Es zählen nur noch die Kriegstage

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Der Krieg geht mit unverminderter Härte weiter. Niemand konnte bisher Putin stoppen, obwohl der Krieg täglich brutaler wird. Es zählen nur noch die Kriegstage.

Überall ist jetzt Front, selbst im Westen der Ukraine, kurz vor der Nato-Grenze. Kommt es in Kiew zur Entscheidungsschlacht? Die ukrainische Seite spricht von Belagerungszustand. Was kommt danach? Lediglich eine totale Zerstörung wird Kiew einnehmbar machen, so Selenskyj. Wann hört Putin auf? Unter welchen Bedingungen?

Die Folgeschäden sind menschlich, materiell und politisch immens. Wer wird sie bezahlen?

Zu welchem Frieden kann es kommen? Diese Fragen führen über den Ukraine-Krieg, der die Welt erschüttert hat, hinaus. Präsident Biden nahm vor kurzem das Wort zum ersten Mal in den Mund: Dritter Weltkrieg. Dazu würde es kommen, wenn der Westen militärisch eingreift. Der Krieg bekäme dann eine andere Dimension.

Selenskyj, der noch in der Festung Kiew ist und sich jeden Tag äußert, sagt am 12.März: „Wir brauchen jetzt ein Beatmungsgerät.“ Er ist aber auch bereit, mit Putin in Israel zu reden. Voraussetzung dafür ist eine Feuerpause. Kapitulieren wird die Ukraine nicht. Sie zeigt, dass man auch mit kleinen beweglichen Kampfeinheiten, die über Panzerfäuste und Stinger verfügen, einer an Personal und Technik weit überlegenen Armee Schaden zufügen kann. Russland hat mehr Verluste als in den beiden Tschetschenienkriegen (1994-96, 1999-2009).

Russland betrachtet schon die Waffenlieferungen, die Biden noch einmal erhöht hat, als Eingriff. Es warnt die Nato davor, die baltischen Staaten weiter aufzurüsten. Einen Vorwand gegen den Westen und insbesondere gegen die Amerikaner, die gleichzeitig im Iran und wegen Nordkorea gefordert sind, findet man immer. 

Zumal sich die russische Seite immer mehr in eine gefährliche Selbstisolation im Kampf gegen die angeblich bedrohliche westliche Welt begibt. Putin äußert im Gespräch mit Diktator Lukaschenko, dass der Krieg Russland stärke und nicht schwäche trotz der Sanktionen. Das große und weithin unbekannte Russland, der größte Flächenstaat der Erde mit seinen Regionen, sollte man nie unterschätzen.

Die westlichen Sanktionen wirken und sind für die urbanisierten Mittelschichten sicht- und spürbar. Wie lange kann der einst populäre Putin, der Jelzins Erbe übernahm, die Bevölkerung mehrheitlich auf seiner Seite halten? Die Informationskontrolle, die Propaganda und die Repression gehen nach Ansicht vieler Beobachter weiter als zu totalitären Sowjetzeiten. 

Die Ohnmächtigen können nicht mächtig sein, wenn den mutigsten Demonstranten auf den Straßen eine Staatsmacht in einem furchterregenden Verhältnis gegenübertritt, wie wir es nicht kennen. Und die Magnaten sind ohnmächtig, weil sie inzwischen selbst viel zu sehr in Putins System involviert sind. Die Prätorianergarden schließlich bestehen aus der Bewachungseinheit des Kremls, den Spezialtruppen und den Geheimdiensten.

Sowohl eine demokratische Revolution als auch ein Staatsstreich noch ein Tyrannenmord aus den Reihen der Prätorianer werden den akuten Krieg beenden. Nur Putin selber kann dies tun. Er ist diesmal zu weit gegangen und hat sich gegenüber der ukrainischen Bevölkerung und ihrem Widerstand verkalkuliert. Die unbegrenzte Macht und ihr barbarisches Militär, das keine Konventionen und Gesetze kennt, hat sich überschätzt. 

Was für ein Frieden daraus noch folgen kann, ist eine offene Frage. Welche politische Lösung will Putin? Die alte Kremologie steht wieder auf. Am 18.Tag des Krieges ist Putin augenscheinlich nicht zum Frieden bereit. Die Ukraine wiederum benötigt westliche Sicherheitsgarantien.

Sie kann dem Nachbarn Russland nicht mehr trauen, der ihr Gebiet weiter annektiert und Bürgermeister (zum Beispiel in Melitopol) durch willfährige Statthalter ersetzt. Der ehemals russlandfreundliche Bürgermeister von Odessa bereitet jetzt seine schöne Stadt auf den Angriff vor. Die militärisch und wirtschaftlich entscheidende Hafenstadt ist die bekannteste ukrainische Stadt der Welt. 

