In ‚woke-nahen‘ Diskursen wird die Gegenwart, unsere Zeitgenossenschaft, oft als schuldverstrickte Fortsetzung der Vergangenheit erzählt: kolonial, patriarchal, rassistisch, westlich, strukturell überwältigt.
Diese Diagnose ist nicht falsch, aber ihre Totalisierung ist es. Denn sie impliziert: alles, was heute geschieht, ist epigenetisches Erbe, Reden und Handeln sind durch ihre Herkunft per se verunreinigt.
Diese Kritik – teilweise scharfsinnig – setzt in ihrer Universalisierung des Verdachts auf eine durchaus problematische (gnostische) Reinheit durch Entlarvung. Damit verkürzt sie das, was politisches Denken braucht: nämlich die Urteilsfähigkeit, die in den heftigen politischen Auseinandersetzungen schwerfällt, aber auch besonders dringend wird, um der Entzivilisierung (Enthemmung und Gewalt) im Ansatz entgegentreten zu können.
Anthropologisch gesehen sind die „Menschen eher Herkunftswesen als Vernunftmaschinen“ (Marquard). Daran muss man anknüpfen können: „Zukunft braucht Herkunft“ (2003).
Erfahrungen und Erwartungen
Wach und aufmerksam bleiben für Macht, Ungleichheit und Geschichte bedeutet nicht, wachsam sein im Sinne polizeilicher Sprache und Verhaltens, beispielsweise als ‚Sprachpolizei‘, welche die offene und spontane Meinungsfreiheit von vielen behindert und zensuriert. Das ist für die Demokratie auch eine eminent soziale Frage, die mitentscheidend ist für die verbreitete Politiker- und Parteienverdrossenheit, die größer und tiefer wird.
Einer breiten (und nicht elitären) Philosophie und Kultur der Nachdenklichkeit, die keine Frage ausgefeilter Sprache und Verbalisierung ist, wird so kein Raum und keine Zeit mehr gewährt, oft unabsichtlich und unbemerkt. Miteinander-Reden muss man aber können, nicht nur übereinander – mit dem Rücken gegeneinander. Nur so gewinnt selbstbewusste Demokratie an Boden.
Stattdessen dominieren Parolen des permanenten Aktivismus, bzw. eine bestimmte selektive Sprache. Bei anderen fällt uns das auf, bei uns selbst nicht mehr, so sehr sind wir borniert Getriebene.
Man könnte sagen, dass der Mensch nicht so aus der Geschichte heraus lebt wie ein Organismus aus seiner Umwelt. Ernst des Lebens ist es, ständig zwischen Vergangenem, Gegenwärtigem und Kommendem übersetzen zu müssen. Denn was bedeuten ‚Erfahrungen‘ und was bedeuten ‚Erwartungen‘?
Erfahrung ist ein scheinbar einfaches und grundlegendes Wort, auch für die Philosophie, aber erstaunlich wenig geklärt und reflektiert. Siehe zum Beispiel Helmuth Holzhey Kants Erfahrungsbegriff, Basel 1970. Bevor Holzhey gründlich auf das kantische Denken ab 1770 eingeht, beleuchtet er Aristoteles als Stammvater der Erfahrungsauslegung, von der die politische Klugheit heute viel lernen könnte.
Zum spezifischen Hintergrund der kantischen Erfahrungsauslegung gehören sodann Leibniz, Locke, Newton und Wolff. Wichtig für die Erfahrungserkenntnis im 18. Jahrhundert wird schließlich der Schotte David Hume, der Kant aus seinem dogmatischen Schlummer weckte, wie er selbst einräumte.
Erfahrung heißt, dass etwas für uns Bedeutung bekommen hat. Individuelle Erfahrungen sind dabei so wichtig wie historische Erfahrungen. In der politischen Theorie sind sie ein Argument, in der Wissenschaft wird daraus methodisch erzeugte Empirie. Der Empirismus ist eine eigene Philosophie und Wissenschaftstheorie, auf die wir hier jedoch nicht eingehen können.
Erwartungen sind etwas anderes als Hoffnungen. Sie bedeuten Orientierung in einer prinzipiell offenen Zukunft. Als Orientierungswaisen brauchen wir sie, sie können aber auch – heute leicht, denn sie sind normalerweise groß – enttäuscht werden.
Luhmann unterscheidet normative und kognitive Erwartungen, die weniger enttäuschungsfest sind. Das wiederum ist das Problem von Normen, die verbindlicher als Werte und Tugenden auftreten und eine gewisse Stabilität im Politischen gewährleisten sollten (Rechtsnormen und Verfassungen beispielsweise).
