Der Bundespräsident wird für fünf Jahre von der Mehrheit der Bundesversammlung gewählt. Die Wiederwahl ist nur einmal zulässig. Am 13. Februar 2022 tritt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ein zweites Mal an. Er repräsentiert das Land nach außen und innen.
Im Falle von Gauck und Steinmeier wurde deutlicher, dass der Bundespräsident eine überparteiliche Stütze der demokratischen Regierung ist in kommunikativer Verbindung zur Bevölkerung und ihren Nöten. Er wirkt durch Reden, Ansprachen, Rituale, Präsenz und Empathie.
Diese Auftritte müssen für alle verständlich sein. Sie wiederholen oft Selbstverständlichkeiten, die nicht selbstverständlich sind, sie erinnern, mahnen und ermutigen. Sie artikulieren und fördern den vernünftigen Mehrheitskonsens. So bedankt sich der Bundespräsident in seiner Weihnachtsansprache 2021 bei der “ oft stillen Mehrheit“ für ihre Solidarität in der Pandemie, zugleich hebt er den guten Staat („unseren Staat“) hervor, der mehr Leben schützen muss als je zuvor.
Die Zivilreligion ist gleichwohl keine Staatsreligion weder im konfessionellen noch im übertragenen Sinne. Sie appelliert in einer liberalen Demokratie transkonfessionell und überparteilich an grundlegende Glaubensbekenntnisse der Bürger und Bürgerinnen. Insofern ist sie im genauen Sinn des Wortes eine Religion der Bürger, deren Einheit in einem Land sie imaginiert, anspricht und vertritt. Dies geschieht rhetorisch und emotional, aber nicht arational und unwirksam, versehen mit zahlreichen realen Anknüpfungspunkten.
Die Zivilreligion profitiert von den Religionen, in den USA und in Deutschland insbesondere von der christlichen, ohne noch für alle Religion zu sein. Es ist eine Zivilreligion mit und ohne Gott. Sie enthält Inhalte, Formen, Rituale und Symbole von Religion. Oft wird sie ökumenisch als zivilreligiöse Messe zelebriert.
Die zahlreichen Reden und Ansprachen von Bundespräsident Steinmeier sind mehr und etwas anderes als „Sonntagspredigten“. Sie decken ein großes Pensum und vielfältiges Spektrum ab von Ordens- und Preisverleihungen, Eröffnungen, Staatsbanketten und Festakten bis hin zu zahlreichen öffentlichen Interventionen. Im Internet werden fast 600 verschiedene Anlässe gezählt. Sie sind so facettenreich und vielfältig wie die bundesrepublikanische Zivilreligion. Es gibt Berührungspunkte und Allianzen mit der Institution Kirche und öffentlicher Theologie, aber es handelt sich doch um ein anderes und eigenes Feld.
Die Sonntagspredigten für die regelmäßigen Kirchgänger, über die sie auch unter der Woche gelegentlich noch nachdachten, sind für die meisten passé, ebenso wie ihr (partei-) politischer Einfluss. Die Säkularisierung lässt sich nicht stoppen, aber die vielfältigen religiösen Prägungen bleiben und sind oft verschüttet. Die Predigt in den Gottesdiensten spielt noch immer eine zentrale Rolle, es sind aber keine politischen Reden. Sie haben eine andere Semantik und Intention, sie handeln, wenn sie gut sind, von anderen, teils wunderlichen Dingen, die für das Leben der Einzelnen wichtig sein können.
Die politischen Reden des Bundespräsidenten sind dagegen exoterisch und mit tätiger Unterstützung für viele verbunden. Dazu gehören die Opfer von Antisemitismus (Halle), Rechtsextremismus (Lübcke) und Fremdenfeindlichkeit (Hanau) sowie islamistischem Terror (Breitscheidplatz). Der unaufhörliche Kampf dagegen ohne historischen Schlussstrich gehört zur Staatsraison der Bundesrepublik Deutschland. Staat und Zivilgesellschaft arbeiten bei allen Konflikten immer mehr zusammen, wenn es um die Förderung von Toleranz und die Stärkung der Demokratie geht, wozu bald auch ein Demokratiefördergesetz gehören wird.
Was das historisch-politische Selbstverständnis betrifft, so gehört zur bundesrepublikanischen Zivilreligion ein „normatives Modell des Westens“, wie es zum Beispiel das Lebenswerk des Historikers Heinrich August Winkler erarbeitet hat (Der lange Weg nach Westen, 2000, 2 Bde.; Geschichte des Westens, 2016, 4 Bde.), wofür ihm Bundespräsident Steinmeier am 16. März 2018 das große Verdienstkreuz verliehen hat. Winkler hat auch schon im Bundestag gesprochen, er ist Sozialdemokrat wie Steinmeier.