Der Kampf um Odessa, aus dem bereits zweihunderttausend Menschen geflohen sind, könnte zu einem Symbol und möglicherweise zu einem Wendepunkt des Krieges werden. Ein letztes Mal flehen Menschen darum, „den Himmel zu schließen“. Würde Odessa fallen, wäre die Landverbindung nach Transnistrien offen.

Die alte Angst vor einer nuklearen Eskalation ist in Europa wieder sehr präsent. Und der alte Glaube an die wechselseitige Abschreckung durch Vernichtung ist wieder da: Wir verteidigen die westliche Zivilisation und Putin die Seite des alten Russland, nicht weniger. Die künftige Politik in Europa und der Welt wird unweigerlich den Krieg als Kategorie der Politik wieder stärker gewichten und bedenken müssen angesichts der Großmachtpolitik von Russland und China sowie im Blick auf weitere Konfliktherde in Georgien, Moldawien und Bosnien, Hongkong, Taiwan und Tibet.

Ein System der Macht ohne vertikale und horizontale Gewaltenteilung, mit den Sicherheitsorganen als Kern, hat Putin in den letzten 20 Jahren sukzessive auf sich zugeschnitten. Er allein stellt noch die Machtbalance her in einem Kreis großer Unterwürfigkeit, die Tradition hat. Sie verführt zur rücksichtslosen Größe und ist der Unterbau imperialer Macht. Nur so konnte überhaupt das Zerrbild von der Ukraine als Neonazi-Regierung und vom russlandfeindlichen aggressiven Westen, der verschwörungstheoretisch dahintersteckt, entstehen.

Diese Wahrnehmungs- und Erkenntnisdefizite vor allem erklären den ideologiegetriebenen Krieg (Wahnsinn statt Common sense), der durch ein barbarisches Militär geführt wird, das alle Konventionen und Gesetze des Krieges bricht. Es trifft auf die ganz andere Realität von Ukrainern, die ihre offenen und gemischten Städte, in denen sich Bürgersinn entwickelt hat, verteidigen. In der eingenommenen Großstadt Cherson soll sogar ein „gefälschtes Referendum“ durchgeführt werden. 

Die Ukrainer orientieren sich demgegenüber selbstbestimmt nach Westen und erleben durch diesen Krieg, dass nur das Bündnis mit dem Westen ihnen noch eine Zukunft garantieren kann. Putin hat für sich und sein Land das Gegenteil bewirkt. Aber er schafft gerade jetzt mit jedem Kriegstag Fakten für spätere Verhandlungspositionen. Da es um Souveränität und Demokratie geht, wird die Ukraine zu einem Spiegelbild für die Welt.

Putin zwingt zur Remilitarisierung. Das hat kleinere und große sehr ernste Dimensionen. Die Diskussion über die atomare Abschreckung ist plötzlich wieder da, und das transatlantische Bündnis als fester Anker wird wieder bewusster. Der lebenserfahrene Präsident Biden spielt dabei eine entscheidende und zugleich zurückhaltende Rolle, bei der die kluge Macht ausschlaggebend ist. 

Auch in der Machtpolitik der Großmächte gibt es seit je verschiedene Varianten. Nicht zufällig ist die Nato das größte und erfolgreichste Militärbündnis der Geschichte. Russland betrachtet die USA als Gegner und China als Konkurrenten, das auf seine Weise den Weltmachtstatus anstrebt. Indien, die größte Demokratie der Welt, verhält sich neutral. Die Regionalmacht Iran ebenso.

Die kleineren, kleinen und kleinsten Länder müssen das wissen und reflektieren. Die Diskussion über eine funktionierende Landesverteidigung, die keine ungeliebte politische Nebensache ist, steht ebenfalls wieder im Vordergrund: „Die Bundeswehr ist kein THW“, so der Präsident des Bundeswehrverbandes. Verteidigungsministerin Lambrecht leitet zur Zeit das wohl schwierigste Ministerium, sie muss in wenigen Tagen lernen, wofür man Jahre braucht. 

Über den Witz mit den Helmen konnte man noch lachen. Bei den NATO-Verpflichtungen wird es ernster. Wie sieht die Verteidigung Europas aus, und was heißt diesbezüglich europäische Souveränität? Wie lassen sich die baltischen Staaten gegen einen russischen Angriff verteidigen? Laut ukrainischem Sicherheitsrat ist Litauen das nächste Ziel.

Bildnachweis: IMAGO / Cover-Images