Dieses Jahr tourte die Mitmach-Ausstellung ‚ToleranzRäume‘ durch das Land Brandenburg und machte Halt (mit Begleitprogramm) in Neuruppin 23.5.-29.5., Frankfurt/Oder 28.8.- 3., Cottbus 9.9.-15.9., Wandlitz 9.9.-15.9. Potsdam 11.9. -22.9.. Eine Indoor-Ausstellung in den Räumen der Landeszentrale für politische Bildung Brandenburg ab dem 6. November kommt hinzu.
Gefördert wurde dieses Projekt vom ‚Toleranten Brandenburg‘ und begleitet vom Verein ‚Neues Potsdamer Toleranzedikt‘. Ins Leben gerufen hat es der Verein ‚Toleranz-Tunnel‘ (Detmold, NRW).
Im Wesentlichen besteht die originelle Ausstellung (ca. 30 Quadratmeter groß) aus einem Container, durch den man hindurchgeht, mit Innen- und einem Außenbereich, der Sitzgelegenheiten bietet. Ein großer, weithin sichtbarer Würfel stellte in Brandenburg den regionalen Kontext her, indem er das Beratungsnetzwerk Tolerantes Brandenburg (seit 1998) und das Neue Potsdamer Toleranzedikt (seit 2008) vorstellte.
Den größten und auffälligsten Teil der Ausstellung nimmt ein Wimmelbild ein (siehe auch: Wimmelbild https://www.animationsfilm.de/?p=3659), das eine Stadt mit ihren ganz alltäglichen großen und kleinen Konflikten zeigt, die wir alle kennen.
Was ist in diesen Situationen der Toleranztipp? Was tun in diesen Konflikten? Sie vermeiden, sie verschärfen? Was heißt Zivilisierung von Konflikten? „Für Toleranz kannst du dich entscheiden“, lautet das Motto der Ausstellung. Toleranz ist indessen gerade nicht ein Königsweg der Harmonie, wie ein landläufiges Vorurteil lautet, sondern schließt Widersprüche und Konflikte ein und nicht aus.
Sie ist folglich nicht gleichzusetzen mit Gleichgültigkeit, obwohl die Geduld des Wartenkönnens und Urteile in der Schwebehaltens, ebenso wie die nötige kritische Ignoranz und systembedingte moderne Indifferenz (gegenüber der funktionalen Differenzierung und Spezialisierung sowie ihren Ergebnissen) sie phänomenologisch in diese Nähe rücken. Ein bewusstes und aktives Element kommt bei der modernen aufklärerischen Toleranz jedoch hinzu.
Die Ausstellung ist dankenswerterweise nicht nur eine spielerische Mitmach-Ausstellung für jung und alt, groß und klein, die sich besonders für Schulklassen eignet. Es ist auch eine lernende Ausstellung, das heißt: Statt Schubladendenken füllen sich Schubladen für mögliche Lösungen von Stadt zu Stadt durch die Mitmachenden.
Deutsche Städte sind im Weltmaßstab zwar vergleichsweise klein (Berlin liegt auf dem 95. Platz der Millionenstädte) und ‚harmlos‘ (nicht verslumt), obwohl für Viele schon Essen ein „Kulturschock“ (Aiwanger) ist. Über sie wird allerdings seit je viel geklagt (siehe nur als Klassiker moderner Kulturkritik Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918/1922).
Konkrete Lebenswelten stoßen hier aufeinander. Verdrängte Probleme werden sichtbarer (Obdachlosigkeit, Drogen, Kriminalität u.a.) und Probleme werden verdrängt (gated communities). Die Stadt ist eine ständige Baustelle im Verdrängungswettbewerb, die nie zur Ruhe kommt, auch durch Migration. Die einen malen sie schön, die anderen schwarz.
Urbane Koexistenz im Dichtestress großer Städte, die vieles an gesellschaftlichen Problemen auffangen müssen, ist die komplexeste Form des Miteinanderlebens (auch im Gegeneinander). Hier zeigt sich, wie verschieden man gewaltfrei leben kann. Oft geht es auch lediglich um das Überleben, wenn sich die Armut weltweit vom Land in die Städte und ihre Agglomerationen verlagert (siehe Mike Davis, Planet der Slums, 2005).
