Einfach, aber schwer

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Zur Toleranzdiskussion gehört geradezu ihre permanente Infragestellung durch die Grenzen der Toleranz. Toleranz wird dauernd bestritten, je wichtiger sie als allgemeine Verhaltenstugend wird. Sie kommt kaum zur Ruhe, seitdem sie vom Rand her ins Zentrum der offenen, liberalen und modernen Gesellschaft geraten ist.

Dabei gibt es ebenso die beglückende Erfahrung der Toleranz, insbesondere für die Individuen in ihrer Gelassenheit wie in ihrer Entwicklung. Weniger die Ausschöpfung der Toleranz als Stärke und aktive Haltung, um etwa breite Bündnisse zu ermöglichen oder der Demokratie Räume zu eröffnen und Zeit für sie zu gewinnen, steht  jedoch oft im Vordergrund der Debatte als vielmehr die Grenzziehung bis hin zu aktiver Intoleranz, so als ob beides gegeneinander ausgespielt werden muss – die Toleranz sicherlich gegen die Intoleranz( das versteht sich von selbst), immer mehr aber auch die Intoleranz gegen die falsche Toleranz, wobei eine moralisierende Korrektheitsphilosophie die Regie übernimmt.

Wann wird eine offen ausgesprochene „zivilisierte Verachtung“ (Strenger 2015) gegenüber welcher Intoleranz nötig und wie sieht sie aus? Im Unterschied zum Ressentiment beruht diese Verachtung auf triftigen Argumenten. Zu Recht wird zwischen „Entzivilisierung“ und „Inzivilität“ unterschieden (Reese-Schäfer, Toleranz und Inzivilität, Jahrbuch Politisches Denken 2018). Inzivilität ist das Gegenteil von Zivilität, sie bezieht sich auf Zivilisation als Praxis im Sinne von Norbert Elias Zivilisationstheorie (1978). Das Ausgangsbeispiel von Reese-Schäfers Überlegungen zur Inzivilität ist der G20-Gipfel in Hamburg 2017, der aus dem Ruder lief.

„Entzivilisierung“ führt im Extrem zu feindseligen Einstellungen und Umständen bis hin zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen, die zur Inzivilität gehören. Nicht jede Entzivilisierung ist jedoch mit Inzivilität gleichzusetzen . Hier gilt es erheblich zu differenzieren mit grossen Folgen. Die zivilisatorischen Standards nach Elias, die sich auch und gerade in der Humanisierung des Staates niederschlagen, sind die folgenden:

– durch die Gewaltmonopolisierung des (Rechts-)-Staates soll der öffentliche Raum und die Sozialstruktur möglichst gewaltfrei werden; die Demokratie ist auf Gewaltverzicht angewiesen.
– Nicht nur die Verrechtlichung, auch die Affektkontrolle soll Gewaltattacken im persönlich- privaten Bereich hemmen und verhindern.
– Diese Affektkontrolle als Prozesse der Zivilisierung wird dabei immer stärker umgestellt von äusserem Zwang, auf Selbstzwang und Selbstkontrolle, zum Beispiel in der Erziehung.

Auch die reale kapitalistische, patriarchale und rassismusanfällige Gesellschaft einer verfassungsdemokratischen Bürger/Innengesellschaft ( als normative und teils implementierte Orientierungsfigur) ist nicht frei von Gewalt und Gewaltverhältnissen, wie zum Beispiel die schockierenden Zahlen sexualisierter Gewalt gegenüber Frauen und Kindern zeigen. Entzivilisierungssschübe gibt es allerorten und in verschiedenen Graden, auch im öffentlich- politischen Bereich. Neue Formen technologischer Gewalt bis hin zu hybrider Kriegsführung und technologischem Totalitarismus kommen international hinzu. Die zivile und sich zivilisierende Bürger/Innengesellschaft , einschliesslich ihres ‚guten Staates‘ und der Staatengemeinschaft, bleiben eine zivilisatorische Aufgabe.

Zivilität lässt sich auch unabhängig von Elias Soziologie handlungstheoretisch definieren als verantwortete Freiheit. Das heisst: Freiheit bedeutet nicht Rücksichtslosigkeit, die exzessiv mit Freisetzung von Gewalt verbunden ist. Zivilität als zivilisatorische Praxis, einzeln oder kollektiv, verbindet vielmehr Freiheit und Einschränkung, Freiheit und Zwang. Sie ist immer eine Freiheit in verschiedenen Kontexten, das heisst auch ein Verhalten gegenüber Natur und Mitmenschen, aus der spezifische Verpflichtungen erwachsen.

