Beim Gipfeltreffen in Astana, der Hauptstadt Kasachstans, wird am 4. Juli wieder einmal die Größe der „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“ (SCO) sichtbar. Sie ging als internationale Organisation aus den Shanghai Five 1996 hervor und wurde 2001 von Kasachstan, China, Russland, Usbekistan, Tadschikistan und Kirgistan gegründet.
Die Zusammenarbeit, ursprünglich ausgehend von Sicherheitsfragen und Problemen der Terrorismusbekämpfung, erstreckt sich heute auf ein breites Spektrum von der Wissenschaft und Technik über Handel, Energie bis zum Transport- und Verkehrswesen.
Inzwischen umfasst die Organisation, die man wirtschaftlich-politisch als supranationalen ‚zentralasiatischen Regionalismus‘ einordnen kann, zehn Mitglieder:
Indien (für Modi handelt es sich freilich nicht um das „Zeitalter des Krieges“) und Pakistan sind seit 2017 dabei,
Iran seit 2023,
am 4. Juli 2024 ist Belarus hinzugekommen. Auf den Bildern sieht man Diktator Lukaschenko mit stolz geschwellter Brust. Belarus erlaubt Russland nicht nur die Stationierung taktischer Atomwaffen, es kooperiert neuerdings militärisch auch mit China (Zeit.de, 6.7.).
Zu den ‚Dialogpartnern‘ gehören unter anderem:
Türkei, das zugleich NATO-Mitglied ist, Ägypten, Saudi-Arabien, Katar u.v.a.
Die Amts – und Arbeitssprachen sind chinesisch und russisch, Sitz der Organisation ist Peking.
Unter Führung Chinas und Russlands sieht sich die Organisation immer mehr als Gegengewicht zum Westen und zu den demokratischen ‚Farbrevolutionen‘ (die orangene Revolution 2004 in der Ukraine zum Beispiel), angefangen mit dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989, dessen Bilder um die Welt gingen, über die Massenproteste in Minsk und Maidan bis zur grünen Revolution im Iran. Das hat auch Moskau aufgeschreckt.
Xi sprach explizit von „prowestlichen Revolutionen“ (Die Presse, 16.9.2022). In China werden sie mit ‚Tumult’, in Russland mit ‚Bürgerkrieg‘ assoziiert – die demokratische Weltrevolution ist zum Gegenmodell zu den ehemals sozialistischen Revolutionen geworden. Das ist ein neues Menetekel an der Wand, welches die Autokraten nicht mehr ruhig schlafen lässt, wie in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts der Extreme, die bolschewistische Revolution Lenins, die Demokraten.
Putin wünscht sich am 4. Juli in Astana eine „multipolare Ordnung“. Anwesend ist ebenso Xi Jinping, der einmal mehr davon spricht, dass die „Mentalität des Kalten Krieges“ zu überwinden sei. Der Ukraine-Krieg wird nicht erwähnt, während Putin bekräftigt, die „Ein-China-Politik“ zu unterstützen. Von einer Partnerschaft ist die Rede, die seit den Winterspielen in China im Februar 2024 auf einer persönlichen Freundschaft der beiden Autokraten gründet.
Autokraten gehen eigene Wege und sind zu überraschenden Koalitionen fähig (siehe nur Erdogan, Orban u.a.). Die autokratischen Regime und ihre Ideologien sind ebenso zu differenzieren wie Demokratien mit ihren verschiedenen politischen Systemen und Traditionen.
Die totalitäre Ideologie von Xi ist eine andere als der Putinismus. Das koreanische Regime, wie es von Kim il Sung als Dynastie begründet wurde, ist ein anderes als das iranische theokratisches Regime usw.. Den Begriff der „illiberalen Demokratie „als normatives Konzept bis hin zur „gelenkten Demokratie „, die ein Widerspruch in sich ist, hat der ungarische Ministerpräsident Orban erfunden.
