Entscheidungen in Hiroshima 

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Der japanische Premierminister Kishida sprach von einem „historischen Gipfel“, und er versprach, „dass die führenden demokratischen Volkswirtschaften“ alles tun werden“, um einen „atomaren Konflikt zu verhindern“. Einen symbolträchtigeren Ort für dieses Versprechen des Nuklearpazifismus als Hiroshima lässt sich nicht finden.

Der G7-Gipfel in Hiroshima vom 19. bis 21. Mai fällte wichtige ‚weltpolitische‘ Beschlüsse. Er bekräftigte wie kein Gipfel zuvor die Politik der nuklearen Abschreckung und ging gerade nicht in Richtung der Ächtung und Abrüstung von Atomwaffen, obwohl sich die maßgeblichen ‚Staatenlenker ‚ vor dem allein noch übrig gebliebenen ‚Atomic dome‘ ins Bild setzten. 

Nach einer riskanten Reise durch die Hauptstädte Europas: Berlin, Paris, London, trifft auch der ukrainische Präsident Selenski überraschend in Hiroshima ein und erhält vom amerikanischen Präsidenten Biden, der Nr.1 der Staatenlenker, die lange ersehnte Zusage für die Lieferung von F16 – Kampfjets, womit die letzte rote Linie, die auch Biden bewusst lange eingehalten hatte, bei den westlichen Waffenlieferungen überschritten wird. 

Die ukrainische Führung weiss, was sie will: mindestens vier Geschwader mit 48 Flugzeugen (26.Mai). Die Ausbildung soll mindestens 5 Monate dauern. Wäre dies der „gamechanger“, nachdem nun langsam die schweren Panzer eintreffen, und neue Verbände und Gefechtsverbünde eingeübt werden (Schlachten in Richtung Südosten?). 

Selenski ist der strahlende symbolische Sieger des Gipfels. Ob er damit die Welt dem Frieden näherbringt, wie er sagt, ist die Frage. Aber nicht nur das aggressive Russland steht im Vordergrund der Aufmerksamkeit des Gipfels, sondern ebenso China und Nordkorea sowie die Diplomatie mit Südkorea, Japan, Brasilien und Indien. Die Welt ist komplizierter geworden, es ist mehr als ein neuer kalter Krieg. 

Die Signale an Moskau sind eindeutig, indem die Sanktionen weiter verschärft werden, und die militärische Unterstützung sichtbar über das Jahr 2023 hinausgeht, was auch Kanzler Scholz unterstreicht, nachdem Großbritannien (einmal mehr) und die Niederlande bei der europäischen Kampfjetallianz vorgeprescht sind. Russland reagiert wie üblich, nur diesmal noch deutlicher und spricht von einer „kolossalen Provokation“, während Biden Selenski das Versprechen abringt, die Kampfjets nicht für „Angriffe gegen Russland“ einzusetzen. Die Militärhilfen werden noch einmal aufgestockt, und China wird geradezu verzweifelt gedrängt, diplomatisch auf Russland einzuwirken. 

Am 26.5. lesen wir von einem Treffen zwischen dem russischen Außenminister Lawrow und dem chinesischen Diplomaten Hui, der in Europa für eine politische Lösung im Ukraine-Krieg unterwegs ist. Im Subtext läuft hier ab, dass viel Diplomatie im Gange ist, obwohl oder weil gerade gleichzeitig die Zusammenarbeit zwischen Russland und China weiter gestärkt wird. China spielt sein eigenes Spiel, und Russland zeigt sich von den weiteren Sanktionen unbeeindruckt.

Ausweitungen des Krieges? 

Ausweitungen des Krieges in der Ukraine sehen Biden und seine Berater sehr wohl. Die kommenden Offensiven sind zwischen den militärischen Oberbefehlshabern Saluschny und Cavioli abgesprochen. Die weltpolitische Hauptsorge gilt indes weiterhin China, was nicht bedeutet, dass Europa für Amerika unwichtig wird, obwohl der anstehende amerikanische Wahlkampf einiges offen lässt. Die geostrategische Wende vom Atlantik zum Pazifik ist jedenfalls nicht total. 

