Nach 6 Monaten Krieg verkündet Ministerpräsident Selenski, noch immer im olivgrünen Outfit, zum ukrainischen Unabhängigkeitstag am 25.August (nach 31 Jahren Unabhängigkeit!), dass der Krieg in der Ukraine noch lange nicht vorbei sei, vielmehr werde man sich die annektierten Gebiete, darunter die Krim, wieder zurückholen: „Das Ziel ist der Sieg“.
Die Ukrainer kämpfen seit dem 24. Februar in einem Krieg, der inzwischen in einen Abnützungskrieg mit großen Verlusten auf beiden Seiten übergegangen ist. Auch Militärexperten wissen nicht, wie es im und nach dem Donbass weitergehen wird. Hat Putin deshalb schon verloren? (NZZ, 27.8., S.1)
Sind die Kriegsziele der Ukraine aussichtslos? Und was sind eigentlich noch die Kriegsziele Russlands? Bleibt es beim Donbass (Luhansk und Donezk)? Feststeht lediglich, dass die „Spezialoperation“ eines Blitzkrieges verbunden mit einem Regimewechsel in Kiew gründlich fehlgeschlagen ist. Es ist eine Invasion und ein Vernichtungskrieg daraus geworden mit weltweiten Folgen für eine militarisierte ‚Weltordnung‘, selbst im Weltraum und in der Arktis.
Dabei hat sich das russische Militär als (gefährlicher) Scheinriese entpuppt, vor dem politische Theoretiker nicht zu viel Angst schüren sollten, wenn es um Leben und Tod bzw. den Verteidigungskrieg eines Volkes geht. Vielmehr hat der Westen die ‚Abschreckung‘ wieder neu zu lernen. Das geht über die verteidigungspolitische Zeitenwende, die Kanzler Scholz ausgerufen hat, der inzwischen für ein Foto sogar auf einen Gepard- Panzer steigt, den die Bundeswehr ausgemustert hatte.
Putin hat militärisch insofern verloren, als die Nato gestärkt aus dem Konflikt herausgeht. Sie ist den russischen Streitkräften konventionell überlegen und bedroht trotzdem das große Russland nicht. Das sollten auch die militärisch- politischen Betonköpfe einsehen. Es könnte zur Grundlage einer neuen friedlichen Nachbarschaft werden, obwohl es lange dauern wird, bis das verspielte Vertrauen wiederhergestellt ist. So wie es verschiedene Kriege gibt, gibt es verschiedene Friedensverträge in der Geschichte – gute und schlechte, die wieder Anlass für neue Kriege geben.
Gefährlich sind die Illusionen der Selbstüberschätzung von Großmächten, die oft mit postkolonialer Geringschätzung einhergehen. Die russische imperiale Ambition geht dahin, auf Augenhöhe mit den USA zu sein: eurasische Landmasse versus atlantische Seemacht, wie geopolitische Ideologen dazu sagen. Die Selbsteinschätzung etwa von Medwedew lautet öffentlich, dass die „Spezialoperation einen dritten Weltkrieg verhindert hätte „(27.August), sie sei „maximal schonend und gemäßigt“ gewesen.
Was heißt das? Und was bedeutet dies weiterhin, nachdem Kämpfe um die Krim-Brücke bei Kertsch schon begonnen haben? Die Atomdoktrin Russlands für die Verteidigung des eigenen Territoriums ist bekannt. Ist also eine weitere Steigerung der Eskalation möglich? Auf ukrainischer Seite hängt alles von der amerikanischen Unterstützung ab, die mit 40 Milliarden Franken bisher mehr umfasst als alle weiteren westlichen Geberländer zusammen (NZZ, 27. August, S.3).
Dort liegen auch die Schlüssel für eine Verhandlungslösung ebenso wie in Moskau. Noch immer stecken wir aber mitten und Hals über Kopf in einer besonders heißen Phase, wo es darum geht, für eine möglichst starke Position am Verhandlungstisch (Biden) militärisch zu kämpfen. Noch hat niemand weder gewonnen noch verloren.
