Ausgerechnet in ihrer finalen Rede im Bundestag am 7. September wird Kanzlerin Merkel ungewöhnlich emotional, indem sie überraschend deutlich für Laschet als ihren Nachfolger Stellung nimmt und vehement vor einem drohenden Linksbündnis warnt. Sie sieht ihr Erbe in Gefahr.
Demgegenüber hält Scholz geradezu eine staatsmännische Rede. Die Rollen haben sich vertauscht: Die Union wirft Scholz „politische Erbschleicherei“ vor (Söder, Bouffier). Er, der Vizekanzler und Finanzminister des Big Government mit den Corona-Hilfen und dem Kurzarbeitergeld, führt das Erbe der ’sozialdemokratischen‘ Merkel mit der ihr eigenen Standhaftigkeit fort. Söder nennt das „schlumpfig“, zu lange hatte man den „Scholzomaten“ unterschätzt.
Das rächt sich jetzt, wo es womöglich zu spät ist, darauf noch zu reagieren. Scholz bleibt konsequent und nennt die staatspolitische Entscheidung für die Große Koalition „gut“, er bedankt sich selbst in der aufgewühlten Debatte bei Merkel. Immer mehr Wähler registrieren und schätzen dieses zuverlässige sachliche Verhalten und extrapolieren es in die unsichere Zukunft.
Zum Linksbündnis äußert sich Scholz nicht. Laschet spricht von „16 guten Jahren“. Je weniger dieser mit seiner Kampagne überzeugen kann, desto mehr punktet Scholz. Inzwischen steht es 9% zu 30%, und kaum ein Kommentator hält einen Sieg von Laschet noch für möglich. Wie nach 16 Jahren Kohl ist die Wechselstimmung bei vielen Menschen ähnlich: 16 Jahre sind genug, 8 Jahre würden auch genügen.
Scholz verkörpert Kontinuität und Wechsel. Eine nüchterne Wechselstimmung für Rot/Grün ist vorherrschend, welche die Grünen mit ihrer Veränderungseuphorie übertreffen wollten. Obwohl sie ein dringliches Thema haben: ‚Jetzt‘ (so der Titel von Baerbocks Buch), sind sie gegen Ende des Wahlkampfs eher wieder in den Hintergrund getreten. Die meisten gehen davon aus, dass sie sich in die neue Regierung ohnehin einschreiben werden. Das selbstbewusste Personal dafür haben sie.
Spannender ist der Vorsprung von Scholz (25 zu 20 für die SPD) sowie das mittlerweile verzweifelte Duell von Laschet mit ihm. Damit verbunden ist die offene Frage nach der künftigen Regierungskoalition und ihrem inhaltlichen Konsens, den die Wähler zwar grob mitbestimmen, aber nicht entscheiden können.
Ausgerechnet Wohlstand und Arbeitsplätze gefährde die Union mit ihrem Weiter-so, die sie doch ebenso für alle in der Industrienation wie die innere und äußere Sicherheit für Deutschland zu bewahren vorgibt, kritisiert Scholz in seiner Bundestagsrede am 7. September. Er versucht die regierende Union auf ihrem eigenen Terrain zu schlagen, was richtig ist, denn es geht um die kulturelle und politische Hegemonie. Der Kanzler führt mit seiner Richtlinienkompetenz einen Bundesstaat der 16 Bundesländer. Dabei ist er freilich kein ‚Ersatzmonarch‘ wie der Präsident der Präsidialdemokratie in Frankreich. Die föderale parlamentarische Parteiendemokratie ist komplizierter, ein ‚Durchregieren‘ ist hier nicht möglich.
Die grüne Kanzlerkandidatin Baerbock weist in der Bundestagsdebatte einmal mehr daraufhin, dass es den Grünen um eine Klimaregierung geht und weder der Markt noch die Technologien allein alles regeln. Die Grünen werden der künftigen Regierung in welcher Konstellation immer aus klimapolitischen Gründen angehören. Sie werden durch viele Klimaaktivisten, wissenschaftliche Expertisen, die Anschauung der Menschen und das höchste Gericht, welches die Rechte künftiger Generationen bekräftigt hat, unterstützt.
Lange galt die Koalition Schwarz/Grün als sicher, nun scheint es, nachdem die SPD aus ihrem 15% Keller herausgekommen ist, dass Rot/ Grün unproblematisch ist, zumal sich Scholz und Baerbock gut verstehen (Kanzler und Vizekanzlerin). Scholz, der selbsterklärte Feminist, kann den grünen Wind der Veränderung, bei allen Konflikten in der konkreten Klimapolitik (siehe nur den früheren Kohleausstieg 2030 statt wie verabredet 2038 in der Lausitz) in seine sozialdemokratische Fortschrittserzählung des Respekts und des Zusammenhalts aufnehmen.