Biden, der aus dem Irakkrieg, den er 2003 anfangs befürwortete, gelernt hat, will den Krieg einhegen, um einen Konflikt zwischen Nato und Russland zu vermeiden, während sich Russland von Anfang an im Konflikt mit der Nato sieht, was sich noch verstärkt hat. Welche Eskalationen können sich daraus ergeben? Wenn auch die Wahrscheinlichkeiten unvorhersehbarer Ereignisverläufe unterschiedlich eingeschätzt werden (gerade Experten halten den Atomkonflikt für sehr unwahrscheinlich!), bereitet man sich militärisch gleichwohl auf alle Szenarien vor (siehe: Was der Einsatz von Atomwaffen bedeutet , NZZ, 24.5.). Am 24. Mai ist die USS-Gerald Ford, das größte Kriegsschiff der Welt in den Oslofijord eingelaufen – zur Sicherheit Norwegens sagt die Nato, zur Einschüchterung sagt Moskau.

Politisch hinkt man hinterher, indem man fast nur noch reagiert, aber nicht mehr vorausschauend (strategisch?) agieren kann, auch weil zu viel auf einmal zu bewältigen ist. Heute in einer Welt in Stücken ist ein Blick aufs globale Ganze kaum mehr möglich. Selig ist, wer Luhmann nicht gelesen hat. Die Netzwerkwelt ist dafür eine notdürftige (geschwätzige) Kompensation. Die Sprache der Politik hingegen ist aufschlussreich. 

Die Rhetorik der Bedrohung, der Erpressung und Angst begründet semantisch wiederum eine eigene Welt, wobei die „Angstbremse“ politisch unterschiedlich eingeschätzt wird (siehe Robert D. Kaplan, The Tragic Mind: Fear, Fate, and the Burden of Power, 2023). Angst und Politik bilden in der neuzeitlichen (Staats!-) Politik einen grundlegenden und konstitutiven Zusammenhang, geht es doch vor allem um Schutz vor Gewalt. Staaten vertreten Interessen sagt der Realismus zurecht, bei dem es nicht primär um moralische Wertungen geht. Darunter sind, innen- wie außenpolitisch relevant, vor allem die Sicherheitsinteressen! Der moderne Staat ist per se ein Sicherheitsstaat. Dazu gehören auch Waffen, wenn es konkret wird. 

Waffen wie Marschflugkörper, die nicht nur von den USA, sondern auch von Großbritannien und Deutschland (‚Taurus‘) zur Verfügung gestellt werden, haben inzwischen Reichweiten, worauf man bisher penibel geachtet hatte, erreicht, die einen Angriff auf die Krim ermöglichen. „Ein Angriff auf die Krim ist ein Angriff auf Russland,“ so unmissverständlich der russische Botschafter Antonow in Washington am 22. Mai. 

Bereits im Januar warnte angesichts bevorstehender Panzerlieferungen der Sprecher des russischen Parlaments Wolodin, ein enger Verbündeter von Putin, vor einer “ globalen Katastrophe“. Die Drohung mit dem Atomkrieg begleitet den Ukrainekrieg von Anfang an. Paradox gesprochen, lassen sich die kämpfenden Ukrainer und ihre unbedingten Unterstützer davon am wenigsten beindrucken. Bei Medwedew, den Propagandisten des Staatsfernsehens und den zahlreichen Akademikern bis hinauf ins Verfassungsgericht gehört die Rede von Präventiv- und Atomschlägen zum Stammtisch, der weit ins Land hinein Verbreitung findet. Sie haben schon längst verbal wie inhaltlich alle Tabus gebrochen. Putin ist nicht allein. 

Der erfahrene Stratege Henry Kissinger, der „Metternich des amerikanischen Jahrhunderts“ (Fischer), der am 27. Mai hundert Jahre alt wird, hebt in seinen aktuellen Erwägungen noch die besondere Bedeutung von Sewastopol, Stützpunkt der Schwarzmeerflotte, für Russland hervor und schlägt eine Verhandlungslösung vor, die auf die Krim verzichtet, dafür aber die Ukraine in die Nato aufnimmt (18.5.; siehe auch das Interview in ‚Die Zeit‘, 25. Mai). Er sieht nicht alle Schuld bei Putin und hält auch die Einrichtung eines Sondertribunals für falsch. 

Überhaupt die Krim? Wird sie „das Endspiel darstellen“ (Umland, 17. Mai NZZ, S.17). Optimisten unter den amerikanischen Militärexperten sprechen von der erwarteten, lange vorbereiteten Großoffensive als einem Blitzkrieg mit Wucht. Manöver, von denen es Bilder gibt, deuten auf den Südosten hin (den Fluss Dnepr und Cherson). Die Ukraine nimmt sich jedenfalls die nötige Vorbereitungszeit, was für die Logistik genauso wichtig ist wie für die Front, die neue Soldaten benötigt, während Russland neue Verteidigungslinien baut. Was wird standhalten? Der Krieg als konkretes Geschehen wird buchstäblich auf dem Schlachtfeld entschieden. 