Wir erwarten, was wir noch nicht wissen, und greifen dabei auf Erfahrungen zurück. Der Zusammenhang von Erfahrung und Erwartung ist grundlegend in einem geschichtlichen Leben, individuell wie kollektiv, wirtschaftlich wie politisch.
Wer bin ich – in welcher Geschichte?
Charles Taylor hat es prägnant formuliert: Wir verstehen uns selbst narrativ (Quellen des Selbst 2012). Geschichte und Geschichten sind das Medium, in dem wir uns selbst verorten, primär zeitlich, aber auch räumlich. Geschichten haben einen Ort.
Identität ist geschichtsabhängig, und die Geschichte steht im Zentrum von Sinn und Kontingenz. Beides sind grundlegende Kategorien menschlicher Existenz, die der Essenz vorausgeht.
An dieser Stelle treten zwei deutsche Philosophen auf den Plan: Wilhelm Schapp und Odo Marquard. Bei Schapp, dem Phänomenologen, hat der Mensch nicht nur eine Geschichte, sondern ist in „Geschichten verstrickt“ (1953). Das Ich ist als Knotenpunkt von Geschichten der Austragungsort von Widersprüchen und Konflikten. Das Individuum scheitert oder es wird stärker.
Das passt zur deutschen Vergangenheitsbewältigung, zur unversöhnten Unschuld wie zu den Schwierigkeiten, angemessen politische (Vergleichs-) Urteile für die Gegenwart abzuleiten, was zu Überdramatisierungen in der Beschreibung der politischen Lage führt, die Wahrnehmung und Urteilsvermögen trüben (siehe den Blog „Zerrbilder“ vom 4. Februar 2024, auch in : Gedankensplitter lV 2025, S.413ff; vor dem Blog „Das blaue Wunder“).
Das heißt: wir sind immer schon Teil von Erzählungen, die wir weder begonnen haben noch intentional zu Ende führen. In diesem Gewebe behaupten und verstehen wir uns. Peter Bichsel bzw. der kleine Mann, für den er spricht, „behauptet sich erzählend“.
„Solange es noch Geschichten gibt, so lange gibt es noch Möglichkeiten“. Sie erzählen davon, dass das Leben auch anders sein könnte. Jeder hat das Recht, seine eigene Geschichte zu erzählen. Sie zeigt etwas, niedrigschwellig zwar, aber für alle zugänglich. Dafür muss sich das Individuum wehren können, und es benötigt Verteidiger. Weil Identität erzählbar ist, ist sie auch politisch gestaltbar.
Das ist das ethische Minimum an (politischer) Öffentlichkeit, das wir brauchen. Es gibt sie nicht genügend unter Ostdeutschen, zwischen West- und Ostdeutschen, Deutschen und Polen, obwohl die geographische Nähe die Indifferenz mindert. Sie leben weitgehend mit den Rücken zueinander.
Aufklärung über Geschichte – Philosophie und historische Forschung
Poppers Philosophie der „offenen Gesellschaft“ – oft zitiert, selten gelesen – will den Menschen aus dem Griff der Geschichtsgesetze befreien (2 Bde., Bern 1957/58 ). Sein Buch „Das Elend des Historizismus“ (Tübingen 1965) widmet er den unzähligen Opfern des Totalitarismus, den „Veilchen am Rande“ des „großen Plans“ der Geschichte, den Theoretiker zum Wohle des kleinen Manns entwarfen, und die deshalb immer noch als ‚große Philosophen‘ gelten – Platon, Hegel, Marx.
Historismus und historisierte Vergangenheiten indes darf man nicht mit Historizismus verwechseln. Der Historismus ist theoretisch und moralisch-politisch bescheidener.
Lübbes Buch „Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse“ (Basel 1977) ist eine Apologie des Historismus und ein Stück historistische Aufklärung über Geschichte. Siehe hierzu auch Herbert Schnädelbach: Geschichtsphilosophie nach Hegel (Freiburg 1974).
Nicht erst durch Reflexion, sondern durch unsere bloße Existenz sind wir mit der Zeit verwoben. Geschichte ist kein Gegenstand, sondern ein Medium. Wie können wir dann noch frei sein, wenn niemand frei ist von Geschichte(n)?