Steinmeier tritt 2017 als Bundespräsident im wiedervereinigten Deutschland in die Fußstapfen von Joachim Gauck, der als Theologe und Pastor in der DDR einen Schutzraum der Freiheit fand, der ihm innere Souveränität gewährte. „Freiheit“, sogar „Freiheit als Ziel der Politik“ (Arendt), wurde das Leitmotiv seiner Präsidentschaft. Auch Steinmeier versteht sich als Protestant, der Zuversicht und Dankbarkeit daraus schöpft, und zugleich als Präsident eines weltanschaulich neutralen Staates.
Er wirkt weniger pastoral als Gauck und mehr politisch professionell als ehemaliger Büroleiter von Schröder, Kanzleramtsminister, Kanzlerkandidat und Außenminister. Im Maschinenraum des politischen Betriebs kennt er sich aus, der als Jurist stets ruhig und unaufgeregt spricht. So konnte er den regierenden Parteien bei der Regierungsübergabe 2017 und 2021 die richtigen Worte der staatspolitischen Verantwortung mit auf den Weg geben. Seine Erfahrung kommt ihm bei der Erklärung und Verteidigung der Demokratie, die in der Bundesrepublik ein komplexes Verfahren ist, zugute. Das ‚Wartenkönnen‘ gehört dazu (Luhmann).
Was Bundesrepublik, der Parteienwettbewerb in einem Bundesstaat, für die Demokratie und die Zivilreligion bedeutet, macht Steinmeier am 12.2.2021 bei der 1000. Sitzung des Bundesrates klar: „Demokratie lebt von starken Institutionen.“ Sie geht weder in radikaler (aufgespreizter) Subjektivität oder Individualität auf noch in einem rücksichtslosen Mehrheitswillen, so wichtig auf allen Ebenen der Politik die Mehrheitsentscheidung als Entscheidungsprinzip ist. Und als Bundesstaat bleibt sie auf eine Solidarität des Bundes angewiesen.
Der Föderalismus muss nicht in ein Vetospiel der Unregierbarkeit führen, sondern lehrt in seiner Kompliziertheit, dass Demokratie auf allen Ebenen „ausgehandelte Gemeinsamkeit“ ist. Genauer: ihr Grundprinzip ist eine aktive Bürger/innenschaft, die zu gemeinsamen Beschlüssen nach den Erfordernissen der Zeit (im doppelten Sinne von ‚chronos‘ und ‚kairos‘) kommt.
Die kulturprotestantische Hintergrund-Philosophie wird bei Gauck und Steinmeier gleichermaßen deutlich. Auffällig sind bei beiden die häufigen Erinnerungen an die Reformation, aus deren Fundus sie schöpfen – der ‚Luthereffekt‘. Die Kraft der Reformation von der Konfessionsfreiheit hin zu einer Freiheit in Verantwortung hält Steinmeier nicht für erschöpft (Wittenberg, 20.5. 2017). Während Gauck, der Pastor, an der Demokratieverachtung vieler seiner ostdeutschen Landsleute zunehmend verzweifelte. Die persönlichen Beschimpfungen von Politikern, die er in Dresden selber erlebte, und die Aufrufe zur Gewalt empörten ihn zutiefst.
Die Freiheit der Demokratie wird deshalb immer mehr zu seinem Thema, bevor er aus Altersgründen das Amt an Steinmeier 2017 übergibt, bei dem die Verteidigung der Demokratie schließlich zentral wird und sich als roter Faden durch seine erste Amtszeit zieht. 2020 findet Gauck eine Antwort über das einfache theologische „Hell- und Dunkeldeutschland“ hinaus auf seine Frage, wie sich die Freiheit in der Demokratie behaupten kann: nur in „kämpferischer Toleranz“, so schwer diese oft fällt – einfach, aber schwer. Die Verrohung der Auseinandersetzungen wie der zivilisierte Streit haben in Deutschland seit den 90er Jahren gleichzeitig und gleichermaßen zugenommen.