Strategen und Bürgermeister 

Die sogenannte Zeitenwende, von der inzwischen in vielen Bereichen geredet wird, hat auch eine ernste nukleare Dimension: die alte Angst vor dem Atomkrieg, die in den Bevölkerungen von Deutschland und Amerika schon einmal tief eingeschärft worden ist. Die Sirenen von damals stehen immer noch, auch wenn sie nicht immer funktionieren und die Schutzräume nicht zur Verfügung stehen. 

Wir leben immer noch im Atomzeitalter bei allen historisch-politischen Brüchen und mehr als zahlreichen Veränderungen, die unsere beschleunigte Zeit kennzeichnet. Das ist keine modische Feststellung und mehr als eine lediglich verteidigungspolitische Zeitenwende, die nun national und europäisch dringlich schneller konkret werden muss, wobei zunächst alle ihre Hausaufgaben zu machen haben. Danach erst geht es ebenso um eine bessere Koordinierung, militärisch gesprochen: um Interoperationalität. Politisch gilt für alle Staaten in Europa, dass es nun um Frieden nicht mit, sondern vor Russland gehen muss, so der Realist gewordene Joschka Fischer (Tagesspiegel, 27. Mai). 

Die Strategen blieben schon immer unter sich und außerhalb der (antiken) Demokratie der Bürger: weder waren sie gewählt, noch konnten die Entscheidungen der Militärführer demokratisch beeinflusst werden, was für die Außenpolitik generell weithin der Fall ist. Oft stammten die Strategen auch aus bestimmten Familiendynastien. Sie sind mehr (oder etwas anderes) als bloße Politiker oder Staatsmänner. 

Sie lenken heute als Präsidenten, Autokraten oder Diktatoren große Militärmächte mit einem Stab von Beratern, die freilich aus verschiedenen Denkschulen kommen können. Dazu kommt die immer grösser werdende Abhängigkeit von schnellen Geheimdienstinformationen. Die Beziehung zwischen Entscheidungen der Politik und dem Eigengewicht der Militärs ist schwierig.

Kann man noch auf die Weisheit der Staatenlenker setzen beim heutigen Stand der Technologien? Oder ist der Kulminationspunkt menschlicher Selbstüberschätzung technologisch erreicht. Erreichen mithin die Bürgermeister und Meisterbürger der Demokratie nicht mehr die selbstläufigen zivilisatorischen Entwicklungen, welche die Menschheit, wie wir sie kennen, bedrohen, weil sie ‚out of control‘ sind und auch gar nicht mehr verantwortungsvoll gesteuert werden können. 

In Bezug auf Strategiefähigkeit gibt es allerdings eine außenpolitische Elitenkonkurrenz. Wir wollen hier die Staaten im Atomzeitalter auf Atommächte, die man begrenzen wollte, eingrenzen, wobei zu beachten ist, dass 90% der Atomwaffen auf dieser Erde im Besitz der USA und Russlands sind. Wie beeinflusst man jedoch Supermächte, die miteinander konkurrieren? Und was vermögen sie in Bezug auf die Nichtproliferation von solchen Waffen etwa in Pakistan oder Iran? 

Trotz Abrüstungsverträgen gilt die Doktrin der nuklearen Abschreckung: die MAD (mutual assured destruction), die Verpflichtung beider Seiten zur Vernichtung, auch der Menschheit. Es existiert ein Atomwaffensperrvertrag, der 1968 geschlossen worden ist, und ein Atomwaffenverbotsantrag, den 90 Staaten unterzeichnet haben, nicht aber die Atommächte und Nato-Staaten, einschließlich Deutschland. Im Wahlkampf 2021 hatten die SPD und die Grünen noch den Abzug der Atomwaffen aus Deutschland gefordert.

Nach 2022 ist dies kein Thema mehr, dafür die nukleare Teilhabe, die Teil des strategischen Nato-Bündnisses ist. Das Bombergeschwader in Büchel in der Eifel transportiert im Ernstfall US-Bomben mit der Zerstörungskraft von mehrmals Hiroshima (siehe die Dokumentation „Putins Tabubruch – die neue Angst vor der Bombe“, ZDF 23. Mai).

