Am 17. April, kurz vor Ostern, war es schon in der „Zeitung für Deutschland“ auf der ersten Seite gleich zu sehen und zu lesen: Siegfried Unseld, der bekannte Suhrkamp-Verleger, war Mitglied der NSDAP.
Diese Tatsache war bis vor Kurzem öffentlich unbekannt. Der Historiker Thomas Gruber hat sie vor einer Woche in der ‚Zeit‘ bekannt gemacht.
Mit 17 Jahren war Unseld der Partei Hitlers beigetreten als Sohn eines SA-Obersturmführers und einer Mutter, die in der NS-Frauenschaft engagiert war. Über die eigene Verführbarkeit und sein Engagement im Deutschen Jungvolk soll er oft berichtet haben, nicht aber über seine Mitgliedschaft in der Partei. Warum nicht?
Diskreditierend war dies, weil der erfolgreichste deutsche Nachkriegsverleger, der eine moralisch-politische „Neugründung der Bundesrepublik“ mit der ‚Suhrkamp-Kultur‘ und ihren vielfach anregenden Autoren in Literatur und Wissenschaft ermöglicht und mitorganisiert hatte, darüber geschwiegen hat. Wieso?
Die FAZ dokumentiert nun auf der ersten Seite seine digitalisierte Spruchkammerakte zur Entnazifizierung, in der er den Eintritt in die Partei 1946 angegeben hat. Was das bedeutet, erörtern Ulrike Anders und Jan Bürger vom Unseld-Archiv in Marbach: „Siegfried Unseld hat nicht geschwiegen“ (FAZ, 17. April, S.11).
Habermas sagte in einer ersten Stellungnahme, dass niemand in seinem Umkreis von der Parteimitgliedschaft gewusst hatte. Und er fügt hinzu: „Aber spielt der Umstand als solcher wirklich eine Rolle für die Beurteilung der Lebensleistung dieses Mannes?“ (Theorie und Praxis, in: FAZ, 12. April, S.9).
Und diese ist kaum zu überschätzen, gerade gegenüber den Verfolgten und Überlebenden. Seine Aufbauarbeit für den Suhrkamp-Verlag war unermüdlich und innovativ, 1990 hat er den Jüdischen Verlag integriert.
Habermas stempelt Unseld nicht zu einem „Fall Unseld“ vor dem Gefühls- und Moraltribunal, sondern behandelt ihn als einen allgemeinen normalen Fall.
„Er bringt ein Muster nachvollziehbaren Verhaltens in Anschlag“, so Patrick Bahners in der FAZ unter dem Titel ‚Theorieund Praxis‘, so auch der Titel einer bekannten Aufsatzsammlung von Habermas mit sozialphilosophischen Aufsätzen, 1. Auflage 1963, und einem aufschlussreichen Vorwort für die Nach-68er-Zeit über „Einige Schwierigkeiten beim Versuch, Theorie und Praxis zu vermitteln“ für die Neuauflage bei Suhrkamp 1971.
Der Schlusssatz lautet: „in einem Aufklärungsprozess gibt es nur Beteiligte“ (S.45). Das war gegen selbst ernannte Parteien der Zukunft in der Gegenwart gesprochen. Dafür benötigte man besondere Avantgarde-Theorien der politischen Anmaßung, zu der Habermas mit seiner Theorie des kommunikativen Handelns (1981) nicht beisteuern wollte.
Stattdessen ist aufgeklärter demokratischer Common sense möglich und nötig.
Aufgeklärt heißt auch historische Aufklärung, die von der Zeitgeschichte gelernt hat, was bedeutet, in der Praxis und im Denken vorzeigbare Konsequenzen gezogen zu haben.
„Niemand wusste von Unselds Parteimitgliedschaft – also musste nicht darüber gesprochen werden“ (Bahners a.a.O.). Das erinnert an Lübbes Modell für den Umgang mit Kollegen im akademischen Bereich: „kommunikatives Beschweigen“.
Lübbe stellte in seinem berühmten Vortrag zum 50. Jahrestag der Machtergreifung Hitlers 1983 im Reichstag die These auf: dass der demokratische Neuanfang durch ein kommunikatives Beschweigen individueller Belastungen möglich gewesen sei, weil kein Enthüllungsbedarf in kollegialen Kreisen bestand. Er verstand diese These als funktionalistische Beschreibung aus eigener Erfahrung.
Man wusste von der Parteimitgliedschaft der Ex-Nazis, so Lübbe, also musste darüber nicht gesprochen werden. Dies interpretierte die Kritik, die sofort heftig wurde, als moralisches Plädoyer für fortgesetztes Beschweigen und Verdrängen sowie als Kleinreden des Nationalsozialismus.
