Freiheit – Toleranz – Solidarität.

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Wir miteinander im 30. Jahr der deutschen Einheit.

Potsdam hat sich 2008 in einem umfangreichen Stadtgespräch ein neues Toleranzedikt erarbeitet. Es sollte ein modernes Toleranzedikt werden für eine weltoffene Stadt einer heterogen gewordenen Bürgerschaft. Ausgangspunkt der zentralen Wiederkehr von Begriff und Tradition der Toleranz bis in die Brandenburger Verfassung von 1992 hinein („Recht, Toleranz und Solidarität“) war das Nicht-Tolerierbare in Gestalt fast alltäglich gewordener Fremdenfeindlichkeit und übergriffiger Gewalt. 1990 waren hier die ersten Todesopfer zu beklagen, der Name des Angolaners Amadeo Antonio ist heute noch bekannt. 

Die Übergriffe zielten häufig auf geplante oder bewohnte Asylbewerberheime und Aussiedlerunterkünfte. Brandenburg war in den Augen der Öffentlichkeit, selbst im benachbarten Berlin, ein kompromittiertes Land. 1998 bildete sich das Handlungskonzept ‚Tolerantes Brandenburg‘, zuvor schon das Aktionsbündnis gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Die Gegenwehr von starkem Rechtsstaat und lebendiger Zivilgesellschaft ist seitdem stärker und in der Fläche besser geworden. Dennoch können wir uns heute nicht beruhigen angesichts der Zahlen und Vorfälle (rechts-)extremistischer Gewalt: Diese Entwicklung – Lübcke, Halle, Hanau – darf nicht weitergehen.

Im neuen Toleranzedikt (2008) haben wir geschrieben, dass das Nicht-Tolerierbare klar zu benennen und zu bekämpfen sowie der Konsens der Demokraten zu stärken ist. Das heißt vor allem, dass die bestehenden Bündnisse noch weit bekannter, zahlreicher und stärker werden müssen. Das neue Toleranzedikt hat 2015 angesichts der Flüchtlingsproblematik mit Help To und angesichts von Hate speech mit der ersten bundesweiten Kampagne gegen Hasspropaganda praktische Bewährungsproben bestanden, die politisch und rechtlich weitergeführt werden müssen. 

Im Stadtgespräch über Toleranz 2008 war es vor allem den ostdeutschen Mitbürgern ein  Anliegen, zusätzlich den Aspekt der Solidarität zu berücksichtigen in Bezug auf ihre Lebensleistungen und die sozialen Unterschiede in der Stadt. Aufgrund dieser Diskussionen einer neu entstehenden, konfliktreichen Ost-West-Bürgerstadt ist es zur Formulierung des neuen Toleranzediktes gekommen, dass die Verbindung von Toleranz und Solidarität zu festigen ist. In der bisherigen Ideengeschichte ist diese Brücke kaum zu finden. Angesichts der heutigen Bewältigung der Folgen der Coronakrise wird diese Verknüpfung aber erst recht zur schwierigen Hauptaufgabe. Weltweit steht uns die größte Rezession seit der Weltwirtschaftskrise 1929 bevor. 

Die These aus den Stadtgesprächen, dass die Toleranz eine Konsequenz der Freiheit ist, so wie die Solidarität eine Konsequenz der Toleranz, steht also erneut auf dem Prüfstand. Die zivile Tugend der Toleranz ist zweifellos eine Konsequenz unserer individuellen Freiheit.  Beides ist in den letzten Jahrzehnten gemeinsam gewachsen und ein großer Schatz, der zu bewahren ist. Ist aber die Solidarität auch eine Konsequenz der Toleranz? Diese Verbindung ist alles andere als selbstverständlich und sie bleibt spannungsvoll. Es stellt sich deshalb die Frage, wie Toleranz und Solidarität heute miteinander zu verbinden sind. 

Freilich ist auch die Problematik der Toleranz – in ihren Möglichkeiten und Grenzen – mit sozialen Fragen verknüpft. Toleranzbereitschaft sollte nicht über Gebühr asymmetrisch strapaziert werden, ebenso wie die Solidaritätsbereitschaft. Alle Beteiligten müssen letztlich auf ihre Kosten kommen. Insbesondere die Bereitschaft, Kompromisse zu schließen, darf nicht auf Dauer zu ungleich verteilt sein. Solidarität sorgt für Ausgleich (nicht Gleichheit!), was für eine demokratische Politik, die bei ihren Problemlösungen von Kompromissen lebt, nur förderlich ist.

Bei allem Gegeneinander in der Konkurrenzgesellschaft und allem Nebeneinander (Indifferenz) in der modernen differenzierten Gesellschaft sowie einem zeitlichen Nacheinander der Generationen und beschleunigter Prozesse ist trotzdem Solidarität möglich. Dies ist die Möglichkeit einer zivilen Bürgerschaft, bestehend aus Trotzdem-Sätzen der Zivilität als Zuständigkeit für Zivilisation. Bei der Kampfsolidarität von Schwachen gegen Starke spielt nicht zufällig die Betonung der Einheit eine besondere Rolle. Die Schwachen sind handlungsfähig, wenn es ihnen gelingt, starke Organisationen zu bilden (Gewerkschaften, Parteien, Vereine). Für diese Solidarität war und ist die Einheit über Organisation wichtig. Die wirklich Schwachen sind in der modernen Gesellschaft diejenigen, die hinsichtlich Organisationsgrad und Lobbyskala ganz hinten stehen (z.B. arme Kinder).

