Italien stellt die Nato infrage

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Im Vorfeld des historischen Natogipfels in Den Haag verdichten sich widersprüchliche Eindrücke – zusammengesetzt aus mehreren Phänomenen –, die aufschlussreich sind für das historische westliche Bündnis – vom Bund zum Bündnis, von der atlantischen zur transatlantischen Zivilreligion (dazu ausführlich Kleger, Trier 2001).

Was hält das Bündnis noch zusammen? Wie stark ist es? Ist es überhaupt noch ein Bündnis? Geht es in eine neue Ära? Für die sicherheitspolitisch geforderten Europäer auf jeden Fall, obwohl die Praxis schwierig werden wird. Rutte gibt ihnen den guten Vorschlag mit auf den Weg: „sie sollten sich weniger Sorgen um Amerika machen.“

Denn Trump, der viel geschmähte ‚Disruptor‘, scheint überraschend erfolgreich gewesen zu sein, mit seiner Drohung des 5-%-Ziels, das anfangs den meisten (abgesehen von Polen) weit übertrieben und unzumutbar schien. Auch das besonders empörte Deutschland hat schließlich geliefert und sieht sich „zurück auf der Weltbühne“ (Merz, Regierungserklärung 22.6.); kleiner geht es nicht.

Gleichzeitig nehmen sich die USA kurz vor dem Gipfel von diesem ambitionierten Finanzziel wieder heraus, da es selbst unter einem riesigen Schuldenberg ächzt. Spanien unter dem sozialistischen Regierungschef Gonzalez findet es ohnehin übertrieben und schädlich zugleich. Trump kritisiert Spanien und Kanada wegen zu geringer Beiträge.

Aber er gibt in Den Haag zum ersten Mal explizit ein starkes Commitment zum Bündnis ab. Das ist zweifellos Ruttes größter Erfolg und zugleich eine Beruhigung für den kleinen Mann, der sich auf die Amerikaner vor allem militärisch verlassen möchte.

Die Slowakei wiederum, geographisch näher an den bedrohlichen Geschehen von Russland aus, erwägt unter der Regierung Fico gar den Austritt aus der Nato. Die „Neutralität“ allerdings könnte das Land teurer zu stehen kommen als der Austritt aus dem „Golfklub“, findet die Opposition zurecht.

Nun stellt auch Italien, Gründungsmitglied von 1949, die Nato, infrage. Das ist der argumentative Hammer, dachte man doch an Meloni als persönliche Vermittlerin im atlantischen Bündnis, die über einen Draht zu Trump verfügt, der sie als “ phantastische Person“ bezeichnete.

Meloni ist zweifellos für die NATO, deutlicher als von vielen Europäern mit ihren parteipolitischen Vorurteilen erwartet. In ihrem konservativen Regierungsbündnis zählt die Lega zu den Putinfreunden.

Doch Ihr Verteidigungsminister Guido Crosetto, ein „Fratelli“ und persönlicher Vertrauter, hält die Nato in einem Vortrag an der Universität Padua nicht mehr für zeitgemäß, und die EU mit ihren Vorleistungen für zu schwach. Sie seien nicht mehr das Zentrum der Welt und müssten mit dem Globalen Süden zusammenarbeiten.

Seine These: die Nato wird innerlich nicht an den Amerikanern zerbrechen, sondern eher an den Europäern, erinnert an die irritierende Rede des amerikanischen Vizepräsidenten J.D.Vance an der Münchner Sicherheitskonferenz in München am 14. Februar 2025, der sich fragte, ob die Europäer überhaupt noch wüssten, wofür sie kämpfen würden. 

„Sie sitzen auf dem Ast der Meinungsfreiheit, den sie sich selber absägen“. Darüber sollte man tatsächlich selbstkritisch nachdenken und diskutieren können, bei allem europäischen Moralismus, als Politikersatz, der genau das verhindert.

Trump hatte die Rede offenbar gutgeheißen. Gibt es also geistige Verwandtschaften zwischen europäischen Rechten und der neuen konservativen Rechten an der Macht wie Vance? Ja, die gibt es. Das sollte jedoch einer argumentativen Auseinandersetzung um richtige und wichtige Punkte nicht im Wege stehen. 

Dafür steht die fehlende deutsch-europäische Neugier für die andere Seite (des Postliberalimus und rechten Kommunitarismus) und vor allem eine verhärtete Besserwisserei, die zu wenig lernt im Umgang mit ihren erfolgreichen Gegnern, für die man lediglich Verlegenheitsworte als immergleiche Schlagworte -“ Populisten/Extremisten/Postfaschisten“ – übrig hat. Damit kann man als ‚Volkspartei‘ keine Stimmen mehr gewinnen.