Er inszeniert sich seit dem 1. Juli als EU-Ratspräsident überdies als Vermittler für einen „Frieden in Europa“ nach seinen Besuchen in Kiew, wo er Selenski zu einem Waffenstillstand aufforderte, und Moskau mit dreistündigem Empfang bei Putin im Kreml. Orban unterhält gute Beziehungen sowohl zu Putin wie zu China, wohin er am 8. Juli auf seiner selbsterklärten „Friedensmission“ 3.0 überraschend reist. China ist für ihn die „Schlüsselmacht“ zum Frieden.
Orban hat zudem Vertrauen in einen künftigen Dealmaker Trump, der angeblich Frieden erzwingen kann, was allerdings bei Nordkorea auch nicht gelang. In EU -Europa erreicht Orbans neues Rechtsbündnis „Patrioten für Europa“ mit ihrer Kritik an den Brüsseler Eliten Fraktionsstatus im Europäischen Parlament.
Die europäische Rechte organisiert und verändert sich mit der FPÖ, dem ungarischen Fidesz, der spanischen Vox, der niederländischen Freiheitspartei, der italienischen Lega, dem französischen RN und anderen. Sie ist inzwischen die drittgrößte Gruppe im größten Parlament, allerdings ohne Blockade-Mehrheit.
Ein Bündnis wie die NATO, die auf einer Zivilreligion höchster Werte (Freiheit und Demokratie) beruht, historisch begründet (atlantische Revolution) aus dem Zweiten Weltkrieg heraus, ist mehr als eine internationale Organisation. Die Shanghaier Organisation dagegen ist eine internationale supranationale Organisation, in welcher die Kooperations-Partner, die Staaten, vor allem ihren eigenen Interessen folgen.
Freundschaft und moralische (gar ‚heilige‘, Biden) Verpflichtungen gibt es auf dieser Ebene nicht. Ein Staatenverbund wie die EU ist eine internationale Organisation per se ebenfalls noch nicht. Trotzdem sind effektive Entwicklungen und diplomatische Erfolge möglich, welche die internationale Politik sukzessive verändern.
Sie müssen folglich genau beobachtet und sollten keinesfalls in der heutigen Staatenwelt strategisch unterschätzt werden – weder wirtschaftlich noch politisch noch militärisch. Die politisch-strategische Blindheit gegenüber einer „Welt ohne Kompass“ (siehe den Blog vom 25. Juni) ist groß.
UN-Generalsekretär Guterres, der auf der Bürgenstock-Konferenz gefehlt hatte, ist in Astana sozusagen als ‚Hinterbänkler‘ anwesend. Er verschwindet fast im Rund des riesigen Konferenztisches. Guterres beklagt die „Straflosigkeit“ in Kriegen, in der Ukraine wie in Gaza, wo es im Juli noch immer zu Luftangriffen auf Flüchtlingslager kommt. Er wirbt für die Einhaltung des Völkerrechts so wie China für „positive Energien“ bei den Großmächten, ähnlich wirkungslos.
Putin hingegen spricht von einer „strategischen, allumfassenden Partnerschaft mit China“, die er ausbauen will, zum Beispiel auch über Nordkorea, was wiederum zu einer Konkurrenz mit Südkorea führt, das eine eigene Atombombe entwickeln will.
Nordkorea warnt vor „katastrophischen Entwicklungen“. Hier bildet sich ein ernsthafter neuer Gegenpol mit den USA, Japan und der Seemacht Australien, eine Art neue NATO im Pazifik, wohin sich die Gewichte der Prosperität und des Militärs verschieben. Japan und die Philippinen unterzeichnen gerade ein Verteidigungsabkommen.
Zeit für Kompromisse?
Wenige Wochen nach dem Friedensgipfel in der Schweiz der „Schafhirten“ (Medwedew) und kurz vor dem dreitägigen Washingtoner NATO-Gipfel stellen Analysten einen Wechsel in der Friedensrhetorik Selenskis fest (Zeit online, 3. Juli). Wird ein neuer Friedensplan vorgelegt, um den ewigen Krieg abzukürzen?
