Krieg als Kategorie der Politik

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Putin zwingt zur Re-Militarisierung. Von Krieg ist wieder allenthalben die Rede, auf allen Ebenen und in verschiedenen Kreisen. Man entkommt diesem Thema nicht, nicht einmal auf Sportplätzen und in Konzerten. Ablenkung ist nur schwer möglich. Gegenüber Krieg kann man nicht neutral sein, höchstens wenn man sich zurückzieht und gar nichts mehr sagt.

Mit jedem Tag und jeder Stunde wird Putins Krieg in der Ukraine, das doppelt so groß ist wie Deutschland, schrecklicher. Der ursprüngliche Plan eines “ Blitzkrieges “ mit „Enthauptungsschlag“ in der Hauptstadt und Auswechslung der Regierung nach klassischem Lehrbuch von Machiavelli, das an allen Militärakademien gelehrt wird, ist nicht aufgegangen. Der Widerstand war zu groß.

Nun wird das Land von allen Seiten mit immer schwereren Angriffen der Artillerie und aus der Luft überzogen. Die großen strategischen Städte sind noch nicht eingenommen. Zivile Ziele kommen immer mehr ins Visier. Die Heimatfront sollte man als überlegener Aggressor jedoch nie unterschätzen, zumal dann, wenn sie die nötigen Waffen zur Verteidigung hat.

Putins Angriffskrieg hat das Gegenteil von dem bewirkt, was beabsichtigt war: nämlich eine einige Ukraine, die sich als Nation versteht, einen einigen Westen mit der USA an der Spitze, ein einiges Europa wie selten und die Stärkung der Nato. Nichts integriert so stark wie ein gemeinsamer Feind. Der völkerrechtswidrige Krieg hat den Feind, den man schwächen wollte und von dem man dem sich seinerseits bedroht fühlte, tatsächlich gestärkt. Russland hat sich international isoliert wie noch nie. Angriffskrieg und Verteidigungskrieg sind zu unterscheiden.

Neu ist, dass nun viele im Westen, Letzteres, die militärische Verteidigungsbereitschaft – nach Ausschöpfung der Friedensdividende nach 1989 – wieder als Preis der Freiheit begreifen. Dieses Statement beruht, wie alle Behauptungen politischer Theorie auf (historischen) Erfahrungen. Den Preis zu bezahlen für eine funktionierende Landes- und Bündnisverteidigung, nichts anderes bedeutet die „Zeitenwende“ für die deutsche Politik, die sie am 27. Februar vollzogen hat.

Allerdings hat es die Bündnisverpflichtung mit der Beistandsverpflichtung, sollte ein Mitglied des Verteidigungsbündnisses angegriffen werden, in sich. Die Nato ist das größte und erfolgreichste Militärbündnis der Geschichte. Immer mehr Staaten, darunter auch neutrale wie Schweden und Finnland, wollen nun nach den Drohungen von Putin ebenfalls Mitglied werden. Vor kurzem wurde sie noch als tot erklärt. ‚Finnlandisierung‘ und ‚Neutralisierung ‚ haben sich als politische Kategorien erledigt und sind keine Lösungsformeln mehr.

Schon einmal folgte die Bundesrepublik dem Bündnisfall nach dem Terrorangriff 9/11 auf die USA. ‚Enduring freedom‘ hieß der Krieg gegen den internationalen Terrorismus, auch in Afghanistan. Kanzler Schröder folgte ihm mit „unbedingter Solidarität“. Der Irakkrieg danach beruhte auf problematischeren Grundlagen und wurde nur noch von einer „Koalition der Willigen“ mitgetragen. Auch hier sollte ein „Enthauptungsschlag“ gegen Saddam Hussein in Bagdad den Krieg schnell beenden. Die politischen und menschlichen Folgen beider Kriege sind bis heute verheerend und kaum aufgearbeitet. Und schon wieder absorbiert ein neuer Krieg unsere ganze Aufmerksamkeit.

Heute ist plötzlich und unvermittelt sogar vom Atomkrieg die Rede. Das sind Schocks und gehen als mentale Zäsur über die vorhin genannte Wende in der deutschen Verteidigungspolitik weit hinaus. 70% der Deutschen haben Angst vor einem Weltkrieg. Käme es so weit, so müsste sich die USA militärisch offensiv einschalten, die sich bisher in Gestalt von Präsident Biden sowohl entschlossen und kooperativ als auch – in Reaktion auf die unverhohlene Atomkriegsrhetorik Putins – klug und zurückhaltend verhalten hat. Jede Überreaktion, auch in Worten, würde nur weiter eskalieren.