Die zivile Demokratie muss sich nicht nur durch Demokraten, sondern auch durch Institutionen verteidigen können. Darauf war ursprünglich das Konzept der wehrhaften Demokratie (‚militant democracy‘) nach den Erfahrungen mit den emotionalisierenden Massenbewegungen des Faschismus, des Nationalsozialismus und des Kommunismus zugeschnitten (Karl Loewenstein 1937). Das war eine eminente und bittsre Lernerfahrung mit neuen Medien, politischen Emotionen und charismatischen Führerfiguren, die heute nicht weniger (nur anders) gilt.

Totalitäre Bewegungen brauchen das laute Schlachtgetümmel, um propagandistische Wirkungen zu erzielen. Agitation ist eines ihrer Hauptworte. Der neue revolutionäre Emotionalismus ist mit rationalen Diskursen nur schwerlich einzuhegen oder gar zu bekämpfen, und ein demokratischer Emotionalismus als Gegenbewegung von Seiten der Regierung ist kaum zu organisieren. Ideenpolitische Auseinandersetzung allein reicht außerdem ebenso wenig wie legalistische Selbstzufriedenheit (Loewenstein). Sie alle unterschätzen die illiberalen Techniken der Emotionalisierung und organisierten Machteroberung.

Demokratien im Belagerungszustand müssen sich vielmehr mit Gesetzgebung und den vorhandenen Institutionen wachsam und rechtzeitig, besser: frühzeitig gegen ihre Selbstabschaffung wehren. Heute versuchen sie es gleichzeitig präventiv, repressiv und persuasiv durch Beratungsnetzwerke (wie das „Tolerante Brandenburg“ seit 1998).. Die Grundrechte dürfen von Antidemokraten nicht missbraucht werden. Die Grundrechte-Demokratie bildet den Kern der bundesrepublikanischen Demokratie.

Dieser historische antitotalitäre Konsens ist wiederzubeleben und angesichts neuer Herausforderungen zu aktualisieren. Die liberale Toleranz muss an diesem Punkt wieder kämpferischer werden. Inzivilität findet sich in verschiedenen politischen Lagern und Traditionen sowie in verschiedenen Gruppierungen und Schichten (Reese-Schäfer). Der ehemalige ostdeutsche Bundespräsident Gauck (2012-2017) hat deshalb mit seinem Votum recht, dass wir wieder eine bewusstere und breitere Debatte über Toleranz benötigen (2020) – sie ist “ einfach schwer“. Auch Gauck als Christenmensch hat sie -wie wir alle – neu gelernt, zum Beispiel als Offenheit und Wertebewusstsein in der Einwanderungsgesellschaft.

Ebenso ist für Gauck die politische Korrektheit als ‚Intoleranz der Guten‘ zum Problem geworden. Die Fragen, ob man überhaupt mit Rechten sprechen soll und wie man mit extremistischen Auffassungen umgeht, sind nicht erst seit 2015 ein alltägliches politisches Hauptthema in Ostdeutschland. Wichtig für die politische Urteilskraft, die der Fähigkeit zur Toleranz zugrunde liegt, sind dabei konkrete Themen wie „‚Rechts ist nicht rechtsradikal“‚, „das Feld des Nationalen nicht den Extremisten überlassen“‚ , „falsche Nachsicht gegen linke Gewalt“, Populismus und Extremismus, „besorgte Bürger und Nazis“, Islamismus als politische Religion, Antisemitismus und Rassismus, Verschwörungstheorien.

Die Arbeit am Urteilen besteht im genauen Hinsehen und Unterscheiden. Bloßes Etikettieren und vorschnelles Moralisieren hilft bei der politischen Auseinandersetzung nicht weiter. Fast monatlich kommen neue Fallbeispiele auf kommunalpolitischer, regionaler oder Bundesebene dazu, um die konkrete Urteilsfähigkeit zu üben. Bei den jüngsten Wahlen im Juni 2021 in Sachsen-Anhalt: „Abgrenzen, statt ausgrenzen“, beispielsweise. Ministerpräsident Haseloff war damit erfolgreich, indem er sowohl viele AfD-Wähler als auch viele Nicht-Wähler, die eine zu große Partei bilden, auf seine Seite der demokratischen Mitte zog.

