Die Alternative zum Pazifismus heißt nicht Bellizismus, obwohl wir gegenwärtig im Banne des Krieges, der sich in den letzten sieben Monaten gesteigert und erweitert hat, stehen, sondern Realpolitik, die den Frieden sucht und wehrfähig bleibt. Dies gilt im Großen wie im Kleinen.
Realpolitik ist, wie der Name sagt realistisch, aber nicht nur machtrealistisch. Andere Realien wie Geographie, Geschichte und Kultur sind ebenso zur Kenntnis zu nehmen. Realpolitik geht generell ins konkrete Detail und benutzt mehrere Quellen und Perspektiven, in die sie sich hineinversetzt. Sie benötigt ja ein möglichst realistisches Bild der Lage, um sozusagen die kluge Politik mit konkreter Urteilskraft zu versorgen, die den Meinungskämpfen oft abgeht.
Putins Krieg hat zu einer Remilitarisierung des Denkens und Handelns geführt (Blog vom 25.2. 22), die von der ‚Zeit des Krieges‘ (Blog vom 13.3.), bei der es in der Ukraine punkto Waffenlieferungen buchstäblich um jeden Tag ging, über die ‚Natoisierung‘ Europas (Blog vom 2.7.), die Rückkehr der USA nach Europa (siehe Blog: Biden in Polen und die ‚heilige Verpflichtung‘, 27.3.) bis zur Enttabuisierung des Atomkrieges erstreckt hat (siehe Blog: Weiterungen des Krieges, 4.10.22). Anfangs Oktober scheint alles möglich.
Das bedeutet einen tiefen Einschnitt in der Erfahrung der modernen urbanen Zivilisation, die infrage steht. Die Präliminarien des Überlebens sind neu zu verhandeln. Bei einer solchen ‚Krise‘, die mehr ist als das gängige Wort der Krise, inzwischen auch der multiplen Krise, suggeriert, verwundert es nicht, dass die Koordinaten der Orientierung durcheinander geraten und die begriffliche Verwirrung, insbesondere der politischen Sprache heillos wird.
Friedensuchende werden zu Kriegstreibern, Kriegstreiber zu Befreiern, Diktatoren zu Demokraten und Demokraten zu Volksverrätern und so weiter und so fort. „Herrschen ist einfach, regieren schwer“(Goethe). Demokratisches Regieren ist besonders schwer, Anteil daran haben nicht nur die Regierenden, der starke Staat ist auch unser Staat: die politisch-bürgerschaftlich-staatliche Verantwortung ist geteilt, insbesondere in Krisen- und Kriegszeiten.
Versuchen wir also in dieser aufgewühlten Situation wenigstens anständige Demokraten zu bleiben, die Demokratie nicht mit Diktatur verwechseln und den demokratischen Streit „mit weniger Wut und mehr Respekt“, „mit mehr Neugier und weniger Rechthaberei“ (Bärbel Bas) führen. Wir alle glauben vieles und wissen wenig.
Das gilt insbesondere für so grundlegende existentielle Fragen wie Krieg und Frieden. Kann man mit weiteren schweren Waffen den Frieden erreichen, auf welchen Krieg soll man sich einlassen, welchen muss man vermeiden, wie? Diese Fragen hängen gegenwärtig eng miteinander zusammen.
Das böse Wort der „Kapitulationspazifisten“ macht die Runde. Die Sanktionen gegen Russland werden infrage gestellt, ein Waffenstillstand soll verhandelt werden. Die EU verabschiedet derweil ihr 8. Sanktionspaket gegen Russland.
Putin ist militärisch und politisch in Schwierigkeiten. Nach außenhin gibt er sich zwar gelassen und problembewusst, die Annexionsrede hat indessen seinen Fanatismus verraten, an dem bisher die Diplomatie gescheitert ist. Gerade jetzt oder gerade jetzt nicht müsse ein Waffenstillstand verhandelt werden, argumentieren Befürworter und Gegner von Verhandlungen mit Verve, ansonsten drohe eine Eskalation, Atomwaffen eingeschlossen, was sich auf keinen Fall verantworten lässt. Beide Seiten – Russland wie die Nato – haben indessen noch viele Optionen vor dem Gebrauch von Atomwaffen.