Hier betritt Odo Marquard die Bühne, der für die kontingente Identität plädiert genauso wie sein Philosophenfreund Hermann Lübbe mit seiner Philosophie der Theorieunfähigkeit historischer Prozesse. Beide richten sich politisch gegen den Marxismus (-Leninismus) mit seiner Theorie der Geschichte (Histomat/Diamat).
Diese dient der politischen Legitimation von Progressivität vom Kapitalismus zum Sozialismus und zum Kommunismus. Dagegen steht die liberale Freiheit anstatt verordneter Zwangs-Emanzipation. Die Freiheit ist dabei unendlich wichtiger als alles andere, das auch wichtig sein kann. Sozialpolitik ist nicht ausgeschlossen.
Marquard sieht den Menschen anthropologisch weder als Produkt seiner Bedingungen noch als radikal freies Projekt, gewissermaßen steht er zwischen der damaligen Auseinandersetzung von Sartres Existenzialismus mit dem Marxismus (1977). Marquard hat sich mit dem Existenzialismus – lesenswert, da es sich um eine Vorlesung handelt – auseinandergesetzt (Der Einzelne, Reclam 2013).
Je weniger die Geschichtsphilosophie als Fortschrittsorientierung zum Zuge kommt – sei es aus Enttäuschung, Skepsis oder Einsicht (Fortschrittsnebenfolgen und Steuerungsprobleme der modernen Gesellschaft) – , desto mehr spielt die Anthropologie als Beschreibung des Menschen eine fundamentale Rolle.
Bei Marquard, der die philosophische Anthropologie insbesondere von Helmuth Plessner (Gesammelte Schriften, 10 Bde. 2003) rezipiert, ist dies am deutlichsten. Lübbe, der sich eher an Gehlen und Schelsky orientiert, entwickelt über längere Zeit eine eigene Kulturphilosophie des Fortschritts (Zivilisationsdynamik: ernüchterter Fortschritt, politisch und kulturell, Basel 2014).
Der Mensch ist ein Wesen, das mit kontingenter Herkunft umgehen muss – erinnernd, erzählend und widersprechend/widersprüchlich. Kontingente Identität/Freiheit anerkennt, woher sie kommt, lässt sich darauf aber nicht reduzieren (Herkunft und Zukunft). Das ist der Schritt von der „exzentrischen Positionalität“ des Menschen (Plessner) zur historischen Selbstverortung mit ihren politischen Implikationen.
Mensch ist frei in der zweiten deutschen Demokratie und macht als Bürger/in etwas daraus: das heißt ‚Bürgerlichkeit‘. Darin steckt die ganze politische Philosophie, die ein engagiertes Denken in der Zeit ist.
Philosophie der Bürgerlichkeit bedeutet auch aus liberal-bürgerlichen Gründen keine weitere philosophische Elaboration weder von Existenzialismus noch Marxismus oder Kritische Theorie. Man lernt eher von Raymon Aron als von Jean-Paul Sartre, der gegenüber den Realitäten des Kommunismus blind war.
Hier kommt dann eine Philosophie der Geschichte ins Spiel, die Maß und Urteil kennt und damit auch politische Verantwortung, die nicht an die große Geschichte, sondern an die Parteiendemokratie und ihre Institutionen delegiert wird. Man bewegt, was man auf seiner Stelle/Funktion bewegen kann, engagiert, aber nicht überengagiert.
In einer Zeit, in der Identität eingefordert und essentialisiert wird, ist die Reflexion von Geschichte zentral. Sie ist weder beliebig noch determiniert. Deshalb beginnt jede politische Theorie, die ernsthaft über Geschichte nachdenkt, nicht beim Staat, sondern beim Individuum und dessen Geschichten.
Nur so kann man den Feinden der offenen und freien Gesellschaft begegnen, die identitär auf die Zerstörung des liberalen Individuums abzielen – ethnisch und politisch (Dugin). Die neue Neue Rechte ist weltweit identitär, was vermeintlich Halt gibt, aber in Wirklichkeit das Individuum in größeren kämpfenden Einheiten autoritär fixiert und vernichtet. Die politischen Regime und ihre Kriege sind entsprechend. Man möchte nicht die russische oder chinesische Staatsbürgerschaft.
Wie können wir uns im Ungewissen und Unsicheren noch orientieren?
Der Mensch lebt nicht einfach in der Zeit, sondern genauer: zwischen den Zeiten, wenn wir hier die Geschichtstheorie von Reinhart Koselleck aufnehmen (Vergangene Zukunft 1979). Er macht alle politische Sprache zur Zeitdiagnostik.