Über eine solche, viele Verschiedene überzeugende Erzählung verfügt die Union nicht. Sie hat lediglich, wie Kohl am Ende seiner Amtszeit, eine konservative Orientierung anzubieten. Eine solche Erzählung, die wachsen muss, entsteht auch nicht von heute auf morgen und kann nicht bei Experten oder Werbeagenturen bestellt werden. Sie hat sich bei Scholz und der SPD seit Sommer 2020 sukzessive entwickelt und an Glaubwürdigkeit gewonnen.
Allerdings fehlt neben Rot/Grün noch ein Dritter zum Regieren. ‚Die Linke‘, die bangen muss, die 5%- Hürde überspringen zu können, macht Angebote für einen Politikwechsel. Lindner dagegen stellt Bedingungen, Scholz auch: nämlich gegenüber der Linken. Laschet wiederum fordert eine explizite Absage an das Linksbündnis, die Scholz nicht erteilt. Laschet beruft sich dabei in der Bundestagsdebatte auf Helmut Schmidt, als dessen Nachfolger sich der ehemalige Bürgermeister von Hamburg sieht.
Lindner hat nie einen Zweifel darüber gelassen, dass ihm Laschet, mit dem die FDP in NRW regiert, inhaltlich näher steht. Er stellt zwei klare Bedingungen für eine Koalition: keine weiteren Steuererhöhungen und die Erhaltung der Schuldenbremse. Zugleich warnt er vor der Inflation. Eine europäische Schuldenunion wird es mit der FDP nicht geben. Die marktwirtschaftliche Denkschule wird bei den wirtschaftlichen und sozialen Fragen deutlich, die Distanz zu politisch festgesetzten Staatslösungen (Mindestlohn, Mietendeckel) ebenso.
Zwischen Bartsch und Lindner liegen Welten, trotzdem können sie sachlich lehrreich miteinander diskutieren (so am 8.9. in ‚Welt‘). Lindner (und nicht Bartsch) beruft sich auf Marx, wenn er sich von einem Bullerbü-Deutschland absetzt. Wie dieser setzt er mehr auf den ‚gnadenlosen‘ Kapitalismus (ohne ‚mitfühlenden Liberalismus‘ und Staatstheorie), wenn es weltweit, vor allem technologisch, um den weiteren Fortschritt und Wohlstand geht. Doch sieht er durch die sozialdemokratischen und die „grün lackierten Sozialisten“ auch die Eigentumsgarantie und die Rechtssicherheit in Gefahr. Das anonyme Anschwärzen durch ein Meldeportal für Steuerbetrug muss bei Liberalen ebenfalls die Alarmglocken schrillen lassen.
Vergessen wir nicht: Es ist immer noch Wahlkampf, der furios in die letzte Runde geht. Um die Zustimmungsbereitschaft muss im Politischen geworben und gekämpft werden. Noch nie gab es in Deutschland so viele Duelle und Trielle sowie Wahlkampfarenen mit Bürgern: auf Marktplätzen, digital und im Fernsehen. Die Laternenpfähle sind bis obenhin plakatiert, um dem verbreiteten Vandalismus, der vermehrt zur Strafanzeige gebracht wird, zu entgehen. Zahlreiche Politiker/innen werden bedroht und beschimpft, und die Spitzenkandidaten stehen unter Polizeischutz. Von beidem gibt es 2021 offensichtlich mehr: vom zivilisierten Streit wie von der Verrohung durch Entzivilisierung.
Die parteilich, staatlich und medial organisierte Beteiligung war nie so groß, und die Beteiligungsformate so zahlreich und vielfältig. Die Parteiendemokratie lebt, lebt deshalb auch die Demokratie der Bürgerinnen und Bürger als Lebensform? Und was sind schließlich die Ergebnisse des gossen Aufwands? Auch dafür tragen wir und die Parteien eine Verantwortung, um dem populären und populistisch instrumentalisierten Vorurteil, „die Politiker machen sowieso, was sie wollen“, entgegenzuwirken.
Nicht nur für Laschet und Scholz ist jeder Prozentpunkt entscheidend, zumal die Umfragen variieren und die Prognosen unsicher sind. Auch für die Grünen, die FDP und die Linke ist das so. Daraus werden später in Koalitionsverhandlungen inhaltliche und personelle Ansprüche abgeleitet. Deshalb ist die zunehmende liberale Polemik von Lindner gegen die neue Lust am Etatismus bei den Grünen verständlich, und ebenso die Aussage der Linken, wonach eine Ampelkoalition Betrug am Wähler wäre. Das letzte Gefecht der Union wiederum gegen ein Linksbündnis und für eine bürgerliche Regierung erscheint deshalb etwas absurd, weil ‚Die Linke‘ auch in einer Regierung Scholz marginal bleiben wird.
Aufschlussreich werden nach der Wahl die internen Auseinandersetzungen in allen Parteien sein. Sie werden sich dadurch verändern so wie die Regierung und damit eine neue politische Landschaft in Deutschland prägen.
Bildnachweis: IMAGO / Mauersberger