Die beiden besten Reden, die ich von Angela Merkel hörte, hielt sie im europäischen Parlament. Ich bringe sie unter die Titel, die zugleich die These enthalten: „Die Seele Europas ist die Toleranz“ (13.11.2018) und „Grundrechte und europäische Solidarität“ mitten im Corona-Sommer 2020 (8.7.). Ich komme auf sie zurück.
Am 22. Oktober erhält die Kanzlerin in Brüssel einen Abschied, der selten einem Politiker auf internationaler Bühne zuteil wird – mit stehenden Ovationen und Lobesworten, die nicht mehr zu übertreffen sind. Ein EU-Gipfel ohne Merkel sei wie Rom ohne Vatikan oder Paris ohne Eiffelturm, so der belgische Ratspräsident Charles Michel. Die „Kompromissmaschine“ (Bettel) hinterlässt mehr als eine Lücke, während die neue deutsche Regierung noch in Koalitionsverhandlungen steckt.
Worauf beruhte ihr Vermittlungsgeschick, das auch bei ihrem letzten Gipfel – nach mehr als hundert Sitzungen in 16 Jahren – gefragt war? Der fundamentale Konflikt um die Justizreform und die Rechtsstaatlichkeit in Polen droht zu eskalieren. Einig ist man sich nur darin, dass das Überleben der Union (einmal mehr) bedroht ist. Einmal mehr geht es um die Grundsatzfrage: Souveräne Nationalstaaten versus europäischer Superstaat, nationales versus europäisches Recht. Als Schweizer kennt man diese Diskussion, nur ist die Schweiz im Unterschied zu Polen oder Ungarn nicht Mitglied der Europäischen Union. Wie also soll der existenzbedrohende Streit weitergeführt werden?
Diesbezüglich gehen die Meinungen auseinander: die Gegner Polens unter den europäischen Abgeordneten sehen den Entzug von EU-Geldern mithilfe der Rechtsstaatsklausel vor, die Pragmatiker der EU befürchten demgegenüber eine Blockade, wenn Polen seinerseits die Drohung wahrmacht, gegen Entscheidungen, die einstimmig fallen müssen, das Veto einzulegen.
Bisher hat der Europäische Gerichtshof sein Urteil noch nicht gesprochen, ob die Rechtsstaatsklausel mit den Verträgen vereinbar ist oder nicht. Und weiterhin ist unklar, wen das erste Verfahren treffen wird? Polen oder Ungarn? Rumänien oder Griechenland? Bislang hat die EU noch kein wirksames Druckmittel gegen die Aushöhlung von Rechtsstaat und Demokratie gefunden. Und wer definiert überhaupt die Kriterien dafür?
Merkel mahnte bei der Gelegenheit einmal mehr, dass der Konflikt nur im Dialog gelöst werden kann. Viele missbilligen, zusammen mit großen Teilen der polnischen Bevölkerung, die proeuropäisch eingestellt ist und dafür sogar auf die Straße geht, die Beschädigung des demokratischen Rechtsstaats (genauso in Ungarn), manche teilen aber auch die Argumente, die Polens Premier Morawiecki in Straßburg vorgebracht hat gegen den generellen Vorrang europäischen Rechts vor nationalem Recht.
Merkel vermisste in der Debatte im europäischen Parlament, bei der sich Polen nicht gerade beliebt machte, den „nötigen Respekt“ und zeigte „Verständnis“ auch gegenüber der polnischen Position, die viele EU-Skeptiker in Europa teilen. Kommissionspräsidentin von der Leyen wiederum versucht mit der Drohung, EU-Gelder entziehen zu wollen, unter bestimmten Bedingungen noch Brücken zu Polen zu bauen. „Wir lassen uns nicht erpressen“ (Morawiecki). Neben diesem Grundsatzkonflikt gibt es seit 2015 die große Baustelle der ungelösten Migrationskrise sowie die neu aufbrechende Energiekrise und die daraus resultierenden Abhängigkeiten, welche auch die neue deutsche Regierung beschäftigen werden.
