Worin besteht die Zeit des Krieges? Was macht heute den Krieg aus? Den realen Krieg wie den Krieg als Metapher.
Der englische Philosoph und Staatstheoretiker Thomas Hobbes (1588- 1679) definiert den Krieg nicht nur über Kampfhandlungen, sondern als einen Zeitraum, “ in dem der Wille zum Kampf genügend bekannt ist. Und deshalb gehört zum Wesen des Krieges der Begriff Zeit, wie zum Wesen des Wetters. Denn wie das Wesen des schlechten Wetters nicht in ein oder zwei Regenschauern liegt, sondern in einer Neigung hierzu während mehrerer Tage, so besteht das Wesen des Kriegs nicht in tatsächlichen Kampfhandlungen, sondern in der bekannten Bereitschaft dazu während der ganzen Zeit, in der man sich des Gegenteils nicht sicher sein kann. Jede andere Zeit ist Frieden.“ (Hobbes, Leviathan 1651).
Wir leben nicht nur in verunsicherten Zeiten, wir leben in einer Zeit des Krieges , in der wir uns des Gegenteils, des Friedens, nicht mehr sicher sind. Schon in den 90er Jahren ist der Krieg mit den Jugoslawienkriegen mitten nach Europa zurückgekehrt mit Urbanizid und Genozid. Danach kamen der Krieg gegen den Terror und der Krieg gegen die Pandemie.
Mi Putins flächendeckendem Angriffskrieg auf das grösste Land und seinen Folgen hat der Krieg in seiner buchstäblich härtesten Form uns alle definitiv erfasst.
Er zwingt zur Remilitarisierung des politischen Denkens, was nicht Bellizismus bedeutet. Von einem Extrem ins andere zu fallen, ist nicht Ausdruck eigenständigen Denkens. Die Friedensethik, die wichtig bleibt, wird vielmehr ergänzt durch eine politische Ethik des gerechten Krieges mit konkreten Prüfkriterien, Regeln und Konventionen, die verantwortet werden können. Dafür gibt es auch ein Dienstreglement: „Soldaten sind keine Mörder“.
Dass ein Verteidigungskrieg gerechtfertigt werden kann, wussten alle, welche die Landesverteidigung ernstnahmen. Sie sind nicht ohne Gewissen und Überzeugung in den Militärdienst gegangen. Ernstnehmen kann man/frau sie freilich auch durch zivile Verteidigung ohne Waffen. Gewissensfreiheit und das Recht auf Kriegsdienstverweigerung gehören ebenso in eine liberale Verfassung wie die Toleranz denen gegenüber, die in der politischen Theorie zwischen verschiedenen Kriegen unterscheiden, etwa zwischen 2. Weltkrieg, Sechstagekrieg, Afghanistankrieg (enduring freedom) und Irakkrieg (Iraqui freedom). Siehe Michael Walzer, Just and Unjust Wars, 1977. Das ist eine Wissenschaft für sich so wie die Politische Theorie, die beides, Krieg und Frieden, denken muss. Beides ist vernachlässigt worden, während die Gesinnungsethik auf beiden Seiten floriert; die Besinnung kommt dabei zu kurz.
Vor kurzem konnte man in Berlin darüber nicht einmal öffentlich diskutieren, schon galt man als Kriegstreiber. Diffenzierungsvermögen ist indessen gerade gegenüber diesen in der Sache und menschlich-emotional besonders schwierigen Themen, bei denen es um Leben und Überleben geht, nötig. Das beginnt schon bei den Definitionen und der Verwendung der Begriffe. Die politische Semantik spurt der Politik vor, Freiheit und Verantwortung beginnen im Kopf, was die (zwischen-)menschliche Chance ist. Emotionen dürfen die Urteilskraft nicht trüben.
Im gegenwärtigen Ukraine-Krieg unterstützen die USA, die westlichen Staaten und die Nato den ukrainischen Widerstand für die Unabhängigkeit und Souveränität des Landes. Oft wird auch gesagt, dass es ein Krieg um Werte, um unsere Werte sei. Man unterstützt die Ukraine nach Kräften – die USA und Briten als ehemalige Garantiemächte vorneweg – , ohne selbst Kriegspartei zu werden, was ein Balanceakt ist. Die USA liefern mehr als alle europäischen Staaten zusammen. Das transatlanische Bündnis ist wieder gestärkt, Artikel 5 der Bündnisverpflichtung ist eine Sicherheitsgarantie für immer mehr Staaten geworden, deren erste und wichtigste Legitimität der Schutz seiner Menschen ist ( Hobbes).
Man will nicht weiter eskalieren, fürchtet aber gleichwohl eine Ausweitung des Krieges. Die russische Taktik und ihre Probleme haben sich nicht verändert. Ob die Ambition Putins bis Odessa und Transnistrien reicht ist unklar, vielleicht gibt er sich bis zum Tag des Sieges am 9. Mai auch mit Cherson und dem Donbass zufrieden. Die Ukraine jedenfalls, soviel ist sicher, wird nicht kapitulieren und keinen Diktatfrieden akzeptieren, der auf eine Trennung des Landes hinausläuft.