Nicht jede Einheit ist jedoch für den Zusammenhang von Toleranz und Solidarität förderlich. Es gibt unterdrückende herrschaftliche Einheiten, und es gibt einen ‚Egoismus des Wir‘ (Todorov), selbst bei einem ‚vielfältigen Wir‘. Es ist normal, dass bei einer so außergewöhnlichen Krise wie einer Pandemie zunächst traditionelle Einheiten wie Familien und Nationalstaaten mit ihren belastbaren Einheiten von Toleranz und Solidarität im Vordergrund stehen, was allerdings nicht zu Regressionen führen darf. Beim Lockdown im März sind überraschend schnell und unsolidarisch die Grenzen für Monate geschlossen worden, oft mit wenig Empathie und Hilfsbereitschaft zum Beispiel gegenüber Italien. 

Es war sozusagen ein solidarisch-unsolidarisches Verhalten, was ein Licht auf die Stärken und Schwächen der Solidarität wirft, die auf große Gruppen ebenso bezogen ist wie sie aus spontaner Hilfsbereitschaft entstehen kann. Wir haben es heute in der Krise mit der großen verrechtlichten Solidarität des Sozialstaates (Kurzarbeitergeld z.B.) ebenso zu tun wie mit einem breiten Spektrum spontaner und kreativer Solidarität Einzelner und kleiner Gruppen. Ebenso wird eine „außergewöhnliche Solidarität“ (Merkel) beschworen, wie sie gegenwärtig für die riesigen schuldenfinanzierten Wiederaufbauhilfen für EU-Europa gebraucht wird. 

All diese Solidaritäten sind auf Einheiten verschiedener Art bezogen. Welche Einheit feiern wir also diesen September und Oktober nach dreißig Jahren der Einheit? Natürlich die staatliche Einheit, nachdem 1990 die „Fahne der Einheit“ am Reichstagsgebäude hochgezogen worden ist; dann auch den Stand der inneren Vereinigung zwischen Ost und West; nicht vergessen dürfen wir die Bundessolidarität der 16 Länder; vielleicht sollten wir auch die ‚erwachsene Nation‘ (Schröder), die ihre Interessen zu vertreten weiß, feiern, sowie und vor allem die Einheit in der größer gewordenen Vielfalt, sei es in der Stadt Potsdam, sei es in der Region, der Nation und in Europa. 

Solidarität heißt in der Philosophie des französischen Solidarismus der Dritten Republik (1870-1940) eine gesellschaftliche Moral der ‚Versicherungsgesellschaft‘, der ‚sozialen Demokratie‘ und des ‚Vorsorgestaates‘, während Freiheit und Toleranz die philosophische Quintessenz des Liberalismus sind, der die größtmögliche Freiheit anstrebt. Dieser Konflikt zwischen Solidarismus und Liberalismus bricht nun wieder deutlich hervor im Umgang mit den Lockerungen in der Coronakrise. Dabei hängt alles davon ab, wie man Freiheit als zentralen Wert versteht. Die (kantische) Autonomie spielte beim Lockdown keine Rolle. Es war reines Regierungshandeln mit Verordnungen, Ausnahmesituation und Notrecht. 

Isaiah Berlin (1969) unterscheidet in der Nachfolge von Benjamin Constant (1819) zwischen positiver und negativer Freiheit. Für den Liberalismus postuliert er eine Priorität der negativen Freiheit (Freiheit von). Wenn es tatsächlich vor allem um diese Freiheit geht, so kommt es zu einem schwer überbrückbaren Konflikt mit der gesellschaftlichen Solidarität. Ab Rousseau und Kant wird Freiheit positiv gefasst (Freiheit zu), teils mit antiliberaler Stoßrichtung, teils aber auch Liberalismus-konform. Wird Freiheit in dieser Weise etwa als Autonomie verstanden und Solidarität als wechselseitige Anerkennung von Subjekten, die ihr Handeln an der Autonomie ausrichten, ist es nicht mehr weit zur Solidarität, wie sie Axel Honneth in den Spuren eines (kantianisierenden) Hegel als höchste Stufe der Anerkennung bezeichnet hat. 

Allerdings meine ich, dass Solidarität insofern von Anerkennung unterschieden ist, als ihr ein spontanes Gefühl des Mitleids und der Hilfsbereitschaft sowie eine Ethik des Könnens zugrunde liegt, welches der Anerkennung fehlt. Beides macht die moderne Solidarität aus, die freiwillig bleibt und wechselseitig wirksam sein soll. Insofern schließen sich auch Individualismus und Solidarität nicht aus. Gleichwohl birgt Solidarität keine Garantien von Unerschöpflichkeit, nicht einmal von Beständigkeit. So wie die Toleranz bleibt sie eine stets neu auszuhandelnde Größe und bewegt sich nicht selten im Spannungsfeld von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik.

Das Motto „Wir miteinander“ für den Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober ist zu banal. Jeder Fußballverein kennt es, was es nicht abwertet. Aber Deutschland, die Stadt Potsdam oder Europa sind keine Fußballvereine. Freiheit, Toleranz und Solidarität als anspruchsvoller Haupttitel, quasi zur Erklärung des Untertitels ‚Wir miteinander‘ wäre angemessener. Er würde zumindest zum Nachdenken anregen: Wie verstehen wir heute Freiheit, Toleranz und Solidarität und vor allem, wie verbinden wir sie miteinander? 

Bild von Karlheinz Pape auf Pixabay