Herbst der großen Entscheidungen 

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Biden will noch feste Pflöcke einschlagen, bevor seine Amtszeit in drei Monaten endet. „Es war eine der obersten Prioritäten meiner Regierung, der Ukraine die Unterstützung zukommen zu lassen, die sie braucht, um zu siegen.“

Harris, die noch ein Leichtgewicht ist, wird diese Linie fortsetzen, woran kein Zweifel besteht. Wenn hingegen Trump am 5. November Präsident wird, sind diese Pläne Makulatur. Es steht also viel auf dem Spiel bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen. Die großen strategischen Entscheidungen für die ‚westliche‘ Weltpolitik werden ohnehin in Washington gefällt. Die Machtverhältnisse im Weißen Haus und im Kongress sind jedoch noch nicht geklärt.

Trump will einen Deal zwischen Selenski und Putin, um einen „Kompromissfrieden“ zu erreichen. Er will wie ein Geschäftsmann und nicht wie ein leidenschaftlicher Politiker, der für seine Sache kämpft, verhandeln, der auch Gebiete abtritt, wenn er dafür etwas bekommt. Das verstößt gegen die territoriale Integrität, wofür die Ukrainer kämpfen. Trump aber sagt: „Jeder Deal wäre besser gewesen als das, was wir jetzt haben.“ 

Die MAGA-Republikaner, die ihn umgeben, sind keine Freunde der Ukraine. Das neue Treffen findet am 27. September im Trump Tower, seinem Statussymbol, statt, nachdem er Selenski zuvor in North Carolina gedemütigt hatte, indem er ihm vorwarf, Milliarden nach Hause zu nehmen, ohne zu einem Deal bereit zu sein.

Was kann also aus diesem Gespräch herauskommen, bei dem Trump zu Beginn wieder einmal mehr nur über sich selbst spricht (das gescheiterte Impeachment-Verfahren)? Ein realistischeres Bild der Ukraine? Auf persönlicher wie sachlicher Ebene resultierte offenbar wenig, wie ein nachträgliches Interview auf Fox News zeigt. 

Selenski erläuterte vor der Uno, dass man „Putin zum Frieden zwingen müsse“: ein ‚Siegfrieden‘, der nachhaltig ist, deswegen ein Friedensplan als „Siegesplan“. Er will die Zusage vom amerikanischen Präsidenten für den Einsatz westlicher Langstreckenwaffen gegen Russland, nach dem Angriff auf Kursk, der Putin überrascht hatte. Wird der Siegesplan zur „doppelten Niederlage“?

Geht es also weiter nach dem Muster der westlichen Unterstützung „zu spät und zu wenig“? Einen Abnützungskrieg wird die Ukraine verlieren. Selenski aber will Russland „auf dem Schlachtfeld besiegen“, wo sich Russland für unbesiegbar wähnt und mit ihm die ganze Welt. So erklärte es jüngst auch der kasachische Präsident gegenüber Kanzler Scholz. Wie schon Bismarck wusste, wird Russland entweder überschätzt oder unterschätzt. Das ist wieder die historische Schlüssel-Frage, die schwierig zu beantworten ist.

Die chinesisch-brasilianische Friedensinitiative, die den Krieg entlang der aktuellen Fronten einfrieren will, lehnt die kämpfende Ukraine ab, genauso wie Russland auf den „neuen geopolitischen Realitäten“ (Putin, Lawrow, Peskow) beharrt. Daran hat sich im Grunde nichts geändert, seitdem die vier ukrainischen Regionen Ende September 2022 in Moskau der Russischen Föderation zugeschlagen worden sind.

Gespräche mit Putin hält Selenski, nach allem, was geschehen ist, für zwecklos. Sein Siegesplan, den er Präsident Biden vorstellen will, ist vielleicht die letzte Chance für die Ukraine. Dafür putzt er sämtliche Klinken bei seinem Amerikabesuch im September und rennt zwischen dem Kapitol, dem Weißen Haus und New York hin und her. Auch die Zusage zum NATO-Beitritt, die er seit Langem hartnäckig fordert, bleibt ihm während der Zeit des Krieges weiterhin verwehrt. 

Amerikanische Geheimdienste sind überdies in Sorge vor russischen Reaktionen nach Angriffen auf Flughäfen und Munitionsdepots. Die Einsätze der gefährlichen Gleitbomben zumindest will man aber abwehren können. Russland hat diese Angriffe auf Charkiv und Cherson noch einmal ausgeweitet. 

Die Zerstörung der Infrastruktur im Hinblick auf den kommenden schweren Winter wird systematisch intensiviert. Dazu kommt die dramatische militärische Lage im Donbass, wo die Festungsstadt Wuhledar vor dem Fall steht. 

Derweil droht Putin, der Truppenstärke und Militärhaushalt noch einmal aufgestockt hat, schon wieder mit Atomwaffen, indem er öffentlich deren neue Einsatzdoktrin verkündet. Demnach können sie auch bei einem konventionellen Krieg, der Russland bedroht, eingesetzt werden, wenn Atommächte diesen unterstützen. Ob sie ihm militärisch nützen werden, ist wieder eine andere Frage. Einen konventionellen Krieg gegen die NATO würde er jedenfalls verlieren. Da kann Europa sicher sein. 