Für Habermas, der 1986 den sogenannten „Historikerstreit“ auslöste, beginnt die fatale geschichtspolitische Phase der „Entsorgung der Vergangenheit“ 1983 genau mit den Thesen von Lübbe. Er sieht in ihnen eine „Entwertung des Aufklärungseifers der Achtundsechziger“, zu denen sich der Autor in den 80er Jahren auch zählte. Damals nahm ich für Habermas gegen Lübbe Partei.
Habermas begann seine wirkungsvolle Publizistik ebenfalls bei der ‚Zeitung für Deutschland‘, in der sich diese Debatte mit initialen Artikeln (Nolte, Fest u.a.) bis heute abspielt, 1953 mit einer Aufsehen erregenden Rezension von Martin Heideggers Vorlesungen von 1935. Er zeigte sich darüber entsetzt, dass dieser große Philosoph nicht mit einem Satz auf seinen politischen Irrtum zu sprechen kam.
Darüber muss man sich allerdings wundern, denn Heidegger, geboren 1889, war 1933, als „der Führer auch geistig führen sollte“, 44 Jahre alt und hatte „Sein und Zeit“ (1927) geschrieben. Es handelt sich also mitnichten um die Jugendsünde eines 17-jährigen Abiturienten.
Aber Heidegger war „politisch dumm“, so das Urteil von Hannah Arendt, seiner bewundernden Schülerin, die, ob so viel politischer Dummheit, in der Folge eine der wichtigsten politischen Theoretikerinnen des 20. Jahrhunderts geworden ist.
Arendt heiratete Ende der Zwanzigerjahre in Nowawes den Heidegger-Schüler Günther Stern aus Breslau, der später in die USA emigrierte und als Technikphilosoph (‚Die Antiquiertheit des Menschen‘ 1956) berühmt sowie als unermüdlicher Warner vor der Apokalypsenblindheit Vordenker der Friedens- und Ökologiebewegung bekannt wurde.
Seit 2021 erinnert eine Tafel am Haus der Merkurstraße 3 in Babelsberg daran, dass sie dort – vermutlich in einer privat glücklichen und produktiven Zeit mit Stern – zur Untermiete gewohnt hat. Die Adresse erfuhr man zufällig aus einem Brief von Heidegger.
Bahners (FAZ, 12. April) interpretiert meines Erachtens Habermas treffend, wenn er bei seinem heutigen Wissen einen solchen Satz bei Unseld (wie ehedem bei Heidegger) nicht vermisst, dass er damit den Standpunkt übernimmt, den Lübbe 1983 als „Common sense“ verteidigte.
Das heißt: „Die Abkehr vom Nationalsozialismus erfolgte in der Praxis, weil sie sich moralisch von selbst verstand.“ Deshalb der ebenso treffende Titel von Bahners „Theorie und Praxis“.
Siehe dazu auch: Lübbe, Vom Parteigenossen zum Bundesbürger. Über beschwiegene und historisierte Vergangenheiten, München 2007. Historische Aufklärung muss man sich leisten können, sie erfordert gewisse philosophische und institutionelle Bedingungen für historische Forschung im Sinne einer aufklärenden historischen Selbstverortung einer Gesellschaft, die wiederum die kritische Öffentlichkeit speist und damit die Einstellung von Vielen verändert.
Es geht also um die politische Vernunft des Common Sense im Umgang mit Geschichte. Das ist die praktische und zugleich die metatheoretische Frage in diesem Philosophenstreit. Arendt behauptete, dass den Deutschen der gesunde Menschenverstand abgehe. Sie verstand das gleichermaßen philosophisch und praktisch-politisch.
In ihrer Genese totaler Herrschaft leitet sie als Nach-Forscherin weitausholend und tiefgründig her, wie es dazu kommen konnte – durch den Siegeszug der Großideologie mit ihrem neuen Gott der Geschichte. Die entwurzelte Masse brauchte den Führer, und der Führer die subjektlose Masse. Die Öffentlichkeit als Bedingung und Faktor öffentlicher Vernunft verschwindet allmählich, wenn sich der Einzelne nicht mehr zu exponieren wagt – mit einem eigenen Urteil.
Der aufgeklärte demokratische Common sense bildet mithin den Konsens einer funktionierenden Demokratie. Lange konnte er in Deutschland nicht einmal ausgesprochen werden, auch von Habermas nicht, weil er mit „braunem gesunden Menschenverstand“ gleichgesetzt wurde, der nicht ‚gesund’, sondern im Gegenteil ‚krank‘ und unter dem Einfluss der totalitären Ideologie buchstäblich wahn-sinnig wurde.
Wie konnte es dazu kommen? Das ist die Frage, die Arendt, Habermas, Lübbe und viele andere gleichermaßen umtrieb und noch heute umtreibt.
An der Entwicklung der aktiven liberalen Öffentlichkeit nach 1945 haben sie alle kontrovers teilgenommen (Arendt, Dahrendorf, Habermas, Lübbe, Schelsky u.v.a.). und sie mitentwickelt. Verleger spielten dabei auch eine Rolle (Bucerius Augstein, Unseld u.a.). Vor harten grundsätzlichen Auseinandersetzungen sind sie nicht zurückgewichen.