Toleranz lässt sich lernen. Sie ist nicht nur eine Zumutung, sie stärkt und beglückt die Menschen auch, die sie erfahren. Dies gilt es weiterzugeben und in heterogenen Bündnissen der Vielen, die etwas bewirken, zu verbreitern und bestärken. Gauck plädiert mit gutem Beispiel für eine kämpferische Toleranz, die ansteckend wirkt und den Problemen nicht aus dem Weg geht: den Problemen der Fremdenfeindlichkeit, des Multikulturalismus, der Integration wie der migrantischen Intoleranz. Dabei geht es nicht nur um ein Thema unter anderen, denn

“ etwas hat sich tiefgreifend verändert im Land. Das Klima zwischen den Menschen ist rauer geworden.“(S.9)
Gauck spricht von „bösartiger Intoleranz“ und „Verweigerung von Affektkontrolle“, einer „Flut von Beleidigungen, Häme und Hetze“. Er bilanziert seine Beobachtungen und Erlebnisse folgendermaßen: „Zivilisatorische Schranken…erweisen sich zunehmend als unwirksam. Die Hemmschwellen sind gesunken“ (S.10). Von „Affektkoalitionen der Ressentimentgeladenen“ ist die Rede (Nachtwey 2017). Und Unterschichtenbeschimpfungen sind verbreitet.

Dies ist nicht weniger als ein falsifizierter Elias und entspricht Gaucks unmittelbaren Erfahrungen in seinen letzten Amtsjahren, wo er viel unter Leuten und in Gespräche verwickelt war. Begonnen hatte er seine Amtszeit hoffnungsfroh mit dem Thema der Freiheit, die sich die Ostdeutschen selber errungen haben. Sie ins Bewusstsein zu holen, ist unendlich viel wert. Dazu gehört aber auch nach liberalem Grundverständnis der zivile Wert der Toleranz, die selbstverständlich schien: „Wie ein altes Familienschmuckstück, geschätzt, aber wenig beachtet.“

Inzwischen ist für Bundespräsident Steinmeier (2017-2022) nicht zufällig die Demokratie zum dringlichen Hauptthema geworden, das bei Gauck zum Ende seiner Amtszeit zu großen persönlichen Enttäuschungen bei seinen Landsleuten („Dunkeldeutschland“) zum Beispiel in Dresden geführt hatte. Das war der zweite Schock nach dem Schock in Rostock-Lichtenhagen im August 1992, wo er ganz in der Nähe viele Jahre als Pastor gearbeitet hatte.

Gauck gelingt es abschließend, mit seinem klugen und gut lesbaren Buch aus aktuellem Anlass, die nötige Aufmerksamkeit für die Toleranz wieder zurückzuholen – kämpferisch für eine kämpferische Toleranz. Und das meine ich in erster Linie demokratiepolitisch!

Toleranz ist ebenso ein Gebot der politischen Vernunft. Sie eröffnet Spielräume für die Demokratie und ihre prozessualen Lösungsmöglichkeiten. Bewusste Demokraten benötigen kämpferische Toleranz für breite Bündnisse, neue Beteiligungsverfahren und Koalitionsbildungen ebenso wie für zivile Widerstände. Demokratie ist Prozess und Institution; Regierung, Parlament, Bürgerräte und direkte Demokratie; eine kombinatorische Demokratie, die ihre verschiedenen Elemente stärkt und Ebenen verbindet; Minderheitenschutz und Mehrheitsentscheid; Diskurs und Dezision, Politik der klugen Macht. Man sollte Demokratie und Politik in ihrer zivilen Komplexität nicht vereinfachen.

Ebenso sollte man sich nicht zu sehr beeindrucken lassen von den jeweils geltenden Regeln politischer Korrektheit, was vor allem im Rückblick klarer wird, denn jeder ist unwillentlich auch Kind seiner Zeit und ihrer Prägungen. Toleranz darf allerdings von der eigenen politischen Meinung nicht abhängig werden. Ihr Geist geht über Zeitgeist hinaus. Die Angst davor, als Antikommunist zu gelten, hat zum Beispiel die Kritik am realen linken Totalitarismus untergraben. So wie es eine falsche Toleranz gibt, gab und gibt es auch eine falsche Solidarität. Toleranz und Unabhängigkeit von Intoleranz bzw. Inzivilität gehören beide zur kämpferischen Toleranz, die wieder stärker zu verfechten ist.

Über Toleranz noch einmal vertieft nachzudenken bedeutet auch, über freiheitliche Demokratie und Demokratiepolitik neu nachzudenken. Kämpferische Toleranz ist die beste Demokratiepolitik. Sie muss wie diese offen, urteilsfähig und lernbereit bleiben. Viel wird davon abhängen, dass die Toleranteren mit den weniger Toleranten, die weniger Ressentimentbeladenen mit den Ressentimentgeladenen sich weiterhin auseinandersetzen können. Auf dieses Können kommt es in einer lebendigen Demokratie an.

Bildnachweis: Bild von Michael Jeske auf Pixabay