Ende des Westens!?

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Der französische Historiker Emmanuel Todd ist durch sein Buch, das bereits 1976 das Ende der Sowjetunion prognostiziert hatte, bekannt geworden. Es dauerte dann zwar noch bis 1991, und der sogenannte Westen war sowohl überrascht wie unvorbereitet. Die Politologen hatten dazu nicht viel zu sagen, umso mehr leiteten sie daraus Forschungsansprüche ab – für künftige Handlungsempfehlungen.

Das ist heute nicht anders, wo die Situation viel schwieriger und unübersichtlicher ist. Wer kennt schon die ganze Welt (auch die ‚internationale Politik‘ als Fach nicht), die „multipolar“ sein soll. Allein schon die Beschreibung der Lage, wie sie ist, zweifellos ein wichtiger und notwendiger Ausgangspunkt jeder Politik, ist äußerst kontrovers. Selbst in Bezug auf einen kleinen, aber ebenfalls zweifellos wichtigen Ausschnitt wie den russischen Krieg in der Ukraine.

In seinem neuen Buch (Niedergang des Westens. Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall,2024) wagt Todd erneut eine große Prognose, nämlich den endgültigen Niedergang der westlichen Welt, die keinen Krieg mehr führen kann. Niedergangsprognosen haben eine große Tradition in der Geschichtsschreibung und seit Neuestem wieder Konjunktur parallel zum Niedergang der Utopien. 

Die Aufmerksamkeit ist ihnen gewiss, insbesondere in einer verunsicherten Welt. Das wiederum gehört wohl zum Wenigen, was wir heute über unsere Welt (die mehr als Lebenswelt ist) mit Sicherheit sagen können, insbesondere aus europäischer Perspektive. Das ist politisch zu wenig.

Reinhart Koselleck hat die Begriffsgeschichten von ‚Fortschritt‘ und ‚Niedergang‘ geschrieben (2006). Siehe auch die Studien zum geschichtlichen Thema ‚Niedergang‘ (Stuttgart 1980). Zeit, Fortschritte und Niedergang sind grundlegende Themen historisch-politischen Denkens seit je, ohne diese metahistorischen Kategorien kann man nicht denken. Die reale Thematik liegt sodann zwischen Erfahrung und Erwartung, beide Kategorien wiederum spielen unweigerlich hinein. Wie also denken wir gegenwärtig darüber? Was sind unsere Erfahrungen und was unsere Erwartungen?

Todd (geb. 1951) bezieht sich mit seiner Niedergangsthese natürlich auf die führende Nation der westlichen Welt, die USA, die diesen Staffelstab von Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg, der ein globaler Krieg war, übernahm. Auch das ist nichts Neues, denken wir nur an die bekannten Bücher von Paul Kennedy und Niall Ferguson.

Der britische Historiker Kennedy (geb.1945) ist wahrlich ein Experte für Militärstrategien. Sein monumentaler Bestseller ‚The Rise and Fall of the Great Powers‘ (1500-2000) demonstriert, dass sich Geschichte zwar nicht wiederholt, aber gleichwohl wiederkehrende Muster aufweist: von den Habsburgern, über die großen Staaten in Europa, die bipolare Welt bis heute. 

Wir haben keine Glaskugel für die Zukunft, aber plausible Argumente (nicht im Sinne von ’science‘) aufgrund profunden Geschichtswissens sind möglich und hilfreich für Diskussionen auf der Suche nach Orientierung. Mindestens können sie Ausgangspunkte einer konstruktiven Erörterung werden, bei bloßen Positionen und Meinungen muss es nicht bleiben.

Brauchbar scheinen insbesondere die Kategorien ‚Überdehnung‘ und ‚Erschöpfung‘ in Anwendung auf die gegenwärtige Weltmacht USA, denken wir nur an den Mehrfrontenkrieg im Nahen Osten. Zwar sind die USA, zusammen mit GB im Roten Meer und gegen die Huthi-Rebellen in Jemen noch kriegsfähig (wie auch gegen den Islamischen Staat, der „dem Westen den Krieg erklärt hatte“) und fähig, die kommende Atommacht Iran abzuschrecken. Doch es ist auch immer mehr eine Überforderung, die zu Fehlern führt, und eine Erschöpfung seit Obama und Biden festzustellen. 

