Geschichte als Tribunal – Tribunal der Geschichte I

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Es gibt Zeiten, in denen moralischer Ernst in aggressive Rechthaberei kippt, wenn um jedes Wort eine Pseudo-Debatte geführt wird (‚Friedensdienst‘ statt ‚Wehrdienst‘, ‚Verteidigungsfähigkeit‘ statt ‚Kriegstüchtigkeit‘ usw.).

Als vor Jahren der „Westen am Hindukusch verteidigt wurde“, durfte in Deutschland nicht von Krieg gesprochen werden. So kann man sich die Wirklichkeit vom Leib halten, durch Wortkosmetik und Moralpolitik.

Geschichte als kritische Erinnerungskultur

Die schwierige ‚Verantwortung vor der Geschichte‘ wird dann zur rhetorischen Geste und die Erinnerungskultur zur moralischen Projektion.

Politische Theorie darf Geschichte nicht als Dogma verstehen, sondern sollte sie als unverzichtbare Ressource zur Reflexion nutzen. Die Erinnerungskultur gerade in Potsdam (wo es die Potsdamer Konferenz, die Garnisonkirche, den 8./9. Mai u.a. als prominente offizielle Beispiele gibt) ist im Alltag an kleine und konkrete Plätze gebunden, die von den Menschen vor Ort besonders gepflegt werden müssen.

So die rote Telefonzelle am Skaterplatz mit der „Bibliothek der verbrannten Bücher“ (siehe unser Bild). Vor kurzem war die informative Bücherliste besprüht: „linker Müll“. Die kleine, aufschlussreiche Bibliothek wird immer wieder beschmiert und verwüstet. Auch Stolpersteine, die von Schülern wirksam in den Geschichtsunterricht integriert werden können, werden mittlerweile mit bösen Sätzen beschriftet.

Das Denkmal des unbekannten Deserteurs am Platz der Einheit, die Erinnerung an die Todesmärsche durch Potsdam, der Hiroshima-Nagasaki-Platz u.a.. Alles Orte mitten in der Stadt, mit vielen kleinen Zeichen eines großen Kulturkampfes, der weltweit im Gange ist. 

Die Stadt ist zu lesen, alltäglich, und wir wüssten Bescheid.

Die vielen unerhörten Zeichen geben zu aktuellem Denken und Handeln mit Biss Anlass – generationen- und schichtenübergreifend. Das ist informative und anregende kritische Geschichte für alle in der Stadt, die historisch schon so Vieles an großer Geschichte erlebt und erlitten hat.

Durch Musealisierung, auch für den Tourismus, wird sie zu einem Museum.

Potsdam nach 1989 erfindet sich neu, wächst und mischt sich. Die vielfältige Stadtgesellschaft ist wieder erwacht und hat Stadtwenden durchlaufen: von den Bürgergruppen zur Bürgerkommune, mit den Zugezogenen und Zugewanderten zur Ost-West-Bürgerstadt, mit Glücksfällen und dauernden Problemfällen. 

Die Zeitgenossenschaft mit der Stadt ist voller Konflikte, an denen eine neue Bürgerschaft wächst oder scheitert.

Die Stadt mit mehreren neuen Museen ist dennoch kein Museum, sondern lebt von einer Vielfalt, die sich reibt, nicht nur an Architekturdebatten.

„Mayors for Peace“ ist eine transnationale Internationale Organisation von Städten, die sich für atomare Abrüstung einsetzt. 1982 ist sie vom Bürgermeister von Hiroshima gegründet worden. In Potsdam gibt es einen Gedenkstein vor dem Truman-Haus in Babelsberg. 

Präsident Truman hatte die Entscheidung zu den Atombombenabwürfen am 6. und 9. August im Verlauf der Potsdamer Konferenz getroffen. Hätte der Krieg nach dem 8. Mai geendet, hätte es auch Deutschland treffen können.

In Potsdam ist die Fahne der Bürgermeister bekannt, aber mehr wird daraus nicht.

Geschichte als Anklage

Ein Name, der wie ein Emblem über unseren Zeiten schwebt, wo Geschichte zur Waffe wird, ist: „Woke-ismus“. Was ist damit gemeint?

Sicher nicht das berechtigte Bemühen um Sensibilität gegenüber Diskriminierung, um Sichtbarkeit und historische Gerechtigkeit.

Was hier vielmehr kritisch zur Diskussion steht, ist eine Haltung, die diese berechtigten Anliegen in moralischen Absolutismus, historischen Reduktionismus und identitären Autoritarismus verkehrt.

Der Woke-ismus liebt die Geschichte bis zum Denkmalsturz, er liebt sie als Anklage und normatives Erinnerungs- und Bekenntnisritual, aber nicht als Frage. Geschichte als Argument dient hier primär als Verteilung von Schuld und Zuweisung von Opferstatus. Sie ist weniger Raum der Deutung als Gerichtssaal.