Die überbewertete AfD jedenfalls durfte in München ihre internationale Aufwartung machen. Über den Umgang mit ihr muss man sich allerdings in Deutschland keine inkompetenten Vorhaltungen machen lassen, auch von amerikanischer Seite nicht. 

Die Zeit der Reeducation ist vorbei, die eigene erwachsene selbstbewusste demokratische Auseinandersetzung mit den Intoleranten sollte und könnte dagegen anstehen. Das Toleranzparadox hat zwei Seiten. 

Die liberale agonale Demokratie ist anstrengend und besteht nicht darin, unliebsame parteipolitische Konkurrenz über einen vermeintlich ‚wehrhaften Staat‘ loszuwerden: Wer als „intolerant“ gilt, wird selber nicht mehr toleriert.

So lautet das „Paradox der Toleranz“ (Popper) in pervertierter Form. „Null-Toleranz“ ist stärker und wichtiger geworden als die liberale Toleranz, die nicht schwach sein muss, sondern politisch kämpferischer und inhaltlich überzeugender werden muss.

Heterogenes Europa

Wie bringt man aber die Bruchstücke einer widersprüchlichen europäisch-atlantischen Realität noch zusammen? 

– Die Nordeuropäer, welche die empfindliche Nordostflanke der Nato von sich aus gestärkt haben;

– die Osteuropäer, die, wie die Polen seit Langem, an vorderster Front gegen die russische Bedrohung stehen, geistig wie militärisch, sich selber in der Verteidigung rüsten und auf die Amerikaner vertrauen, nach schlechten historischen Erfahrungen mit europäischen Versprechen („mourir pour Danzig?“);

– Präsident Biden sprach 2022 in Polen von der „heiligen Verpflichtung“ des Bündnisses , siehe Blog vom 27. März 2022;

– die Südeuropäer, die sich eher als Mittelmeermacht verstehen wie Italien;

– die Westeuropäer, die, wie Deutschland zur „stärksten konventionellen Armee in Europa“ werden wollen (Merz); nach „zwei Jahrzehnten Versäumnisse“ (Klingbeil), da nun erstmal die Lücken wegzuräumen sind – ernsthaft und solid ;

– die USA, die ihre Truppen und den Atomschirm in Europa behalten und GB, das als kampffähige Militärmacht unter Starmer seine Kriegsbereitschaft ganz wesentlich erhöht und verstärkt hat, innenpolitisch aber in einer Krise steckt, ebenso wie Frankreich als Land der ‚force de frappe‘.

Sind aber die „europäischen Gesellschaften“ – Generäle sagen: „Nationen“ – bereit, zu kämpfen?
Wenn sie es nicht sind, nützt die ganze Aufrüstung nichts. Aber keine Panik auf der Titanic, das kann man von Finnland mit seiner Geschichte und langen Grenze lernen, an der Russland schon wieder neue Militärstützpunkte errichtet.

Die Rüstung ist objektiv im Gange, und der wiedergekehrte „Ernstfall“ in Gestalt der russischen Bedrohung rückt näher, auch über den hybriden Krieg.

Wie nah?

Das ist die Frage. Hier spielen Spekulationen eine entscheidende Rolle, Szenarien sind jedoch keine Prognosen. Putin selber hält einen Angriff für „absurd“ angesichts der realen militärischen Kräfteverhältnisse (zu den Zahlen siehe das schwedische Friedensforschungsinstitut Sipri, das eine deutliche Überlegenheit der Nato bei Soldaten, Flugzeugen und Panzern zählt). 

Was die Nato allerdings beängstigt, ist das schnelle Tempo der russischen Aufrüstung.

Mit extrapolierenden Unterstellungen von Absichten und Strategien wird wechselseitig gearbeitet. Übertreibungen und Dämonisierungen sind medial im Schwange und gesucht. Deswegen muss man vorsichtig und realistisch bleiben, was für den Einzelnen wie die militärische Expertise nicht einfach ist.

Gleichzeitig gehen professionelle militärische Überlegungen-immer vom schlechtesten Fall aus, auf den man sich als Eventualität vorbereiten muss, was nicht von heute auf morgen geht; alles andere wäre staatlich verantwortungslos.

Wie weit das finanziell, zeitlich und infrastrukturell (auch in Bezug auf Schutzräume und Gesundheitsversorgung) heute gehen soll, ist deswegen immer Teil der politischen und militärischen Debatte und wird Deutschland im konkreten Detail die nächsten Jahre noch beschäftigen.

Welche Kriterien bestimmen das Verhältnis zu Russland?

– historische Erfahrungen mit russischer Gewalt; deshalb sind antirussisch geprägt: Polen, Baltikum, Finnland, Tschechien (Zarenreich, Sowjetunion, Besatzung, Satellitenstatus);

– ambivalent bis prorussisch sind hingegen: Slowakei, Bulgarien, Ungarn, Rumänien.