Das zeigt sich auch diplomatisch im Verhältnis zur israelischen Regierung Netanyahu, obwohl die USA das Land seit Jahrzehnten ökonomisch, technologisch und militärisch unterstützt wie kein anderes. Es führt indessen seinen offensiven Verteidigungskrieg in Gaza und Libanon weitgehend eigenmächtig und selbstständig. Trump wird Netanyahu freie Hand lassen.

Zur Überforderung führt auch das existenzsichernde militärische Dauer-Engagement in Europa und im Indopazifik. Schon lange sind größere Anstrengungen von Europa angemahnt worden, das kaum zu einer gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik finden wird, nicht erst seit Trump, aber erst Trump hat das zwei Prozent-Ziel der Nato, auch für Deutschland, durchgesetzt; das 3-Prozent-Ziel wird angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine folgen.

Von Anfang an und immer wieder seit Beginn des Ukraine-Krieges gab es zudem fundierte militärische Kritik an Biden, etwa von General Hodges, an seiner zurückhaltenden Strategie aus Angst vor weiteren Eskalationen, mit denen Putin drohte. Kanzler Scholz schloss sich Bidens Besonnenheit gerne an. Trump kündigt inzwischen wieder Gespräche mit Putin an.

Trump ist unberechenbar. Er will Kriege beenden und nicht führen, so sein Versprechen. Welcher nachhaltige Friede in der Ukraine möglich ist, wird die große Frage für das nächste Jahr. Derweil geht die Vernichtung der ukrainischen Zivilbevölkerung vor Weihnachten noch intensiviert weiter, und die Frontabschnitte im Donbass wanken zusehends, so dass bis zum Ende des Jahres Russland noch große Geländegewinne erzielen könnte, um seine Verhandlungsmasse zu verbessern.

Im Indopazifik hat die USA inzwischen eine ‚zweite Nato‘ aufgebaut (Sicherheitspartnerschaft mit Japan, QUAD). Das Verhältnis zu China, das ebenfalls zunehmend als Friedensstifter in der Welt auftritt, ist angespannt, und die Sicherheitsgarantien für das demokratische Taiwan sind nicht so sicher, wie wir es uns im Westen beruhigend einreden.

China wird vielerorts als nicht-kolonialistische Macht wahrgenommen. Zwar vertritt es immer seine Eigeninteressen (und die stehen bei China traditionell, zuverlässig und konsequent an erster Stelle !), es wird aber auch in vielen Ländern, gerade des sogenannten ‚globalen Südens‘, als Akteur eingeschätzt und geschätzt, der für eine Weltordnung einsteht, in welcher die Souveränität der Staaten anerkannt ist. So interpretiert China und seine Kommunistische Partei auch das internationale Recht!

Der Westen wird beispielsweise in zahlreichen afrikanischen Staaten (und nicht nur dort) zunehmend kritisch gesehen, nicht zuletzt deswegen, weil sein Gesellschafts- und Sozialmodell nicht kompatibel ist mit afrikanischen Werten. Seine Identitätspolitik ist Wasser auf die Mühlen der Feinde der offenen Gesellschaft im afrikanischen Kontext.

Nordkorea, das ein strategisches Sicherheitsabkommen mit Russland geschlossen hat, wird nicht nur für Südkorea und Japan, sondern auch für die USA zu einer immer größer werdenden Gefahr. Der jüngste Test einer Interkontinentalrakete war ein deutliches Zeichen. So oder so wird die USA Kräfte nach Asien verlagern müssen. Ob dabei und inwieweit die Ukraine weitgehend Europa als eigenes Problem überlassen wird, ist noch offen.

Sicher ist lediglich, dass Europa schleunigst seine eigenen Verteidigungsfähigkeiten ausbauen muss. Polen unter Tusk geht Mitte November vor dem schwersten Winter in der Ukraine in die Offensive, zusammen mit den skandinavischen und baltischen Staaten. Auf sie ist Verlass. Polen investiert 5% seines BIP in Verteidigungsprojekte, mehr als jedes andere Nato-Land. Zusammen mit den USA, die in Polen Raketen stationieren, ist es willens und fähig, die russische Aggression abzuschrecken. Die Nato ist militärisch stärker als Russland. Die Hysterie vor der russischen Kriegsgefahr in Deutschland ist unnötig.