Wächst der Wunsch und der Druck (Mobilisierungsgesetz) der Bevölkerung oder will man weiterhin bis zum „letzten Ukrainer“ kämpfen? Der Westen tut zu wenig, um deutlich zu machen, dass Russland keine Chancen hat, sein Kriegsziel zu erreichen: „Aktivismus statt Substanz“ (NZZ, 25. Juni, S.15).
Erstens will man nicht, dass die Ukraine als Nation untergeht.
Zweitens will man Sicherheitsgarantien gegen einen wiederholten russischen Angriff, das heißt: die Perspektive des NATO-Beitritts, wofür unterschiedliche Daten angegeben werden (Stoltenberg zum Beispiel spricht von „so schnell wie möglich „; USA und Deutschland zögern).
Drittens will und braucht man eine Wiedergutmachung, zum Beispiel die eingefrorenen russischen Vermögen, 300 Milliarden Dollar, in Europa.
Sieg im Krieg gegen Russland wurde bisher definiert als Wiederherstellung der Grenzen von 1991. Auch Putin spricht in Astana von Friedensverhandlungen, zu denen er angeblich von Anfang an bereit gewesen sei. Allerdings unter Berücksichtigung der „neuen Realitäten“, das heißt: mit den annektierten Gebieten der ‚Volksrepubliken‘ Luhansk, Donezk, Saporischja und Cherson. Sowie ohne NATO-Beitritt und mit Auswechslung der Regierung Selenski, die Putin als nicht-legitimen Verhandlungspartner betrachtet.
Man erkennt: Bevor es zu Verhandlungen kommen kann, müssten erst einige Zwischenschritte getan werden – nach dem Modell des Getreidedeals, mit wem als Vermittler? Türkei, Saudi-Arabien, China, Ungarn? Oder kann es nur die USA nach den Wahlen im November sein?
Das würde bedeuten, das nach wie vor gilt:
nulla salus extra pacem americanam. Das heißt wiederum und wiederholt:
die neue Weltordnung ist die alte Weltordnung.
Schön wäre es für den Westen.
Die erbittertsten Kämpfe toben nach wie vor im Donbass, wo es um jedes Dorf geht. Die annektierten Gebiete sind militärisch und politisch nicht völlig in russischer Hand. Putin will deshalb keine Verhandlungen, sondern die volle Kontrolle. Wir befinden uns hier buchstäblich in derselben Sackgasse, wie seit Ende September 2022, dem politisch fanatischsten Moment des Krieges, der die Perspektiven verändert hat.
Schwer vorstellbar, dass die Fußball EM 2012 in der Donbass-Arena des berühmten Fußballklub Schachtar-Donezk stattfand. Was ist von der Industriestadt Donezk noch übrig? Wie lebt man miteinander? Wie wird man hier je eine politische Lösung finden, die nicht wieder zum Partisanenkrieg führt?
Die Krim ist dank weitreichender westlicher Waffen schwer unter Beschuss. Die einst berühmte Schwarzmeerflotte hat sich zurückgezogen, und die Offensive gegen Charkiv scheint zu stocken. Dazu kommen empfindliche Schläge gegen Stützpunkte und Fabriken im russischen Hinterland.
Der Zerstörungskrieg hat an Intensität keineswegs nachgelassen, sondern zugenommen. Eine weitere Verschärfung wird noch erwartet. Die lange ostukrainische Front ist aus den bekannten Gründen nach wie vor prekär, während die Westukraine wie in einer anderen Welt lebt (scheinbar ganz normales Leben ?!).
Der Militärökonom Keupp von der ETH Zürich schätzt, dass Putin bald die Waffenlager ausgehen, er steht vor einem ähnlichen Problem „wie einst Hitler“ (ntv, 29.6.). Russland lebe von den (sowjetischen) Reserven, so die Annahme: „Die Zeit laufe folglich gegen Russland“.
Bisher wurde immer das Gegenteil prognostiziert, auch um der notwendigen Zeitdramatisierung willen im verbissenen Kampfgeschehen. Argumente mit der Zeit sind interessant, aber stets mit großen Unwägbarkeiten behaftet, zum Beispiel könnten vorher der Ukraine die Soldaten ausgehen, China könnte Rüstungsgüter in großen Mengen produzieren, zudem gibt es noch Waffenlager in Belarus, Nordkorea und anderswo.