Der gesunde Menschenverstand ist im Deutschen verdächtig.
Das gehört zur Hypothek der deutschen Geschichte und der zwölf Jahre von 1933 bis 1945 bis heute.
Aber der Common sense ist nicht fix und fällt nicht vom Wertehimmel, sondern bildet sich historisch – politisch konfliktiv und wird in Krisensituationen immer wieder neu herausgefordert. Stehen wir heute wieder vor einem „1933 nie wieder“, weil die AfD stärkste Oppositionspartei geworden ist?
Sie hätte „die Lehren von 1933 bis 1945 nicht richtig gezogen“, sie wird in Teilen vom Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextremistisch eingeschätzt“ und gegen sie gibt es eine „Brandmauer“ der „Parteien der demokratischen Mitte“, die allerdings in der Realität auf kommunaler Ebene, zumindest in Ostdeutschland nicht existiert. Die regierende CDU schließt deshalb auf Bundesebene eine Minderheitenregierung ebenso aus wie eine Mitte-Rechts-Regierung.
In anderen Ländern, wie jüngst Finnland, das seit je mit der längsten Grenze zu Russland lebt, kann man die Rechtsnationalisten auch ohne Brandmauer bekämpfen und besiegen. Italien steht noch trotz und wegen Meloni.
In Deutschland jedoch wird der Umgang bzw. Nicht-Umgang mit der AfD schon zum Streitfall für die neue Regierung, bevor sie im Mai beginnt. Viele Politiker, Politologen und Kommentatoren sprechen seit Langem lediglich wie Verfassungsschützer und Verfassungsrichter. Und Professoren meinen in einer verfassungsdemokratischen Bürgergesellschaft das Verfassungsgericht ersetzen zu müssen, das allein ein Parteiverbot aussprechen kann.
Das Beispiel strengt einmal mehr strittige Aufklärung in der Sache als Prozess an, der nur Beteiligte kennt. Dazu gehören auch grundsätzliche und persönlich zutiefst emotionalisierte Kontroversen unter Beteiligten:
Wie zum Beispiel: Habermas, Jahrgang 1929, und Lübbe, Jahrgang 1926, in ihrem Streit um die Position der Aufklärung in den 60er und 70er Jahren. Und hier kommt es sogar auf Jahrgänge, nicht nur auf Generationen an. Siehe das Buch: Jahrgang 1926/27, DuMont (Hg.), Mit 27 Autoren, 3. Auflage 2007.
Zu den Hochzeiten der Studentenbewegung steigerte sich diese Diskussion sogar zu einem regelrechten Streit zwischen Aufklärung gegen Gegenaufklärung, die man sich wechselseitig unterstellte, obwohl beide Seiten zur Bundesrepublik Deutschland gehörten und sie prägten, die einen mehr affirmativ, die anderen mehr kritisch-negativ, um mit Hegels Begriffen zu sprechen.
Es war also nicht nur eine Kontroverse über ein Thema, sondern ein konträrer theoretischer Gegensatz, der durch Kompromisse nicht zu schlichten war. Wobei Kompromiss hier ohnehin die falsche Kategorie ist, im Unterschied zum Bereich der Parteienpolitik. Eher geht es an Hochschulen um Verständnis für die andere Seite oder das Minimalprogramm der Toleranz: Audiatur et altera pars.
In der Praxis ‚Diskurs und Dezision‘, wobei das ‚und‘ zu betonen ist; in der theoretischen Auseinandersetzung zwischen Theorien: „Diskurstheorie“ versus „Demokratischer Dezisionismus und Common sense“ als Antithesen (vgl. Kleger/Kohler, Diskurs und Dezision, Wien 1990), über die man zu neuen Einsichten kommt.
Die reale Welt mit ihren Zwischentönen lässt sich nicht so einfach einteilen und etikettieren, wie man oft erst im Nachhinein und aus analytischer Distanz erkennt. Daraus lässt sich nach durchgestandenen Konflikten etwas für heute lernen (immer wieder) bei allen Fehlern und Übertreibungen, zu denen politische Polemik neigt.
Aus zeitlicher und theoretischer Distanz kann man objektiver sehen. Diese wahrhaftigen Analysen im Nachhinein können lehrreich sein, gerade für die Verteidigung liberaler Demokratie heute, in der man vor heftigen Kontroversen ausweicht: bis hin zu Ausgrenzung statt Abgrenzung, selbst in der förmlichen parlamentarischen Praxis. So macht man die Demokratie nicht glaubwürdiger und widerstandsfähiger.
Man wird so auch keine Wähler der AfD zurückholen, im Gegenteil. Durch diesen Konflikt selbstbewusster Demokraten hindurch kann die liberale Demokratie vielmehr gestärkt hervorgehen wie 1968 und 1989. Dadurch wird die AfD nicht verschwinden, aber das Gespenst des Faschismus.
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