Über die reale militärische Situation vor Ort sind sich die Experten uneins. Was steckt tatsächlich hinter der angekündigten Großoffensive der Ukrainer für September? Ist sie Realität oder doch mehr Rhetorik zur Motivierung der Kampfmoral?
Und was erreichen die russischen Streitkräfte noch in Richtung Odessa und Transnistrien? Diese Fragen sind Ende August immer noch offen. Und für die Ukrainer müssen die westlichen Waffenlieferungen immer noch schneller und effektiver kommen, und Putin will offenbar seine Armee vergrößern (ohne die Generalmobilmachung im eigenen Land auszurufen?).
Würde er Letzteres tatsächlich tun, was man schon vor dem 9. Mai befürchtete, wäre Putin mit seiner ganzen Bevölkerung offen in einem erklärten Krieg (einem ‚existentiellen Weltkrieg‘?) und nicht mehr lediglich in einer geheimdienstlich schlecht vorbereiteten „Spezialoperation“, deren Sinn nicht einmal die eigenen Soldaten einsehen. Es wäre dann Russlands Krieg. Gegen wen? Gegen die Nato?
Auf die Unterstützung der Soldaten beziehungsweise der eigenen Bevölkerung kommt es aber letztlich entscheidend an, vor allem dann, wenn es um Widerstand gegen einen Aggressor geht, ob vermeintlich oder nicht. Die Ukraine hat auf diesem Feld sicherlich nicht verloren, im Gegenteil: das Volk im nationalen, selbstbestimmten und demokratischen Sinne ist während des 6-monatigen Krieges näher zusammengerückt und solidarischer geworden. Und wie sieht es in Russland aus? In welche Richtung des Nationalismus geht dieses große Land? Das ist eine der großen Unbekannten.
Hat hier Putin schon verloren? Oder welche Karten kann er noch ziehen? Wer sind seine Unterstützer und wer seine Nachfolger? Putin ist noch immer ein Meister des hybriden Krieges. Auch hier sind die Gefolgschaft und Solidarität der Bevölkerungen entscheidend.
In der Ukraine geht es um Tod oder Leben, bei den reichen demokratischen Ländern, die sie unterstützen, um Energiekrise, Preissteigerungen, Inflation, Rezession, Wohlstandsverluste für viele und soziale Proteste – alles politisch keine Petitessen trotz des Vergleichs mit der Ukraine, Afghanistan, Äthiopien, Jemen u.a. größeren Krisenherden der Welt. Der Druck auf die Regierungen wächst.
Die Prognosen in Deutschland für den Winter und die nächsten Jahre sind düster – „German Angst“? EU-Europa hat zudem – das ist sicher – Feinde, die es zerstören wollen, und falsche Freunde, die in der Krise nicht weiterhelfen. Die EU-Politik der nächsten Jahre ist deshalb keine sichere Bank, zumal die EU selbst einer Reform bedarf.
Nach Draghi ist auch der EU- Gründungsstaat Italien gefährdet, wo demnächst Wahlen stattfinden, die eine rechtsnationale Regierung (Meloni, Berlusconi, Salvini) an die Macht bringen können. Noch wichtigere Wahlen für Europa werden in den USA stattfinden. 2024 wird ein wichtiges Jahr werden. Die ökonomischen und politischen Unsicherheiten bleiben mithin groß, und es wird sich zeigen, wieviel wert uns – buchstäblich und nicht nur verbal – die demokratischen Werte sind.
Wert ist ursprünglich ein ökonomischer Begriff. Liberale Demokratien erfordern mehr als eine Rhetorik der Werte, die im Schwange ist. Sie verlangen zivile Auseinandersetzungsformen, Rechtssicherheit, Sozialpolitik und kluge Politik, um die weiterhin mit der ‚Normalität als Bestie‘ gerungen werden muss.
Bildnachweis: IMAGO / ZUMA Wire