Freiheit und Toleranz sind auch in der Reformationsgeschichte häufig marginalisiert und in ihr Gegenteil verkehrt worden. Der Lutheraner Hegel hat sie in einer höheren Form der Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit aufgehoben. Und der linke Schüler von Hegels Dialektik Marx und der Marxismus (von Engels) kannten mit ihrem ökonomischem Determinismus die ‚Gesetze der Geschichte‘, denen die späteren Regime mit dem Marxismus-Leninismus als Legitimationswissenschaft totalitär den Eigensinn der Einzelnen opferten. Warum sollten bei dieser theologisch inspirierten Geschichtsphilosophie, die das Ziel der Geschichte kennt, moderne Freiheit, liberale Toleranz und freiwillige Solidarität prioritär sein, welche eine moderne funktional differenzierte Gesellschaft im Ganzen nicht steuern können?
Steinmeier weitet das Thema Demokratie bei seinen Treffen im Schloss Bellevue politisch professionell aus: auf Facts gegen Fakes, den Zustand der Öffentlichkeit und die Herausforderungen durch die EU. Politiker und Bürger nehmen ihn gleichermaßen ernst.
Er ist kein großer Redner, aber er hält (kurze) große und wichtige Reden und lädt zu relevanten Diskussionen ein.
Besonders hervorheben möchte ich die Einrichtung des Onlineportals für bedrohte Kommunalpolitiker/innen am 29. April 2021. „Stark im Amt“ heißt es, es gehört für mich zum ‚Toleranten Brandenburg‘ als demokratiepolitisches Konzept. Zum 20. Jahrestag dieses Handlungskonzepts, das rechtsstaatliche Repression und Prävention mit zivilgesellschaftlicher Beratung und Unterstützung verbindet, hielt Steinmeier eine Rede in Cottbus (23.6.2018), die für die Aktiven ermutigend war. Demokratieresignation darf nicht aufkommen.
Die Rolle des Bundespräsidenten wird während der Pandemie-Krise noch einmal stärker – an der Seite der vorsichtigen Regierung, deren Mahnungen und Appelle er loyal unterstützt, wie an der Seite von Bürgerinnen und Bürger, die von der Pandemie betroffen sind. Die erste Veranstaltung zur „Bürgerlage“ findet am 11. 22. 2020 statt, die zweite am 22.6. 2021. Am 3. August 2020 richtet Steinmeier einen „Appell zur Rücksichtnahme“ an die Bevölkerung. Das sind (unvollständig) nur die offiziellen Termine.
Gespräche und Treffen mit Angehörigen und Betroffenen kommen dazu und finden ständig statt. Der Bundespräsident kümmert und informiert sich, er lobt und bekräftigt immer wieder die tätige Solidarität. Am 19.April 2021 lud er zum nationalen Gedenken an die Corona-Toten ein. Die bescheidene zivilreligiöse Messe wurde im Fernsehen übertragen.
Steinmeier bleibt bei seiner historischen und aktuellen Aufarbeitung von Orten der Demokratiegeschichte aufmerksam und engagiert. Am 15. Dezember 2021 stellt er sich öffentlich hinter den überraschend gefundenen Kompromiss der drei Häuser nach jahrzehntelangem, teils heftigem Streit um den Wiederaufbau der Garnisonkirche in Potsdam, dem größten Bauprojekt der evangelischen Kirche mit nationaler Bedeutung.
Dabei ging und geht es sehr strittig um die historische Rolle des Nationalprotestantismus, Militarismus und Widerstand, mithin um einen ganz besonderen Erinnerungsort gerade für eine protestantisch geprägte Zivilreligion, die selbstkritisch bleiben muss. Der Kompromiss sieht nun drei Häuser ohne das originalgetreue Kirchenschiff vor: den Turm, ein Haus der Demokratie und das Rechenzentrum, das aus der DDR stammt und heute ein Zentrum für Künstler und Kreative ist.
Das ‚Haus der Demokratie‘ in der historischen Stadtmitte könnte den Plenarsaal der Stadtverordnetenversammlung mit ihren Büros beherbergen sowie – als Kranz darum herum – Räume für die strukturierte Bürgerbeteiligung: Beteiligungsrat, interne und externe Werkstadt der Beteiligung, Beiräte für Migration, Senioren und Behinderung, Kinder- und Jugendbeteiligung, Bürgerhaushalt und Stadtforum.
Die Demokratie ist im Kern lokal und zentriert in einer lebendigen Bürgerkommune als Beteiligungskommune. Daraus, unter anderem, entwickeln Menschen ihren Bürgerglauben, überall auf der Welt. Es lohnt sich, daran weiterzuarbeiten, auch unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Steinmeier für die nächsten 5 Jahre.
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