Umfrageforscher sprechen vom knappsten Rennen seit Kennedy vs. Nixon (Welt, 2.10.). Präsident Jimmy Carter will seinen 100. Geburtstag noch erreichen, um Kamala Harris zur gewonnenen Präsidentschaft gratulieren zu können. Sie benötigt ein eindeutiges und deutliches Ergebnis.
Die ‚New York Times‘ spricht sich für Harris als einzig mögliche „patriotische Entscheidung“ aus, ebenso ranghohe Militärs, berühmte Schauspieler und der Popstar Taylor Swift, die viele Follower hat. Wenn nur ein Teil davon ihr politisch folgt, etwa von der jüngeren Bevölkerung, ist das eine erhebliche Unterstützung, die im knappen Rennen ausschlaggebend werden kann. Ein klarer Vorsprung war bisher nicht erkennbar.
Auch die Republikaner haben Taylor Swift umworben. Nach dem Fernsehduell Trump/Harris hatte sie ihre Unterstützung für Harris gepostet mit einem Foto von sich und einer Katze auf dem Arm – ein Doppelschlag! Elon Musk wiederum, der Trump unterstützt, hat auf seine eigene krude Art darauf reagiert.
Jeder kleinste Teil, der im Wahlkampf über die eigenen zementierten und polarisierten Lager hinaus noch dazu gewonnen werden kann, könnte entscheidend werden. Das gilt vor allem für die eng umkämpften Swing States bezüglich des Electoral College. Das ‚popular vote‘ ist nicht ausschlaggebend, sondern das sogenannte Wahlmännerprinzip.
538 Wahlleute sind es insgesamt, 270 braucht es, um Präsident/in zu werden. In 7 Bundesstaaten wird es sich entscheiden, sagen die Demoskopen: Wisconsin, Michigan, Pennsylvania, Nevada, Georgia, Arizona, North Carolina. Wer in einem Bundesstaat die Mehrheit der Stimmen erhält, bekommt die Stimmen aller Delegierten des Staates.
Auch das zweite Fernsehduell am 2. Oktober zwischen den Vizepräsidenten Vance und Walz bestätigt noch einmal die Spitzenkandidaten. Beide werben wie Musterschüler für ihre Präsidentschaftskandidaten geradezu penetrant.
Es ist ein Duell um die Zurechnung von Leistungen und Versäumnissen von vier Jahren Trump-Präsidentschaft und drei Jahre Vizepräsidentschaft Harris. Darum vor allem dreht sich der verbale Schlagabtausch.
Natürlich war in den vier Jahren Trump alles besser und in den drei Jahren Harris alles schlechter. Das ist die Ausgangsprämisse der durchgängig schwachen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Argumentationen. Über die Zukunft wird wenig gesprochen.
Insbesondere die „Flut illegaler Einwanderer“, die Krise aller Krisen für die Rechtspopulisten, hat Harris zu verantworten, was Vance, der Senator aus Ohio, ständig wiederholt. Während sie vieles nicht umsetzte, insbesondere die Mittelschichtförderung, die sie jetzt als ihr Programm ankündigt.
Ansonsten wird vieles lediglich nur andiskutiert und keineswegs ausdiskutiert. Walz, der Gouverneur von Minnesota, bringt immerhin das Argument, dass der Klimaschutz auch Arbeitsplätze schaffe. Das inhaltliche Niveau ist insgesamt schlecht, dafür ist zumindest das Diskussionsverhalten zivilisiert.
Präsident Biden erscheint außenpolitisch derzeit als ohnmächtiger Präsident – trotz aller diplomatischen Bemühungen – im eskalierenden Nahostkonflikt. Die erste Frage an Vance und Walz bei CBS News bezog sich schlagartig auf den iranischen Angriff auf Israel: „Würden sie einem Präventivschlag gegen den Iran zustimmen?“ Netanjahu würde sich das wohl wünschen.
Israel – zu viel oder zu wenig Unterstützung? – spaltet Teile der amerikanischen Bevölkerung und beschäftigt sie intensiver als der Ukraine-Krieg, der im 90-minütigen Duell nicht ein einziges Mal erwähnt wurde. Er scheint geografisch weit weg – ein ‚europäisches‘ Problem?