Siehe auch Kleger, Urbane Koexistenzphilosophie, in: Miteinander leben, Vadian Lectures, Transcript, Bielefeld 2016, S.19-50. Die größten Probleme lösen die, welche selbst die größten Probleme haben. Das gilt auch für die sogenannten Problemviertel in deutschen Städten.
Im Toleranztunnel stecken wir alle. Auf einer Skala von 0 bis 10 wird gefragt, was wir noch wie ertragen können: andere Meinungen? Laute Musik? Glockengeläut? Graffitis? Öffentlicher Alkoholkonsum? Elektroroller? Beim Verkehrsaufkommen bleibt die Straße mit großem Abstand vorn.
Und wie kommen wir heraus aus dem Tunnelblick, der oft vorschnell schubladisiert, was wir noch gar nicht kennen. Das alte große Thema der Aufklärung: die Vor-Urteile! Wie verbessern wir die Urteilskraft: durch Wahrnehmung, Zuhören, Geduld, Begegnungen, Austausch und zuverlässige Information. Sie wächst mithin durch Übung und Erfahrung und nicht primär durch Belehrung und Moral.
Das sind alles Voraussetzungen, die nicht selbstverständlich sind und heute von allen Seiten angegriffen werden, weshalb die Verteidigung der Toleranzräume so wichtig ist. Es gibt auch wieder verstärkt die Gegenaufklärung der Desinformation und bewussten Manipulation, die wir erkennen müssen. Was also ist der Fall? Darauf, auf die (gemeinsame) Wirklichkeit, müsste man sich mit Ich-Stärke einlassen können – und mit Neugierde. Das ist die Voraussetzung von Aufklärungsprozessen.
Gibt es dafür Vorbilder? Die Ausstellungsmacher präsentieren viele, die für Vieles wichtige Vorbilder sind: für Mut, Widerstand, Zivilcourage, Empathie u.a., aber nicht immer unbedingt spezifisch für die Toleranz (Ernst Bloch, Sophie Scholl, Rosa Luxemburg u.a.). Toleranz ist auch ’nur‘ ein Wert oder besser: eine Verhaltenstugend. Sie ist eine Voraussetzung für vieles, aber nicht die Lösung für alles. Wir brauchen aber Lehrer, die für sie motivieren können. Dazu dienen auch solche Ausstellungen.
In der Geschichte war sie oft eine kleine unterschätzte Tugend, auch in der Aufklärungsphilosophie selbst, wo sie für bestimmte Varianten zentral ist. Inzwischen könnte man aus der gewaltigen (Gewalt-) Geschichte, ideologisch bedingt, mit all ihren Überbietungen, selbst einer totalitären Aufklärung, die intolerant geworden ist, aber gelernt haben, dass sie für die individuelle und gesellschaftliche Entwicklung unentbehrlich ist wie die Luft zum Atmen. Sie ist das zivile Komplement der Freiheit – „einfach, aber schwer“ (Gauck). Von „freiheitlichen Gesellschaften“ ist die Rede, das Gegenteil davon steht uns anschaulich vor Augen.
Die Diskussion über Toleranz und Toleranzräume ist aktuell noch wichtiger, sie ist aber in Zeiten des Krieges und drohender Bürgerkriege, selbst in Demokratien, auch schwieriger geworden. Wo selbst der freie Diskurs an Universitäten, die dafür institutionell freigesetzt sind, nicht mehr selbstverständlich ist. Der ideologisch bedingte Fanatismus hält wieder Einzug, nicht zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte, lediglich die Vorzeichen ändern sich. Der Fanatismus war schon der Hauptgegner von Voltaire.
Die Solidarität für die Ukraine seit dem russischen Angriffskrieg 2022 und die Solidarität mit Israel seit dem brutalen Überfall der Hamas am 7. Oktober standen im Vordergrund. Putin-Versteher und Israel-Hasser gaben sich die Hände im Namen von Widerstand und Frieden.