Wer verstehen will, wie Gesellschaft sich selbst versteht, muss ihre Begriffe kennen und studieren. In seinen „Begriffsgeschichten“ (2008) zeigt Koselleck, wie sie sich in der Moderne verselbständigen, sie werden abstrakter und dynamischer. Es sind keine festen Ideen oder Ideologien mehr, sondern Träger von Zukunftserwartungen. Sie spiegeln die Geschichte in ihrer Unverfügbarkeit.
Koselleck lehrt uns, dass Geschichte nicht nur eine Abfolge von Ereignissen ist, sondern eine von Zeitverhältnissen selbst. Die Moderne lebt von einem Zeitregime, das als ihr Haupt-(Orientierungs-) Problem gelten kann, so Luhmann.
Er sagt dies im Vergleich zu den sozialen und sachlichen Problemdimensionen, die es weiterhin gibt. Die Überforderung erfolgt hingegen in der Moderne vor allem von der beschleunigten Zeitdimension her. Man muss anschlussfähig bleiben, dafür hat das ‚System der Pädagogik‘ zu sorgen (Luhmann).
Die Geschichte der Geschichte ist eine Geschichte der Zeit. Daraus hat Lübbe eine empiriegesättigte Zeitdiagnose mit ihren Orientierungen hinsichtlich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entwickelt (Im Zug der Zeit, Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart, 1991).
Daraus sind die sieben Begriffe zur Beschreibung moderner Zivilisationsdynamik geworden: Präzeption, Gegenwartsschrumpfung, Zukunftsexpansion, Reliktmengenwachstum, Evolutionäre Illaminarität, Netzverdichtung, Empirische Apokalyptik (Stuttgart 1996).
Die Zeit selbst steht unter Spannung. Bei Luhmann (abstrakter) und Lübbe (konkreter-phänomenologisch) finden wir kühle Selbstbeschreibungen dieses modernen Faktums menschlicher Existenz.
Für Luhmann gibt es nur Unterscheidungen, zum Beispiel zwischen Vergangenheit und Zukunft, als eine Voraussetzung, damit sich Gesellschaft historisch deuten kann. Geschichte ist nicht objektiv (etwa als Abfolge von Ereignissen), sondern funktional, indem sie Systemen hilft (der Politik, der Wissenschaft, dem Recht u.a.) Sinn zu stabilisieren und Orientierung zu geben in einer Welt, die grundsätzlich kontingent ist.
Sinn und Kommunikation sind zentrale Begriffe für soziale Systeme. Sinn bedeutet, eine Auswahl zu treffen unter vielen Möglichkeiten. Die Vergangenheit wird so zu einer selektiven Konstruktion.
Anschlussfähig ist sodann, was sich in Kommunikationszusammenhänge einfügen lässt. Das können nicht alle gleich gut, es gibt Verlierer, Abgehängte und Gewinner, die zu schneller und flexibler Anpassung fähig sind.
Funktionale Differenzierung ist das Kennzeichen der Moderne. Demzufolge existiert eine Vielzahl funktionaler Geschichten, die sich nur noch bedingt synchronisieren lässt.
Vor diesem Hintergrund gibt es keine einheitliche Geschichte mehr, sondern nur noch die Beobachtung zweiter Ordnung, die Beobachtung der Beobachtung.
Luhmanns Denken irritiert viele. Irritation ist jedoch der Anfang eigenen Nachdenkens. Hier fehlt die große Erzählung wie die große Lösung, die Moral wie die Kritik. Darin kann allerdings eine Stärke liegen, gerade in einer Zeit, in der alles mit Moral aufgeladen wird (Moralismus und Hypermoral) und die Geschichte für alle möglichen Zwecke instrumentalisiert wird.
Daran fehlt es nicht, Heerscharen von Akademikern helfen fleißig mit. Professionelle Philosophen, Berater, Coaches, Think Tanks und Institute hat es noch nie so viele gegeben. In der Verhaltenstherapie gibt es inzwischen sogar Biographieberatung.
Die funktionale Systemtheorie bietet keine Erzählung, weder eine positive noch eine negative. Sie bietet ein Instrumentarium, um zu verstehen, warum Erzählungen überhaupt entstehen, wie sie funktionieren und welche Funktionen sie erfüllen.
Das ist ein wichtiger Beitrag – gerade für politische Theorie, die versucht, Aufklärung mit Geschichte und Wirklichkeitssinn zu betreiben.
Bildnachweis: Heinz Kleger, Privatarchiv