Bücher über das amerikanische Imperium gibt es viele. Der britisch-amerikanische Historiker Niall Ferguson (geb. 1964), eher als Wirtschafts-, Banken- und Finanzhistoriker bekannt, überrascht mit provokativen Thesen in seinem Buch „Das verleugnete Imperium. Chancen und Risiken amerikanischer Macht“ (2004). Er hat nicht zufällig auch eine große Biographie von Henry Kissinger verfasst (2015), der davon als Historiker und Realist strittig-unstrittig eine Menge verstanden hat. Treffend ist er als „amerikanischer Metternich“ (Fischer) bezeichnet worden.

Die Nachkriegszeit ist nun definitiv nach Bidens letztem freundschaftlichem Deutschlandbesuch, bei dem er aus der Hand des Bundespräsidenten den höchsten Orden bekam, abgeschlossen. Die realistische Schule der Welt- und Außenpolitik wird sich durchsetzen und gleichzeitig viel dazulernen müssen. Nach Trumps Wiederwahl wird sich die amerikanische Macht neu definieren. Siehe zum Beispiel: The End of American Exceptionalism, von Daniel W. Drezner, in: Foreign Affairs, November 12, 2024.

Ferguson strapaziert die Analogie zwischen dem britischen Empire des 19. Jahrhunderts mit dem ‚liberalen Imperium‘ USA, von dem dieses viel lernen könne. Das britische Imperium ist indes mitverantwortlich für ‚ewige‘ Konflikte, welche die Gegenwart mit buchstäblich gewaltigen Auswirkungen geerbt hat: Irak, Palästina und Pakistan/Afghanistan. Amerika leidet sodann noch heute am Vietnam-Syndrom mit 50 000 Toten, ein Erbe des französischen Indochinakrieges, und am Irak-Syndrom, das Bush Junior mit seinem völkerrechtswidrigen Krieg der Koalition der Willigen zu verantworten hat.

Bei allen drei bekannten Historikern (Todd, Kennedy, Ferguson), die hier kurz vorgestellt wurden, kann man sich fragen, ob es ihnen gelingt, gelehrte historische Analysen mit aufklärender Gegenwartspolitik zu verbinden. Fachlich ausgewiesene Historiker sind sie allemal, aber genügt das schon als politische Autorität? Wie schärft man den Gegenwartsblick? Eigene Urteilskraft muss hinzukommen, die aus Anschauung, Begegnung, Austausch und zuverlässiger Information gewonnen ist.

Diese gilt nun der Frage, wie man den Ukraine-Krieg beendet. Todd hält von Selenskis Siegesplan für 2025 nichts. Er sieht Russland auf dem Vormarsch und den Westen am Ende. Diese Diagnose untermauert er mit einer oberflächlichen Zivilisationsdiagnose von einem angeblich „nihilistischen“ Amerika in Anlehnung an Nietzsche, der diese Diagnose für Europa im Zusammenhang mit seiner Kritik an christlich geprägten Werten und der Gott ist tot-These gestellt hatte (Genealogie der Moral, 1887). 

Davon kann nun in Bezug auf das gesellschaftliche und politische Amerika bei aller Polarisierung keine Rede sein, gerade auch im Vergleich zu Europa. Prototypisch dafür sind sowohl der katholische Konvertit Vance wie der Lutheraner Tim Walz. Der neue ‚rechte Kommunitarismus‘ hat durchaus ambivalente religiöse Züge. Am Parteitag der Republikaner in Milwaukee wurde sogar gebetet. Gott hat Trump das Leben gerettet, damit er Amerika aus seinem Niedergang führen kann.

Auch die Beschreibung von Putins Stärke und der angeblich „schonende“ Umgang mit seiner Armee, die riesige Verluste an Menschen und Material erleidet, ist reichlich unangemessen. Die Nato sei schon immer im Krieg gegen Russland gewesen, lautet eine weitere These, womit Todd ein altes russisches Umzingelungsnarrativ bedient. Putin befinde sich deshalb in einem „defensiven Angriffskrieg“.