Selbst auf der Titelseite der moderaten ‚Süddeutschen Zeitung‘ prangt ein großes Foto mit einer Interkontinentalrakete (6.10., S.1). „Die Drohung ist das Eigentliche“ heißt es, von der „Atom-Angst“ und gar dem „Prinzip Angst“ ist die Rede. Das Medium reproduziert und verstärkt genau dies. Offen bleibt freilich das Wie des weiteren Vorgehens: mit wem soll verhandelt werden, und vor allem: wer führt sie herbei? Der Ministerpräsident aus Sachsen?
Tatsächlich ist es Putin am 30. September nicht gelungen, durch die Annexion von vier ukrainischen Provinzen für eine patriotische Hochstimmung im Land zu sorgen. Nach der Rückeroberung von Lyman stößt die Ukraine weiter im Donbass vor. Die Gebiete am Dnipro-Fluss sind heftig umkämpft. Das gilt auch für die Südfront, welche die Brücke zur Krim bildet: „Ein Kollaps des Besatzungsregimes in den rechtsufrigen Gebieten der eben erst annektierten Provinz Cherson wird immer wahrscheinlicher“ (NZZ, 5.10.).
Russland will diese Gebiete, die „für immer zu Russland gehören“, nicht aufgeben, so Peskow am 5. Oktober, während Selenski am selben Tag verkündet, “ es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis wir sie vertrieben haben.“ Der Winter allerdings wird bei allem Handlungsoptimismus schwierig. Die Menschen getroffener Stadtgebiete und zerstörter Dörfer stellen sich auf frostige Zeiten ein.
Andreas Rüesch spricht in seiner Analyse von einem „Riss im Sicherheitsapparat“ Russlands: kompromisslose Kräfte wie der Tschetschenenführer Kadyrow, der kürzlich zum Generaloberst befördert worden ist, und Prigoschin (Gruppe Wagner), zwei Warlords, die den Generalstab in Moskau attackieren, würden Putin vor sich hertreiben (NZZ, 5.10., S.1).
Die Teilmobilmachung bringt offenbar, jedenfalls nicht sofort, den gewünschten Erfolg, was die Hardliner bzw. die sogenannte „Partei des Krieges“ weiter stärkt. Nach Putin ist auch ein Ultra-Putin möglich. Alles scheint möglich in der Zukunft Russlands, nur eines ist sicher: sie wird von den Folgen dieses schrecklichen Krieges nicht mehr loskommen und schwer belastet sein.
Die russische Armee und ihre Führung haben sich seit dem unerwarteten Angriff auf breitester Front blamiert. Das können auch die Heldenerzählungen von Putin nicht mehr aus der Welt schaffen. Die Bilder sprechen für sich und sind für alle verständlich, die Zahlen auch: 61 000 tote Soldaten und 2435 zerstörte Panzer laut ukrainischen Angaben.
Über die Stärken hinter den Erfolgen der ukrainischen Armee ist schon viel geschrieben worden. Sicherlich spielt dabei die westliche, vor allem amerikanische Unterstützung von Anfang an ebenso eine Rolle wie der Widerstandswille der Bevölkerung und die Motivation der Soldaten.
Letzteres ist gerade jetzt in der erfolgreichen offensiven Phase von entscheidender Bedeutung. Die zusätzlichen russischen Reservisten, die zu erwarten sind, können sie nicht mindern, sie werden vielmehr als „Kanonenfutter“ betrachtet, so die häufige Aussage von Soldaten, die bezeichnend ist.
Allerdings schrecken die Atomkriegsdrohung, die Kampfdrohnen aus Iran und die gefährdeten Atomkraftwerke in russischer Hand die Bevölkerung mehr als die militärische und politische Führung, die mit ihrem Handlungsoptimismus wiederum auf die verlässliche amerikanische Unterstützung im Hintergrund angewiesen bleibt.
Die amerikanische Antwort bleibt als glaubwürdige Abschreckung unmissverständlich. Biden ändert nichts an seiner bisherigen Strategie: der Druck auf Putin wird weiterhin aufrechterhalten (siehe dazu auch die Aussagen des bekannten Ex-Generals Petraeus), gleichzeitig wird darauf geachtet, ein Übergreifen des Krieges auf die Nato zu verhindern.
Diese Linie wird auch als Vorgabe für die Europäer konsequent und konsistent durchgehalten. Sie entlarvt Putins propagandistische Hauptlüge, dass die USA Russland zerstören wolle. Diese Absicht gibt es im freien Militärbündnis nicht. Auch ein Nato-Beitritt der Ukraine passt nicht ins Konzept. Brisant ist freilich Peskows Drohung, dass amerikanische Waffen nicht das Gebiet der Krim angreifen dürfen (5.10.).