Normalerweise überwiegen im Wahlkampf ohnehin innenpolitische Themen. Die akuten realen Kriege und aktuellen Kriegsbedrohungen (China, Nordkorea, Iran) bedeuten zurzeit indes größte Herausforderungen an die amerikanische Außenpolitik und ihre weltpolitischen Führungsqualitäten sowie militärischen Kapazitäten. Sie stehen an einem Scheideweg (Biden).
Der ehemalige Außenminister Pompeo (2018-2021) beispielsweise kritisierte, dass Biden die Abschreckung vernachlässigt habe. Und Vance streicht besonders hervor, dass es in der Amtszeit von Trump keine Kriege gegeben habe.
Ist also der ‚Dealmaker‘ Trump der Friedensbringer? Wer traut hier wem welche schnellen Konfliktlösungen zu? Biden erscheint schwach, Harris ist noch ein Leichtgewicht. Viel wird von ihren künftigen Beratern abhängen. Wer ist das? Was sind ihre Pläne und Strategien?
Inwieweit diese drängenden Fragen einen Einfluss auf die Entscheidungen der noch unentschiedenen Wähler und der Wechselwähler haben, wird offen und unkalkulierbar bleiben wie die Wirtschaftsfragen, bei denen Biden zum Glück keine schlechten Zahlen vorzuweisen hat. Da ist es nicht so erheblich, ob die angeblichen Pläne von Harris auf diesem Feld überzeugen oder nicht.
Eine neue inhaltliche Hoffnungsträgerin wie ehedem Obama ist Harris ohnehin nicht, sondern eher eine Projektionsfläche für alles, was man an Personen wie Trump, der in seiner Reality-TV-Show lebt, die mit Gesten überzeugt, nicht mag. Deshalb bleibt ihr Programm auch relativ vage und unausgearbeitet.
Das kann als Wahlkampfstrategie zur patriotischen Mitte hin, die nicht aneckt, durchaus verfangen und erfolgreich sein. Sogar Harris muss öffentlich bekunden, dass sie eine Waffe besitzt und auf Einbrecher schießen würde. Das Thema „sichere Schulen“ nimmt nicht zufällig einen großen Raum ein in der Debatte zwischen Vance und Walz, die auf besorgte Eltern zielt.
Die Gewaltverhältnisse in der amerikanischen Gesellschaft, einschließlich der militärischen Waffen, die präsent sind (Trump ist mit einem Sturmgewehr angeschossen worden), sind brandgefährlich und bei anhaltender Polarisierung auch politisch mobilisierbar.
Fragen der Gesundheitsversorgung, der überteuerten Medikamente und fehlenden Wohnungen, der Steuerpolitik und der legalen Abtreibung stehen ebenfalls oben auf der Agenda der Demokraten. Gemeinsame Lösungen wird der Kongress finden müssen.
Der bodenständige „Coach Walz“ als typischer Amerikaner aus dem mittleren Westen weiß das, weshalb er den aggressiven Rechten Vance moderater und smarter erscheinen lässt, als er ist.
Erst am Schluss der Debatte, als sie auf den historischen 6. Januar 2021 zu sprechen kommen, wird deutlich, dass er ein Trumpist ist, dem demokratisch nicht zu trauen ist. Das war objektiv und offenkundig auch schon der schwächste Punkt von Trump in seiner Auseinandersetzung mit Kamala Harris und bleibt es auch. Bidens Vermächtnis ist es, die Demokratie zu verteidigen.
Trump ist in dieser wichtigsten Frage ausgewichen (siehe den Blog vom 13. September). Vance dreht den Spieß sogar noch um, indem er seinerseits Harris und die Demokraten beschuldigt, die „Demokratie zu bedrohen“, weil sie Zensur ausüben und die Meinungsfreiheit missachteten. Wer also sind die autoritären Demokraten? Vance ist ein Wolf im Schafspelz.
Chancen wollen sie alle schaffen, damit potenziell jeder den „amerikanischen Traum“ (vom Eigenheim!?) erfüllen kann. Das ist die gängige Rhetorik. Auf eigene Erfahrungen und Beispiele (Walz erwähnt immer wieder Minnesota !) wird dabei stets eindringlich verwiesen. Vance benutzt seine Herkunft als Argument.
Bei den Demokraten finden sich zusätzlich Spitzen gegen die Reichen und Milliardäre um Trump. Walz sieht sich ausdrücklich als Politiker für die Mittelschicht, Vance der Milliardär, auch als Vertreter der Arbeiter und ihrer Arbeitsplätze. Aus Links ist Rechts geworden.
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