Und vieles kommt noch gleichzeitig hinzu: Am 2. März besucht Kanzler Scholz Israel, wo er auf die Atomkriegsgefahr aus dem Iran aufmerksam gemacht wird, das sich im Ukraine- Konflikt auf die Seite Russlands gestellt hat. China, das auch für die Befriedung dieser Konflikte immer wichtiger wird, verhält sich bisher neutral, rüstet indes im Aufmerksamkeitsschatten seit vielen Jahren massiv und gezielt auf, es übt täglich den militärischen Angriff auf Taiwan. Auch Indien verhält sich neutral und in Pakistan droht die Atomwaffe in die Hände von Islamisten zu geraten. Die internationale Weltordnung ist unsicherer denn je.

Man sagt zurecht, dass die Wahrheit das Erste ist, was bei einem Krieg auf der Strecke bleibt. Er muss ja um jeden Preis gerechtfertigt werden, die Begründungen von Putin, die wir gehört haben, scheinen uns so abwegig, dass wir ihn für „wahnsinnig“ (das Gegenteil von Common sense als gemeinsame Welt) halten: der „wahnsinnige Zar“, so der russische Oppositionelle Nawalny am 2. März aus dem Gefängnis heraus.

Krieg ist immer auch Informationskrieg, und zwar ständig. Es ist ein Kampf um Worte und Bilder, die häufig schwer zu verifizieren sind. Wo die eine Seite berichtet, sie hätte die Stadt „eingenommen“, behauptet die andere Seite, sie sei bloß „umzingelt“, und so weiter. So geht es Schlag auf Schlag, hin und her, ein Dementi jagt das andere. In Russland darf der Krieg nicht einmal ‚Krieg‘ heißen, sondern heißt ‚militärische Operation‘ – Sein und Heißen. Was darf und soll und muss wie heißen, das ist die Frage. Möglicherweise wissen nicht einmal alle russischen Soldaten, dass sie im Krieg sind.

Verstörende Bilder, die bewegen, für die man keine Worte mehr findet, sind im Umlauf. Und es berichten Augenzeugen auf der Flucht, was die schreckliche Realität des Krieges ausmacht: unermessliches Leid. Es gibt nichts Schlimmeres. Die Bilder des zerstörten Grosny im Tschetschenienkrieg, die jedes gemalte Höllenbild des Mittelalters, das man ein Zeitalter der Angst genannt hat, übertreffen, haben sich eingebrannt. 

Werden Charkiw, Cherson und Kiew nach der Eskalationsstufe, die nach 7 Tagen Krieg erreicht worden ist, am Ende ebenso aussehen, wenn es nicht sofort, noch in der Nacht vom 2. auf den 3. März, zu einem Waffenstillstand kommt? Die Stadt mit Artillerie und Raketen „flachbomben“, heißt das im Militärjargon. Dabei werden auch Waffen eingesetzt, die von der Genfer Konvention geächtet sind. Die Gefechtsfelder von heute sind indes nicht nur Stadt, Land, Wasser, Luft und Weltraum, sondern auch der Cyberspace.

Man spricht von „hybrider Kriegsführung“. Das gehört zum Vorkrieg und Krieg mit und gegen die Wahrheit dazu. Der Cyberwar betrifft die ganze kritische Infrastruktur der Versorgung und Kommunikation, ebenso die leicht verwundbare Wahlinfrastruktur (in Ungarn und Frankreich zum Beispiel stehen gerade wichtige Wahlen bevor).

Papst Franziskus hat nicht vom Krieg als Kategorie der Politik, sondern vom „Versagen der Politik“ gesprochen. Das stimmt, man müsste sogar von systematischem Versagen sprechen. Darüber wäre noch viel zu sagen, wenn man auf die letzten 15 Jahre im Verhältnis zu Russland und Putin, der die Modernisierung der Streitkräfte vor aller Welt demonstriert und gefeiert hat, zurückblickt. Auch die Einsatzdoktrin von Generalstabschef Gerassimow, über die er seit Jahren Vorträge hält, ist bekannt: „Russland hat das Recht, sich nuklear zu verteidigen“.

Putin ist nicht allein, Militärs und Historiker beraten ihn, Oligarchen und Politiker helfen ihm. Selbst in der Politikwissenschaft beschäftigt man sich nur ungern sachlich und kritisch mit Militär und Krieg, man unterschätzt diese Themen und überlässt sie lieber Spezialisten und Experten, die unter sich bleiben. Das ist ein Fehler, denn so sind die Demokratien der Bürgerinnen und Bürger, die wehrhaft bleiben wollen, nicht gut beraten.

Foto: KHARKIV, UKRAINE – MARCH 1, 2022 – A burnt-out car is seen on the street after a missile launched by Russian invaders hit near the Kharkiv Regional State Administration building in Svobody (Freedom) Square) at approximately 8 am local time on Tuesday, March 1, Kharkiv, northeastern Ukraine. Consequences of shelling in central Kharkiv Copyright: xVyacheslavxMadiyevskyyx / IMAGO / Ukrinform