Ein Friedensplan
Der ehemalige Generalsekretär der Nato (2009-2014), der Däne Rasmussen, bedauerte, dass die Ukraine nicht in die Nato aufgenommen worden ist. Von Selenski ist er beauftragt worden, ein Konzept für Sicherheitsgarantien für die Ukraine auszuarbeiten, so dass sie eine Zukunft haben kann neben dem großen Nachbarn, auch ohne Nato-Mitgliedschaft.
Zusammen mit Jermak, dem mächtigen Stabschef von Selenski, präsentierte er am 20. September Vorschläge für einen ‚Kyiv Security Compact‘ (siehe NZZ 26.9.: Ein ‚Modell Israel‘ für die Ukraine). Die von uns angesprochene Re-Militarisierung seit Putins Angriffskrieg betrifft in erster Linie die Ukraine (1.), in zweiter Linie die ‚Natoisierung‘ Europas (2.) sowie schliesslich beinahe alle anderen Länder (3.), die ihren Verteidigungshaushalt erhöhen. Dazu gehört auch die verteidigungspolitische Zeitenwende in Deutschland.
Selenski sprach bereits früher davon, „ein großes Israel mit eigenem Antlitz“ zu sein (zitiert in NZZ a.a.O.). Folglich wird die Sicherheitspolitik eine Hauptrolle in der Innenpolitik spielen. Zusammen mit einer starken Unterstützung von Partnerstaaten will man diese Sicherheitsdoktrin realisieren.
Israel ist auf eine Nato-Beistandsgarantie nicht angewiesen. Die Ukraine müsste allerdings Demokratie und Rechtsstaat ebenso behaupten können, vor dem Krieg war die Korruption groß. Dazu kommt die heikle Frage der Atombewaffnung, für deren Kontrolle die Weltpolitik bisher keine Lösung gefunden hat.
Im neuen Friedensplan von Rasmussen und Jermak werden frühere Vereinbarungen, zum Beispiel das Budapester Memorandum explizit für überholt erklärt, und die Atombewaffnung nicht ausgeschlossen. Die Selbstverteidigungsfähigkeit der Ukraine steht im Vordergrund, damit die Realpolitik Friedenspolitik bleiben kann.
Diese muss als friedensuchende Realpolitik jedoch immer wieder herausfinden, was wirklich notwendig ist. Die realistische ‚Notwendigkeitspolitik‘ ist nicht alternativlos, sondern unterliegt wie jede Politik dem demokratischen Streit.
In diesem Streit wird künftig vermehrt auch im Sicherheits-, Verteidigungs- und Militärbereich um beste Lösungen, die dringend sind, gerungen werden müssen. Denken wir nur an den Schutz der kritischen Infrastruktur. Was wirklich notwendig ist, versteht sich nicht von selbst. Militärischer Sachverstand ist nötig, aber auch die Fragen und Einwände von Pazifisten gehören dazu.
Die Wirklichkeit ist anstrengend. Friedensuchende Realpolitik nimmt die Realitäten zur Kenntnis. Zusätzlich sind einige begriffliche Unterscheidungen aus der politischen Theorie zu beachten, auch was Krieg und Frieden betrifft. Ebenso wie es verschiedene Kriege, auch gerechte, gibt, so gibt es unterschiedliche Friedensverträge (zwischen Nord- und Südkorea gibt es bis heute keinen).
Dem politischen Realismus hingegen Bellizismus vorzuwerfen, ist grundfalsch. Er gibt die Suche nach Frieden nicht auf, vielmehr ist er der vernünftige Vorbehalt, dass Frieden ein fragiler Zustand ist. Vertrauen ist gut und notwendig, darf in der Politik (im Unterschied zu Philosophie und Religion) indessen nicht mit Naivität verbunden werden. Mancher schwerwiegende Irrtum hätte sich so in den letzten Jahren vermeiden lassen.
Bildnachweis: IMAGO / NurPhoto
Bildbeschreibung: The Town Of Balakliya, Liberated From Russian Troops A boy holds the Ukrainian flag attached to the monument to the poet Taras Shevchenko in the city center of liberated Balakliya, Kharkiv region, on September 13, 2022.