„Fällt die Ukraine, fällt Europa“

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Die russischen Truppen rücken weiter nach Westen vor, so lauten die Schlagzeilen am 5. März. Die Lage der Zivilbevölkerung wird immer schwieriger, und die Fluchtbewegung immer grösser. Die Evakuierungen in Mariupol scheitern. Die Einschließung der 450 000 Einwohner zählenden Stadt über sechs Tage wird unerträglich. Wie schon Grosny erinnert mich die Größe dieser Stadt an meine Heimatstadt Zürich.

Die vielfältigen ukrainisch-europäischen Städte bilden zusammen eine ‚Nation im Widerstand‘, wie es sich die antiwestlichen, antiliberalen und antidemokratischen geopolitischen Ideologen im Umkreis von Putin nicht vorstellen können. Das ist ihr Wahrnehmungs- und Erkenntnisdefizit.

Das Votum der meisten Ukrainer war anders, der Putin-freundliche Janukowitsch hatte politisch verloren und floh zuerst in die Ostukraine, dann nach Russland. Die liberale Zustimmung, welche die neuen Rechten am dekadenten Westen verachten, ist zum militärischen demokratischen Widerstand geworden.

Mit der Einnahme Mariupols kontrolliert die russische Armee nun die Küste östlich der Krim. Die Angriffe mit Artillerie und aus der Luft gehen weiter. Charkiw, die zweitgrößte Stadt, wird bombardiert, Cherson ist eingenommen, und der Angriff auf die bekannte wichtigste Hafenstadt des Landes Odessa wird vorbereitet. Putins Krieg will eindeutig den ukrainischen Widerstand zur Kapitulation bringen, die humanitäre Katastrophe ist dabei zum Kriegsziel geworden.

Derweil läuft die Friedensdiplomatie auf Hochtouren. Das neutrale Israel ist als Vermittler in Moskau tätig, selbst die neutrale Großmacht China wird als Player mit Druckmacht ins Spiel gebracht. An Gesprächsversuchen mit Putin hat es in den letzten Tagen wahrlich nicht gefehlt. Nur mit Selenskyj will er nicht reden, obwohl dieser „nicht beißt“. 

Der Komiker ist zum Helden geworden, der von Anfang an auch die russische Seite, die jungen Soldaten und die Mütter, in ihrer Sprache angesprochen hat. Tschetschenische Sonderkommandos machen Jagd auf ihn und seine Familie. Seine Tochter sei so jung wie die Soldaten, die nicht Kanonenfutter werden sollen in einem schmutzigen Krieg, sie sollen nach Hause gehen (Selenskyj). Die Ukraine meldet am 6. März 11.000 tote russische Soldaten.

Worauf kann man bauen? Trotz vereinzelter Widerstände (vielleicht sind es mehr? Wir wissen es nicht genau, wie so vieles) ist die brutale Militärmaschinerie durch die eigenen Soldaten offenbar nicht zu stoppen. Schon die Ausbildung ist brutal und duldet keine Widerworte, das weiß die Bewegung der Soldatenmütter, die es schon lange gibt, nur zu gut. Auch die mutigen Proteste in 29 Städten in Russland sind am 6. März zahlreicher geworden, obwohl die Repressionsmaßnahmen zugenommen haben.

Die internationalen Medien können inzwischen nicht mehr darüber berichten Nicht einmal zur Zeit des kalten Krieges gab es diese Schwierigkeiten der Berichterstattung. Am ehesten gelangen über Instagram noch Bilder von der Wirklichkeit des Krieges zur russischen Bevölkerung. Das Staatsfernsehen produziert indes machtvoll eine andere Wirklichkeit – Putin ist nicht allein! 

Die Medien gehören genauso und zentral zu seinem System wie seine Silowiki, die Vertreter der Militärs und Geheimdienste. Besonders wirkmächtig in der Bevölkerung ist die Erinnerung an den Sieg über Nazi-Deutschland im Großen Vaterländischen Krieg, die Putin instrumentalisiert, wenn er davon spricht, die Ukraine „entnazifizieren“ zu müssen. Neonazis gibt es auch in der Ukraine wie überall auf der Welt, aber bei den letzten Wahlen haben sie gerade einmal 2% der Stimmen erreicht.

Am 6. März fordert Selenskyj erneut – nach dem Angriff auf das friedliche Winnyzja – eindringlich die Einrichtung von Flugverbotszonen aus humanitären Gründen. Nachrichten melden, dass Polen Kampfjets für die Ukraine bereitstellt. Die Regierung leugnet es offiziell, sie muss es leugnen.

Bildnachweis: IMAGO / CTK Photo