Geschichte als legitimierende Quelle für Gegenwartsurteile ist indessen ein problembeladener Umgang mit der Vergangenheit. Das hat der Historiker und Philosoph unter den Historikern Reinhart Koselleck als Theoretiker der Geschichte gelehrt.

Denn Geschichte hat keine geschlossene Bedeutung, die verfügbar ist. Sie ist vielmehr geprägt von Differenzen, die anzuerkennen sind: Erfahrung und Erwartung, die Geschichten jedes Einzelnen als Lebenserfahrung und Identität.

Das bedeutet nicht, dass man in den Differenzen stecken bleibt, man muss sie persönlich und öffentlich ausfechten, denn sie sind anfechtbar und werden gerade in einer pluralistischen Demokratie ausgetragen. Das würde einem historisch informierten Begriff von Gerechtigkeit Genüge tun, obwohl es ein anstrengender Prozess ist, der nie zu Ende geht.

Das ist auch eine Philosophie, die sich ihrer eigenen Zeitlichkeit bewusst ist und weiß, dass die Begriffe des Begreifens eine Geschichte haben. Während der Woke-ismus und heute die häufig oberflächliche politische Berufung auf Geschichte zwar von ihr sprechen, aber sie nicht denken. Sie klagen an, aber erklären nicht.

Viele glauben heute, dass Gerechtigkeit schon aus Benennung entsteht, dem korrekten Gebrauch der Wörter. Sie entsteht aber, wenn überhaupt, durch die mühsame Arbeit, Begriffe, Kontexte und Denkansätze ihrer Zeit gemäß zu rekonstruieren, so der Philosophiehistoriker Kurt Flasch, der dies mit seinen Büchern über Augustinus demonstriert hat.

Nicht um Geschichte zu rechtfertigen, sondern um verstehen zu können, worüber wir urteilen.

Ironischerweise beruft sich der Woke-ismus häufig auf Michel Foucault. Seine Diskursanalyse enthält eine Machtkritik als nietzscheanische Genealogie von Wahrheit und Diskurs. Doch was Foucault dekonstruiert hat, wird oft rekonstruiert in identitärer Umkehr. 

Das heißt: Wer einmal strukturell ausgeschlossen war (rassistisch, kolonialisiert), ist nun epistemisch privilegiert (die Erkenntnis betreffend). Gerade Foucaults originelle Machttheorie (die freilich den Begriff Macht inflationiert) hat indes vor einer solchen Umkehr gewarnt: denn Macht wirkt nicht nur durch Ausgrenzung und Gewalt, sondern auch durch die Wahrheit selbst und ihre Instanzen (Prüfungswesen, Klinik, Psychiatrie u.a.).

Diese Wahrheit bestimmt, was gesagt werden darf und was nicht, im Groben: Sein und Heißen, Golf von Amerika statt Golf von Mexiko; und subtil im Kleinen: in inflationären Bekenntnissen und unzähligen Beteiligungsrunden. 

Wer über Wahrheit bestimmen kann, übt Macht aus und nicht Kritik. Das ist Sprache als Medium der Macht, die auch in der gut gemeinten Beteiligungsdemokratie kritisch zu beachten ist.

Wenn die Geschichte zum Tribunal wird und der Tribunalismus, sich ständig rechtfertigen zu müssen, um sich greift, wird die Gegenwart zur Inszenierung von Moral, welche Geschichtsreflexion und Politik ersetzt. 

Die Sprache wird dafür gesäubert, die Begriffe aufgeladen und die Kategorien fixiert: in Schwarz und Weiß, Täter und Opfer, Privilegierte und Marginalisierte, Kolonisierte und Imperialisten.

Die weitgehend unbekannte Welt in Stücken und ohne Kompass wird so zum Drama mit eindeutig verteilten Rollen: Moralisierung und Mobilisierung durch Vereinfachung durch Polarisierung bestimmen sodann vielfach erfolgreich die heutigen politischen Auseinandersetzungen.

Sie unterhöhlen durch weitere bürgerkriegsähnliche Spaltung das Recht als Institution (Rule of Law) und bedrohen selbst etablierte Demokratien wie die USA. Nichts ist mehr sicher, nix ist fix. Die Diktaturen und Autokratien wachsen aus der Demokratie und ihren Krisen heraus, zumal wenn die westliche Führungsnation wirre und irre Wege geht.

Hannah Arendt hat dies als Zerstörung des Politischen und der dafür nötigen Pluralität erkannt. Bemühungen um politisches Handeln und politische Lösungen leben indessen von Zwischen- und Toleranzräumen. Diese müssen gewährleistet sein. 

Das alles erfordert und setzt gleichermaßen die Einübung in Urteilskraft von Vielen voraus. Das wiederum ist ein Urteilen ohne absolute Maßstäbe und ein politisches Denken „ohne Geländer“ – schwierige Wege, die zu gehen sind.

Bildnachweis: Privat Heinz Kleger