nun einen alten Friedensplan aus dem April 2022 hervor (Merkur.de, 28.04.2024). Er sollte die Ukraine zu permanenter Neutralität verpflichten. Keine Stationierung von Atomwaffen und nur eine kleine Armee, gestützt auf 85.000, waren vorgesehen.
Die Demilitarisierung der Ukraine und damit ihre Enthauptung als wehrfähige Demokratie bildete einen systematischen Hauptpunkt. Die Sicherheitsgarantien sollten von den ständigen Mitgliedern des UN- Sicherheitsrates wahrgenommen werden, mit einem Vetorecht Russlands.
Die Krim galt (und gilt) als nicht verhandelbar, und die Grenzverläufe in Donezk und Luhansk sollten noch gezogen werden. Russisch sollte die zweite Staatssprache werden.
Selenski brach diese Verhandlungen ab. Das Vertrauen in Russland schwand nach den Bildern aus Irpin und Butscha abrupt, während das aggressive Selbstvertrauen nach dem gescheiterten Handstreich auf Kiew, der den Regimewechsel hätte bringen sollen, auf russischer Seite wieder wuchs.
Die militärischen Schwerpunkte wurden auf den Donbass und den Süden verlegt (Cherson, Odessa): „Auf dem Schlachtfeld ist Russland nicht zu besiegen“ (Putin). Der nationalistisch-imperiale Furor, aus der Geschichte heraus begründet, steigerte sich fanatisch.
Mit der Annexion der vier ukrainischen Regionen im September 2022, die unter den Schutz der russischen Föderation gestellt worden sind, veränderte sich die Ausgangslage für Friedensverhandlungen grundlegend, so Peskow heute. Es war schon deutlich sicht- und spürbar bei der damaligen Zeremonie in Moskau.
Andere Friedensinitiativen liegen inzwischen auf dem Tisch, so die 12 Punkte Chinas vom Februar 2023, die Moskau, nach eigenen Worten, wohlwollend aufgenommen hatte. Konkrete Vorschläge indessen sind daraus bis heute nicht erwachsen. Schon realistischer scheint in Teilen der türkische Friedensplan (siehe dazu den Blog Weltpolitik auf dem Bürgenstock vom 15. April). Über die Schweiz hingegen ist Russland verärgert und erwägt sogar diplomatische Strafaktionen.
Die Schweiz hat am 2. Mai dennoch die Einladungen an 160 Delegationen auf Staats- und Regierungsebene zur Ukrainekonferenz auf dem Bürgenstock, die auf Bitten der Ukraine stattfindet, verschickt. Wichtig wird unter anderem sein, dass die Türkei und China am Tisch sitzen. Russland, das mehrmals öffentlich eine Teilnahme abgelehnt hatte, soll zu einem späteren Zeitpunkt eingeladen werden.
Es wird damit im Juni hoffentlich zumindest ein erster diplomatischer Schritt zum Frieden angebahnt. Friedensverhandlungen im eigentlichen Sinne wird es wohl erst 2025 geben. Bis dahin müssen wir weiterhin beides denken: die Zeit des Krieges und wie man heute Frieden im Ausgleich der Mächte macht.
Bildnachweis: IMAGO / Le Pictorium