Schon vor dem Eintreffen von Selenski in den USA gewährt Biden milliardenschwere, großzügige Militärhilfen, einschließlich Gleitbomben und Streumunition. Zudem lädt er zu einem Treffen in Ramstein ein, wenn er am 10. Oktober zum ersten Mal Deutschland besucht. Nicht Scholz lädt die 50 Unterstützerländer der Kontaktgruppe ein, sondern das Weiße Haus. Das ist bezeichnend.

Bidens Vermächtnis als vielleicht letzter großer Transatlantiker ist der Multilateralismus, obwohl er durch die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten gescheitert ist. In seiner letzten Rede vor der UNO (25.9.) redet er gegen den amerikanischen Isolationismus an, den Trumps MAGA-Republikaner vertreten. 

Diese Debatte zieht sich durch die ganze amerikanische Geschichte und hat enorme Bedeutung für die Probleme der heutigen Weltpolitik. „Wir befinden uns an einem Wendepunkt“, sagt Biden völlig zu Recht.

Der 81-jährige Biden nutzt die 79. Generaldebatte der Uno in New York, um ein halbes Jahrhundert Weltpolitik aus amerikanischer Sicht Revue passieren zu lassen – von Vietnam bis heute. Er argumentiert aus Erfahrung und bekräftigt seinen nicht-defaitistischen Glauben an multilaterale Lösungen trotz ihres aktuellen Scheiterns.  

Er redet damit gegen den Isolationismus an, den Trump und seine Republikaner gegenwärtig mit viel Resonanz ansprechen. „Putins Krieg ist gescheitert!“, ruft Biden aus, während die Situation im Nahen Osten von Tag zu Tag eskaliert.

Überall setzt er auf Dialog und Zusammenarbeit, auch in Bezug auf China, das gleichzeitig eine Interkontinentalrakete testet, was auch ein Signal ist. Nach seiner Erfahrung sind persönliche Beziehungen auch in der Weltpolitik wichtig (siehe auch den Blog „Krisenkommunikation auf höchster Ebene“ vom 15. November 2023). 

Er will noch einmal, mit letzter Kraft, sein Gewicht, das Harris noch nicht hat, in die Waagschale werfen. Das beweist auch sein Deutschlandbesuch am 10. Oktober und die militärpolitische Zusammenkunft in Ramstein.

Vor dem ‚Irak-Syndrom‘ kannten die USA bereits das ‚Vietnam-Syndrom‘. Bush Senior sah den 1. Irakkrieg gegen Kuwait noch als Heilung an für eine amerikanisch geprägte Weltordnung, ja eine neue friedliche Weltordnung nach dem Kalten Krieg (NZZ, 5. Mai 2024). 

Aber das Irak-Syndrom nach der Invasion von 2003 lässt sich nicht so schnell heilen, obwohl der Vietnamkrieg sehr viel mehr Opfer forderte (58.000). Diese Invasion hat die Weltpolitik tiefgreifend, mit Folgen bis heute verändert: „Die Intervention hat die Glaubwürdigkeit und Legitimität als internationale Führungsmacht ausgehöhlt“, so der Politologe Michael Mazarr (in NZZ, a. a. O.). Das Echo ist in den heutigen Debatten über die Ukraine hör- und spürbar. Länder im Globalen Süden argumentieren: Der russische Einmarsch gefällt uns nicht, „aber was wollt ihr uns über die Illegitimität von Invasionen belehren, wenn ihr selbst zu solchen bereit seid, wenn es euch passt“ (Brasilien, Südafrika, Indien, Indonesien).

Auch innenpolitisch haben die Kriege im Irak und Afghanistan zu „populistischen Überreaktionen“ gegen die amerikanische Führungsrolle in der Welt geführt (Mazarr, a. a. O.). Obwohl es sich beim Ukraine-Krieg um einen völkerrechtlich zulässigen Verteidigungskrieg und das Überleben einer selbstbestimmten Nation handelt, wuchs der Widerstand vor allem in den Reihen der Republikaner. Trump wie DeSantis sahen ihn als „europäisches Problem“.

Im schlechtesten Szenario könnte deshalb das Kalkül von Putin und seinen Einflüsterern aufgehen, und der politische Westen würde bei einer Niederlage der Ukraine auseinanderbrechen. Biden und die westlichen Hauptstädte behindern jedenfalls ein weitergehendes Engagement und eine konsequente Aufrüstung der Ukraine, das sie selbst nicht kompensieren kann. Biden versucht noch zu führen, Europa ist führungslos.

Nach einer Niederlage der Ukraine könnte die NATO auseinanderbrechen. Sichtbar würde, wie unterschiedlich die Orientierungen und Interessen innerhalb der NATO sind. Die historisch gewachsenen (und reflektierbaren) „heiligen Verpflichtungen“ des wehrfähigen Beistandsbündnisses wären dann tot. Russland würde zu einer europäischen Macht, und Deutschland, Frankreich, Ungarn, Serbien und die Slowakei könnten ihre Russland-Nähe offen zum Ausdruck bringen: innenpolitisch wird bereits darum gerungen.

Die USA können ihren Konflikt mit China auch ohne Europa mit ihren fernöstlichen Verbündeten austragen. Japan wählt gerade einen Verteidigungsexperten zum Präsidenten. Südkorea, Australien, die Philippinen und andere wollen kräftig in die militärische Verteidigung investieren. China umstellt derweil mit Flugzeugträgern das demokratische Taiwan so, dass man kaum erkennen kann, ob es noch Training oder schon Krieg ist.

Bildnachweis: IMAGO / UPI Photo