Bundeskanzler Scholz wird sich ohnehin schon bald zu Europa ebenso grundsätzlich wie konkret äußern müssen. Hier gibt es einerseits eine große Kontinuität und zugleich schwierige neue Aufgaben sowohl im Verhältnis zu Warschau wie zu Paris. Wird Scholz bestimmte Vorstellungen von seinem gescheiterten Vorgänger, dem Europa-Politiker Schulz wieder aufnehmen, die dieser ins Europa-Kapitel des damaligen Koalitionsvertrages der Großen Koalition geschrieben hatte? Er wollte 2017 noch einmal den Prozess einer europäischen Verfassung vom Konvent bis hin zur Volksabstimmung auch in Deutschland wiederholen, der 2005 mit den Volksabstimmungen in Frankreich und der Niederlande gescheitert war.
Und wie sieht Macrons „Neugründung Europas“ genauer aus? (26.9.2017). Deutschland hat bisher darauf nicht reagiert. Auch im Begriff der ‚europäischen Souveränität‘ spiegelt sich die Ambivalenz der europapolitischen Ambitionen von Staatspräsident Macron, der schon nächstes Jahr wiedergewählt werden muss. Auf der einen Seite ist allen Akteuren in Europa bewusst, dass sie sich hinsichtlich des globalpolitischen Konflikts USA-China neu aufstellen müssen.
In diesem Zusammenhang kann eine stärkere europäische Souveränität in wirtschafts-, technologie- und verteidigungspolitischer Hinsicht als Metapher dienen, wobei das besondere transatlantische Verhältnis ( Nato, strategische Autonomie, nukleare Teilhabe) noch unerörtert bleibt. Die außenpolitischen Interessen von Deutschland und Frankreich sind unterschiedlich gelagert.
Auf der anderen Seite ist europäische Souveränität ein unpräziser, ja fehlleitender Begriff der politischen Semantik. Denn was soll europäische Souveränität heißen, wo doch die europäische Union ein Versuch ist, sich ein multinationales Regelsystem zu geben? Die Mehrheit der Bevölkerungen und in den Bevölkerungen wünschen sich keinen souveränen europäischen Staat, er ist das Projekt einer kleinen technokratischen Elite in Paris und Brüssel und alles andere als demokratietauglich.
Respekt ist die selbstverständliche Voraussetzung von Toleranz, die wiederum keineswegs selbstverständlich ist. Offenheit und Dialog resultieren daraus, die zu kompromissfähigen Lösungen auch bei schwierigen Konflikten führen können. Die Kultur des Kompromisses hat viele Voraussetzungen. Dafür stand Merkel, die Mittlerin zwischen Ost und West, in unzähligen Krisengesprächen mit einer seltenen Kondition und Disziplin. Kann das in „Zeiten eines wachsenden Nationalismus“ noch funktionieren?
„Es wird zur Zeit immer schwerer, und ich bin durchaus besorgt. Wir haben jenseits von Euro, Schengen, Migration auch das Problem: Was soll die Europäische Union sein? Eine ‚ever closer union‘, also eine immer mehr zusammenrückende politische Union? Oder doch wieder ein Gebilde von Nationalstaaten, die durch einen wirtschaftlichen und vielleicht noch digitalen Binnenmarkt verbunden sind, wo aber ansonsten jedes Land gesellschaftspolitisch seinen eigenen Weg geht? Aus meiner Sicht ist es ein Handlungsimperativ, dass alles getan werden muss, einen Weg zu finden, um Europa zusammenzuhalten“ (Merkel in: SZ, 23./24.Oktober 2021).
Merkel hätte an der Stelle von ‚ever closer union‘ auch sagen können ‚ever closer cooperation‘. Konflikte können aufgrund fragwürdiger Begriffe hochgeschaukelt werden, denn bessere Kooperation bedeutet nicht zwangsläufig Kompetenzverlagerungen nach Brüssel. Fragwürdige Begriffe, welche eine ebenso fragwürdige Polemik gegen einen ‚Superstaat‘ anheizen, sind ‚europäische Souveränität‘, ‚postnational‘ und ‚föderale Republik‘.