Noch immer ist man sich nach zwei Monaten Krieg unsicher über Putins Kriegsziele und inwieweit man die wütend ausgesprochenen nuklearen Drohungen ernstnehmen muss. „Bisher ist nichts passiert, nicht einmal die Waffenlieferungen sind angegriffen worden“, heisst es beschwichtigend. Dagegen: Die Gefahr eines dritten Weltkriegs sei real, es handle sich um einen Stellvertreterkrieg des Westens gegen Russland. Die Ukraine würde Verhandlungsbereitschaft und Demokratie bloss vortäuschen, so Aussenminister Lawrow am 26.4. In Moskau. Man sollte es nicht gleich als „Prahlerei“ abtun, sondern hinhören.
Der Westen wolle Russland zerstören, so Putins Obsession. Ein Weltkrieg ist möglich, sagen Analytiker, einen weltweiten Wirtschafts-, Cyber- und Informationskrieg gibt es ja bereits. In grossen Ländern wie Indien und Brasilien scheint Putin sogar den Propagandakrieg zu gewinnen , was man heute hybriden Krieg nennt. Desorientierungen und gesellschaftliche Spaltungen sowie „nützliche Idioten“, wie Lenin sagte (Le Pen, Bolsanero, Lukaschenko u.a.), spielen hierfür ebenso eine treibende Rolle wie die militärische Stärke.
Selbst in den amerikanischen Wahlkampf ist 2016 eingegriffen worden. Die Waffen und Räume des Krieges (Cyberkrieg) wie auch seine schnellen (Reaktions-)Zeiten haben sich seit Hobbes-Zeiten enorm verändert. Nicht zu reden von den verdeckten Einsätzen der Geheimdienste und Spezialeinheiten. Rote Linien werden dauernd überschritten, und vieles ist normativ offen, an verschiedenen Orten der Welt.
Wenn von Weltkrieg die Rede ist – erstmals von Präsident Biden anlässlich der Diskussion über die Einrichtung von Flugverbotszonen – lauert im Hintergrund der Atomkrieg, von dem wir alle zurecht Angst haben, über den wir aber nicht sprechen und auch nichts Genaues wissen, zum Beispiel über taktische Atomwaffen und wie sie eingesetzt werden. Einige Daten aus der Gegenwart ( nicht aus der Vergangenheit!) muss man dazu wissen.
Ich entnehme sie Walter Rüegg (in: NZZ 3.4.2022), er ist Kernphysiker und Nuklearwaffenexperte der Schweizer Armee: „Nuklearwaffen dienen primär der Abschreckung oder Erpressung. Die militärische Wirkung auf dem Schlachtfeld ist begrenzt, umso schlimmer wirken sie auf Großstädte. Doch die Radioaktivität spielt nur eine Nebenrolle.“ Siehe auch Tyler Cowen, Putin’s Nuclear Threat Makes Armageddon Thinkable, in: Bloomberg 20.4.22.
Nach den Abrüstungsverträgen von 1985 wurde die Zahl strategischer Nuklearbomben erheblich reduziert.“ Heute verfügen die USA und Russland noch über je etwa 1500 einsatzbereite strategische Bomben, mit rund 1000 Tonnen Sprengkraft.“ Die Situation ist hier einigermassen ausgeglichen, Putin könnte auch nicht alleine entscheiden. Keine Seite wäre zudem in der Lage, mit einem Erstschlag die Rückschlagkapazitäten des Gegners auszuschalten. Russland besitzt indessen, so Rüegg , ein „furchteinflössendes Arsenal von 2000 taktischen Bomben zwischen 10 und 100 Kilotonnen.“
Dieses Potential wird weiter ausgebaut, um die konventionelle Überlegenheit der Nato dank der USA zu kompensieren. Die Nato würde bei einem Angriff in der Ukraine, wofür Russland einen Vorwand braucht, wenn die nukleare Einsatzdoktrin greifen soll, konventionell zurückschlagen, so die Erwartung von Rüegg. Die taktischen Atomwaffen würden ausserdem nicht kriegsentscheidend sein gegen 30 westliche Staaten. Die Gefahr sieht Rüegg eher bei Panikreaktionen im Sinne eines Appeasement. Während die Armeen gelernt haben, sich zu schützen, ist die Zivilbevölkerung nicht geschützt.
Die russischen Streitkräfte intensivieren derweil ihre Bombardierungen. Die zweitgrösste Stadt Charkiv ist unter Dauerbeschuss. Grosse Geländegewinne sind jedoch am 61. Tag des Krieges nicht in Sicht, dafür sind entscheidende Infrastrukturknotenpunkte, auch der Bahn, für Waffenlieferungen und Munition hart umkämpft, was auf einen länger dauernden Abnutzungskrieg mit grossen Verlusten auf beiden Seiten hindeutet.
Der Besuch der amerikanischen Minister Blinken und Austin am 25. April in Kiew unterstreicht noch einmal, dass es jetzt entscheidend ist, die Verteidigungsfähigkeit zu erhalten, um militärisch standhalten zu können. Am selben Tag warnt der russische Botschafter Antonow vor weiteren Waffenlieferungen. Verhandlungen spielen in dieser heissen Phase des Krieges keine Rolle.
Am 26. April ist mit UN-Generalsekretär Guterres sozusagen ‚die Welt‘ in Moskau und Kiew zu Besuch. Einen letzten Funken der Hoffnung gibt es, der im Multilateralismus liegt, der in den Werten des Völkerrechts besteht. Der Krieg indessen bleibt barbarisch, ist aber kein ‚Krieg der Zivilisationen‘. Das möchten uns diejenigen glauben machen, welche die Zivilisationen politisch instrumentalisieren.
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