„Mayors for Peace“ ist eine transnationale internationale Organisation von Städten, die sich für atomare Abrüstung einsetzt. 1982 wurde sie auf Initiative des Bürgermeisters von Hiroshima gegründet. Inzwischen gibt es 8234 Mitgliederstädte in 166 Ländern, die Einfluss zu nehmen versuchen, die weltweite Verbreitung von Atomwaffen zu verhindern. Bis 2020 sollte die Welt atomwaffenfrei werden, auch Präsident Obama verfolgte dieses Ziel, für das er den Friedensnobelpreis bekam.

Der Uno-Beschluss einer Nuklearwaffenkonvention sollte durchgesetzt werden. In Potsdam gibt es einen Gedenkstein vor dem Truman-Haus in Babelsberg und einen Hiroshima-Nagasaki Platz wie einen zivilgesellschaftlichen Verein, der sich um diese Anliegen kümmert, um das schwierige Thema im Bewusstsein zu halten. Die Flagge der „Bürgermeister für den Frieden“ ist hier bekannt. Präsident Truman hatte die Entscheidung zu den Atombombenabwürfen am 6 und 9. August 1945 im Verlauf der Potsdamer Konferenz getroffen. Hätte der Krieg nach dem 8. Mai geendet, hätte es auch Deutschland treffen können. Siehe dazu die Ausstellung „Roads not taken“ im Deutschen Historischen Museum in Berlin 2023, die an die Zufälle der Geschichte erinnert, die gerne verdrängt werden.

China und Nordkorea 

China reagiert empört auf die westliche Kritik und sieht sich durch die Beschlüsse in Hiroshima „verleumdet“. Was heißt „angemessen“ mit China umgehen? Scholz unterscheidet neuerdings scharf zwischen „decoupling“ und „derisking“. Aber nicht nur Biden und das Pentagon in seinem Strategiepapier, auch der britische Premierminister Sunak, der Selenski am freundschaftlichsten verbunden ist, sieht „China als größte Herausforderung der Zeit“. 

Am meisten Sorge bereiten Strategen wie dem ehemaligen Bush-Berater Kaplan oder Kissinger, der Sicherheitsberater von Nixon war, der Umgang der USA mit China (NZZ, 17. Mai). Auffällig sind auch die oft pessimistischen Prognosen amerikanischer Militärs, wobei der Taiwan-Konflikt mit unabsehbaren Folgen nicht unvermeidlich sein muss. Sie fürchten (mehr als im Fall der Ukraine), dass die Militärhilfen der USA den 3.Weltkrieg provozieren werden. Die Beziehungen zwischen den USA und China können sich indessen ändern und folgen keiner Naturgesetzlichkeit: Tauwetter ist genauso möglich wie das plötzliche Gegenteil durch unvorhergesehene Ereignisse, die nicht unter Kontrolle sind – Zwischenfälle in der Luft oder auf See. 

Ein dritter Konfliktherd mit nuklearer Dimension, der sich in den letzten Jahren verschärft hat, ist vor allem für Südkorea und Japan, ja sogar für den ‚Erzfeind‘ USA (wieder) existentiell geworden: die Raketentests Nordkoreas mit immer größerer Reichweite. Für Japan ist es der wichtigste Gipfel der Nachkriegsgeschichte. Es hat seinen verfassungsmäßigen strukturellen Pazifismus in der Konfrontation mit China aufgegeben und seinen Verteidigungshaushalt verdoppelt. Die Wiederannäherung Japans an Südkorea ist ein großer Schritt, der in gemeinsamen Manövern Ausdruck findet. 

Nach dem Gipfel in Hiroshima besucht Bundeskanzler Scholz Südkorea, um Investitionen in die Chipwirtschaft voranzubringen. Dabei benutzte er die Gelegenheit, die berühmte Grenze des geteilten Landes, den 38. Breitengrad in der Nähe von Seoul zu besichtigen, wo sich Millionen Soldaten gegenüberstehen. Bis heute gibt es keinen Friedensvertrag. Der Koreakrieg befestigte anfangs der 50er Jahre die Blockbildung des Kalten Krieges in Europa. Deutschland wird angesichts dieser Grenze bewusster, was für ein Glück 1989 seine Wiedervereinigung war (Scholz) – fürwahr.

Bildquelle: IMAGO / ZUMA Press