Sie führen Europa nicht zusammen, sondern spalten (so Winkler, in: FAZ, 21.10.2021). Seit vielen Jahren wiederholt der sozialdemokratische Historiker Heinrich August Winkler, der auch schon im Bundestag gesprochen hat, seine Einschätzung, dass der „postklassische Nationalstaat“ nicht mit einer „postnationalen Demokratie“ (Bracher, Habermas) verwechselt werden darf.
Jüngst wieder die Erinnerung: „Die europäische Einigung ist ein antinationalistisches, aber kein antinationales Projekt. Es will die Nationen nicht überwinden, sondern überwölben. Ein Europa, das seine nationale Vielfalt aufgeben wollte, gäbe sich selbst auf“ (FAZ, 21.10.2021). Nur postklassische Nationalstaaten können bislang die demokratische Legitimation der nationalen wie der europäischen Politik verbürgen. Der Verfassungsentwurf des Konvents 2003 war auf eine Föderation von Nationalstaaten bezogen, was das Bundesverfassungsgericht „Staatenverbund“ nannte. Supranational, postnational und transnational sind mithin zu unterscheiden.
Vielfalt erfordert Toleranz, womit wir bei der ersten beeindruckenden Rede von Merkel sind: „Europas Seele ist die Toleranz“ (13.11.2018) ), die ein Licht wirft auf die Hintergrund-Philosophie, aus der die Wertschätzung des Kompromisses resultiert. Voller Stolz
hält Angela Merkel diese Rede vor dem „größten demokratischen Parlament der Welt“ mit 751 Abgeordneten aus 28 Staaten, welches in 24 Sprachen debattiert. 2007 hatte sie zum ersten Mal von der Vielfalt gesprochen, „die uns eint, nicht teilt“. Der „grundlegende Wert“ dabei ist: „die Toleranz, die Seele Europas“.
Diese Seele wird drangsaliert durch die Staatsschuldenkrise, aber auch durch Terrorismus, Kriege, Flüchtlingsprobleme u.a. Der Brexit sodann bedeutete einen tiefen schmerzhaften Einschnitt in der Unionsgeschichte. Toleranz sieht Merkel zurecht als eine Voraussetzung dafür, auch die Bedürfnisse der Anderen zu sehen und deren Entscheidungen auf dem Hintergrund ihrer Traditionen zu verstehen. Aus der Toleranz erwächst die Solidarität, die eine Union umso mehr braucht, je grösser die Herausforderungen und Schwierigkeiten werden. Merkel, die gescholtene Nicht-Visionärin, blickt zurück auf die einst „visionären Projekte“ wie gemeinsamer Binnenmarkt, Schengenraum und Euro.
Der Bezug zur Solidarität wird noch einmal stärker und grösser hin zu einer historisch außergewöhnlichen Solidarität in ihrer zweiten großen Rede am 8.7.2020 mitten in der Pandemiekrise, „der größten Bewährungsprobe seit dem 2. Weltkrieg“. Deutschland übernimmt die Ratspräsidentschaft und hat zugleich, gemeinsam mit Frankreich, einen Wiederaufbaufonds von 500 Milliarden Euro zustande gebracht. In dieser Rede ist besonders auffällig die starke Betonung der Grundrechte, wie sie in der europäischen Grundrechtecharta festgehalten sind. Die Pandemiekrise hat gezeigt, wie kostbar sie sind.
Bei aller Vielfalt bilden die Grundrechte, die für alle gelten, die gemeinsame politische Identität Europas und erweitern die liberale Verfassungsgeschichte um die Grundwerte der Würde (Art.1) und der Solidarität (Art.4). Sie sind Erbe und Vision zugleich. Als Mittler und Vermittler in die Länder hinein sieht Merkel die europäischen Parlamentarier.
Das Parlament ist der Ort, um noch Kompromisse erreichen zu können, was immer schwieriger wird unter Bedingungen einer technisch veränderten, schnellen politischen Kommunikation.
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