– ethnisch-kulturelle Distanz/Nähe:
– Staaten mit russischer Minderheit: Lettland, Estland;
– Serbien, Bulgarien als orthodoxe Verbündete oder historische Beschützer.

– wirtschaftliche Verflechtung und Energieabhängigkeit: Ungarn, Slowakei, Österreich; Polen und Litauen bemühen sich um aktive Diversifizierung. 

– rechtsautoritäre Regierungen: Fico und Orban nutzen Russland als geopolitische Projektionsfläche gegen Brüssel.

– liberale Demokratien (Skandinavien, Baltikum) definieren sich in Opposition zu Belarus und Russland.

Wenn die EU kein eigenständiger Machtfaktor sein kann, stellen sich europäische und amerikanische Rechte (Crosetto, Vance) die Frage, wozu noch die Nato? Wenn der Wertebegriff bzw. die Wertegemeinschaft nur noch inflationär als rhetorische Hülle funktioniert, um politische Differenzen zu überdecken und ökonomische Interessen zu verhüllen, dann wird das historisch gewachsene kontingente Bündnis (was ein anspruchsvoller geistig- politischer Begriff ist, Kleger 2001) zu einer Zweckgemeinschaft, was etwas anderes ist.

Ein solches ‚ Bündnis‘ wird von fragilen Strukturen getragen, deren Zweck sich verflüchtigt oder asymmetrisch wahrgenommen wird (siehe Spanien, Italien, Slowakei). Die ‚heilige‘ Bündnisverpflichtung steht dann zur Disposition.

Bei unserer obigen Aufzählung der „Länder-Gruppen“ in Europa, die wiederum in sich zu differenzieren sind, fehlte noch die Gruppe der „Neutralen“. Kann man heute in Zeiten von Kriegen und Polarisierung überhaupt noch neutral sein, und was heißt das?

Zur Rolle der Neutralen

Neutralität wird in einer fragmentierten, rivalisierenden Welt nicht bedeutungslos, sondern strukturell wertvoll. Sie ist aber kein moralisch (besserer) Zustand, sondern eine strategische Funktion, die sich glaubwürdig und überzeugend machen muss.

Die Mittlerrolle besteht nicht darin, Mediator mit Agenda zu sein, sondern man muss Gastgeber ohne Agenda sein können (Genf Wien, Oslo). Das ist eine infrastrukturelle Notwendigkeit moderner Politik auf jeder Ebene.

In der Schweiz (Diplomatie, IKRK, Genf), in Österreich (OSZE, Wien) und Norwegen (Nahost, Kolumbien), das im völkerrechtlichen Sinne als Nato-Mitglied nicht als neutral zählt, ist Neutralität historisch verankert. Auch die schweizerische Neutralität ist indessen keine Naturgegebenheit, sondern eine politische Konstruktion, die stets pragmatisch in einem internationalen Spannungsfeld war und nie ideologisch konsistent sein kann. Die Schweizer sind keine „Neutralier“.

Neutralität ist in der internationalen Politik eine strategisch wertvolle Möglichkeit der Verständigung geworden, mehr denn je. Keine Großmacht bietet als Schutzfunktion einen solchen Raum ohne Drohung. 

Sie ist kein Isolationssymbol, sondern sollte nach Möglichkeit eine überzeugende strategische Ressource sein. Die schweizerische Linke hat das ebenso wenig wie die konservativen Patrioten verstanden.

Die Linke nicht, wenn sie nur und vor allem dem Ideal folgt, dass lediglich das Globale und die Einbeziehung in supranationale Strukturen (Uno, EU, Klimaabkommen, Weltgerichtsbarkeit) moralisch ist und das Nationale tendenziell verdächtig. Erfahrungen der Solidarität in der gesellschaftlichen und existenziellen Krise der Pandemie werden so nicht aufgenommen. Damit ist man auch nicht in der Lage, der rechten Kulturrevolution ihr Oberwasser abzugraben.

Schluss: Warum die Nato wichtig ist

Die Renaissance des Liberalismus nach 1945 war historisch kontingent. Sie verdankte sich nicht einer inneren Kraft liberaler Ideen, sondern der militärischen Niederlage ihrer Gegner und einer hegemonialen Neugründung durch die USA (atlantische Revolution, vom Bund zum Bündnis!).

Ohne Normandie – kein Nato-Hauptquartier.
Ohne Hiroshima – kein westlich verfasstes Japan.
Ohne Marshallplan – kein Westdeutschland mit Marktwirtschaft und Parlamentarismus.

Geschichte ist kein Pendel. 
Freiheit muss vielmehr militärisch gewonnen, ökonomisch verteidigt und geistig begründet werden – sonst kommt sie nicht zurück.

Bildnachweis: IMAGO / ABACAPRESS