Erschöpfungskrieg?
Am 9. Juli beginnt der Jubiläums-NATO-Gipfel (75 Jahre!) in Washington DC. Tags zuvor herrscht Luftalarm in der ganzen Ukraine, mit schwersten russischen Angriffen seit Beginn des Krieges, auch auf Kiew, einschließlich des größten Kinderkrankenhauses, mit Marschflugkörpern und Hyperschallraketen.
Die Botschaft am Tag 866 ist eindeutig: Russland beharrt auf seinem Diktatfrieden ohne Kompromisse. Will Putin beweisen, dass er weiterhin die ganze Ukraine angreifen kann? Was setzen die Demokraten in einer Führungskrise(Biden, Macron, Scholz) den auftrumpfenden Autokraten entgegen?
Siegt am Ende der “ Postheroismus“? (Edward Luttwak, NZZ, 8. Juli, S.13). Für den amerikanischen Militärhistoriker gibt es zwei Ausgangspunkte für seinen Begriff der „postheroischen Kriegsführung„, den er vor dreißig Jahren geprägt hat: seit Clintons Rückzug aus Somalia und dem sowjetischen Rückzug aus Afghanistan. Die russischen Mütter hatten damals erfolgreich darauf gedrängt, wie sie auch bestens wussten, wie sehr die jungen Rekruten in den Kasernen schikaniert worden sind.
Putin hat seine Verbände 2022 nicht voll mobilisiert, da er den Zorn der Mütter fürchtete, so Luttwak. Zugleich schränkt der ‚Postheroismus‘ die militärische Unterstützung des Westens erheblich ein. Ähnliches zeichnet sich im Roten Meer ab, scheinbar weit weg von den europäischen Ländern (Luttwak a.a.O.).
Nur die amerikanische und britische Marine zeigten eine echte militärische Reaktion gegen die Huthi-Rebellen und ihre terroristische Störung des internationalen Schiffsverkehrs. Italien zum Beispiel, darauf angewiesen, entsandte nur ein einziges Schiff, ebenso Deutschland: die einsame Fregatte Hessen. Dasselbe gilt für die Flugwaffe der NATO mit ihren Einsätzen im Jemen. Die Frage stellt sich: Weshalb bei höheren Bevölkerungszahlen die Opferbereitschaft sinkt.
Luttwak bringt das postheroische Syndrom in einen Zusammenhang mit demographischen Entwicklungen (auch in China und Iran, als Ausnahme sieht er Israel). Wir wollen und können das hier nicht weiter diskutieren, auch die propagandistische Familienpolitik in Russland. Sicherlich wären auch noch andere Faktoren der Erklärung zu berücksichtigen, nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und den Freiheits- und Toleranzgewinnen der Wohlstandsgesellschaften für die meisten.
Provokativ ist Luttwaks Schlussthese: „Die Streitkräfte Europas sind vor allem damit beschäftigt, die Illusion von Wehrtüchtigkeit aufrechtzuerhalten, während echte Kampfbereitschaft nur noch in seltenen Fällen anzutreffen ist (…)“.
Ob auch Ähnliches für die Gegner des liberalen Westens gilt, wollen wir hier offenlassen. Wir erinnern uns aber an zwei fanatische Sätze von Putin, die kein Bluff waren: „Russland ist auf dem Schlachtfeld nicht zu besiegen“ und „Der Westen weiß nicht mehr, was Krieg ist“. Damit hat er zurecht erschreckt.
Andererseits wissen wir jetzt auch, die wir den Ukraine-Krieg verfolgt haben, dass es den Mythos der Roten Armee nicht mehr gibt. Und dass eine glaubwürdige Abschreckung europäischer Länder, in Koordination mit dem Herkules NATO, möglich und erfolgreich ist.
Nicht Heroismus, sondern militärische und zivile Verteidigungsfähigkeit demokratischer Nationen ohne Panik und falsche Rhetorik sind dafür nötig. Finnland, Schweden, die baltischen Staaten und Polen sind gute Beispiele.
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