Todd liebt offenbar die Provokation und das Spiel mit Worten, was im Interview mit der NZZ am 29.10. deutlich wird („Die Russen werden diesen Krieg gewinnen. Und im Westen stellt man sich blind und redet über den Frieden“). Nicht alles kann und muss man jedoch ernst nehmen. Allenfalls von einem „offensiven Verteidigungskrieg“, wie ihn Israel führt, kann man sprechen.

Einen solchen möchte die Ukraine gegen Russland mit weitreichenden Waffen, die ihnen die westlichen Verbündeten aus Angst vor Eskalation verweigern, auch führen. Völkerrechtlich wäre er gedeckt, solange die Angriffe von russischem Territorium aus erfolgen.

Handelt Putin defensiv? Ja und Nein. Überall dort, wo das Russkij Mir und seine Ausläufer mit westlicher Kultur in Berührung kommen, zerfällt es. Denn Russkij Mir ist ein unattraktives Gesellschaftsmodell ebenso wie der chinesische totalitäre Überwachungsstaat oder die nordkoreanische Diktatur. Es gibt keine Freiheit zum Leben. Also ist es nur natürlich, dass solche Perspektiven zerfallen und die tyrannische Regierung ständig Aufstände der Freiheit befürchtet, die ansteckend wirken. Jede unschuldige Kinderzeichnung kann gefährlich werden.

Diesen Zerfall versucht der „neue Zar“(so Dugin) manu militari zu verhindern. Dabei hat er viel zu tun, um Weißrussland an seiner Seite zu halten, ebenso wie Georgien und Moldau. Die asiatischen Republiken dürfen ebenfalls nicht unabhängig werden. Eine militärische Niederlage der Ukraine hätte unausweichlich Auswirkungen im Verhältnis zu Russland, das als Mindestbedingung für seinen Frieden die annektierten Regionen fordert und einen Verzicht auf die NATO-Mitgliedschaft.

Es wäre nachgerade naiv anzunehmen, Russland würde diesen Erfolg nicht ausnutzen. Die historische Erfahrung belegt vielmehr leidvoll, dass militärische Schwäche bestraft wird. Deshalb sollte der Westen, entgegen der Hauptthese von Todd, die militärische Niederlage der Ukraine nicht hinnehmen in der Hoffnung, nachher wieder friedliche und gedeihliche Beziehungen mit Russland pflegen zu können. Davon träumt auch der deutsche Pazifismus.

Eher wird es umgekehrt verlaufen, dass der reale Zerfall durch noch schrillere Drohungen nach außen und größerer Repression nach innen aufgehalten wird mit ’nordkoreanischer Logik‘. Nordkorea hat, seitdem es mit Russland verbündet ist und inzwischen nicht nur Munition, sondern sogar Soldaten schickt, den Kampf gegen Südkorea und die USA intensiviert. Die Wiedervereinigung mit Südkorea wird per Verfassung für alle Zeit ausgeschlossen, und die Rüstung, mit technologischer Unterstützung aus Russland, eskaliert gefährlich.

Nach diesem Muster wird sich auch Russland als Militärstaat sui generis entwickeln, wenn nicht überraschende innere Entwicklungen dazwischenkommen. Atomwaffen nützen Russland gegen inneren Zerfall nichts, sie dienen allein der Einschüchterung des Westens. Es ist ein bewusstes Spiel mit den Ängsten, das sich nicht nur in Deutschland, auf das Putin mit seinem hybriden Krieg speziell zielt, politisch auswirkt.

Europa hat keinen Churchill. Selenski war zum Glück für die Ukraine ein kleiner Churchill im Kommunikations- und Medienzeitalter, der von den Amerikanern von Anfang an unterstützt worden ist. Man kann nur hoffen, dass die Trump-Regierung die „harte Antwort“, die Außenminister Blinken auf die nordkoreanische Eskalation verspricht (13. November), auch umsetzt.

Bildnachweis: IMAGO / Ukrinform