Zumindest den römischen Rechtsgrundsatz „Audiatur et altera pars“ sollten wir hochzuhalten versuchen, in den hitzigen Wortgefechten, die seitdem ausgebrochen sind. Antisemitische Vorfälle haben überall, trotz Vergangenheitsbewältigung, enorm zugenommen. Die Lehrerangst vor aggressiven Schülern ist ein Problem, in Frankreich noch stärker als in Deutschland.
Verunsicherung und Ängstlichkeit gehen Hand in Hand und führen dazu, dass Lehrer Konflikte vermeiden und Professoren in vorauseilender Anpassung zur Selbstzensur neigen. Über die Bedrohung von Kommunalpolitiker (ohne Polizeischutz) wollen wir hier nicht noch einmal reden (siehe dazu den Blog vom 28. August „Beharrliche Demokratiearbeit“).
Stattdessen wollen wir auf eine neue Studie über Cybermobbing, die kürzlich in Berlin vorgestellt worden ist, hinweisen. Danach ist jeder 5. Schüler davon betroffen, bedroht, belästigt oder beleidigt worden zu sein. Gegenüber der Vorgängerstudie von 2022 hat das Phänomen noch einmal zugenommen. Erschreckend ist vor allem der Befund, dass die Hauptzahl der Verletzungen aus dem näheren sozialen Umfeld kommt. Klarnamen im Netz würden helfen, die Verantwortlichen besser zur Rechenschaft ziehen zu können.
Durch das Netz und seine Plattformen haben sich die Kampfzonen, durch den Neid und die Wut in der Konkurrenzgesellschaft zusätzlich befeuert, ausgeweitet und intensiviert. Bis zur Vernichtung des Gegners und der Denunziation bei der Bekämpfung. Wie soll man diesen Kampf führen, für den es schon Taktikhandbücher gibt? Man sieht: das Toleranzthema tritt in den Hintergrund, wenn es um den Kampf für Rechte geht, bei dem jedes Mittel recht ist.
Symptomatisch interessant ist in diesem Zusammenhang auch das kontroverse Thema ‚Meinungsfreiheit‘. Es gilt als eines der „kostbarsten Menschenrechte“ gemäß Artikel 11 der Erklärung von 1789, ein Text, der zu den kanonischen in der politischen Bildung zählt.
Was ist durch die Meinungsfreiheit gedeckt? Auf diesem Feld kommen sich zuweilen sogar Respekt und Toleranz ins Gehege. Sind Worte schon Handlungen? Was gehört noch zur legitimen politischen Debatte? Und wo sollten Rücksicht und Zurückhaltung walten? Lässt sich dieses verbale Schlachtfeld in einer global gewordenen Mediengesellschaft überhaupt zivilisieren?
Die Demokratie, je liberaler sie ist, hat viel auszuhalten. Die liberale Toleranz der Menschen, die ihr entsprechen, wird zur Zumutung in allen drei analytischen Dimensionen: Geduld, Offenheit und Zivilisierung von Differenz (Neues Potsdamer Toleranzedikt 2008, S.22). Sie ist eine dünne zivilisatorische Haut, die leicht zerreißen kann.
Wir stecken im unübersichtlichen Toleranztunnel fest und müssen uns doch bewegen, mit eigenem Urteilsvermögen und zuverlässiger Information. Toleranz ist eine individuelle und gesellschaftliche Stärke und keine Schwäche, obwohl sie weich ist. Sie darf aber nicht zur Selbstverleugnung führen, sie muss vielmehr behauptet werden. Die verwilderte Selbstbehauptung wäre das Gegenteil von Zivilisation.
Um die liberale rechtsstaatliche Demokratie nachhaltig und überzeugend verteidigen zu können, benötigen wir mehr gemeinsame Aufklärung über sie als multiples Regelsystem und gelebte Toleranz, die etwas bewegen kann.
Bildnachweis: Neues Potsdamer Toleranzedikt e. V., Gerolf Mosemann