Die Welt neu sehen lernen

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Die geographische Nähe spielt eine existentielle Rolle, wenn wir die Welt beziehungsweise einen Ausschnitt davon wahrnehmen. Das ist auch legitim. Die Dringlichkeiten ordnen wir selber.

Für die Europäer waren die Jugoslawienkriege in den 90er Jahren mit der langen schmerzhaften Belagerung von Sarajewo – der multikulturellen Metropole, quasi dem Inbegriff von Europa – nahe, manchem politisch sogar besonders nahegegangen, weil der funktionierende Vielvölkerstaat aus der widerständigen Zeit des 2. Weltkrieges und als Modell eines ‚Selbstverwaltungssozialismus‘ großen politischen Kredit genoss bis hinein in programmatische Diskussionen der europäischen Sozialdemokratie.

Der allmähliche Zerfall dieser Illusionen seit den 80er Jahren nach Titos Tod zwang dazu, wieder genauer hinzusehen, die konfliktreiche Vielfalt der Regionen und Kulturen und mehr als nur die eigenen Vorurteile zur Kenntnis zu nehmen. Heute werden die Staaten, welche seit langem in die EU drängen, wieder sichtbarer: Serbien, Montenegro, Nordmazedonien, Albanien, Kosovo, Bosnien-Herzegowina.

Geographie, Geschichte, Aktualität

Der Ukraine- Krieg zwingt uns aktuell dazu, obwohl Europa ‚den Balkan‘ noch immer nicht kennt, Osteuropa insgesamt, einschließlich Russland, genauer in den Blick zu nehmen – geographisch, historisch und politisch. Wir lernen, die Welt neu zu sehen:

– Dabei sollte man sich in einem ersten Schritt nicht zu schade sein, die Landkarte in die Hand zu nehmen, um zu wissen, wo die Orte mit den vielen Geschichten, Städte, Regionen und Länder sind. Nach der Geographie als erster Orientierung kommt die Geschichte, von der man nie genug wissen kann, um zu verstehen:

  • Geschichte, die Identitäten prägt. Die Gegenwart, die unser neuerliches Interesse an Geschichte (der Ukraine und Russlands zum Beispiel) weckt, geht aber in Geschichte nicht auf, also müssen wir uns unweigerlich auch mit unserer Gegenwart, in die wir involviert sind, beschäftigen:
  • Die aktuelle Gegenwart absorbiert unsere Aufmerksamkeit und oft auch unsere Kraft, so dass wir auf eine gewisse Arbeitsteilung auch im Wissen und dessen Übernahme angewiesen bleiben. Ereignisinflation und Medienüberflutung haben außerdem immens zugenommen.

Sie erleichtern und erschweren gleichzeitig die Rezeption, die so zunehmend auch eine ohne Bewusstsein wird. Die bewusstmachende Kritik bleibt notwendig. Wieviel können wir überhaupt aufnehmen und verarbeiten? Schwierige ethische und erkenntnistheoretische Fragen der Indifferenz und Ignoranz stellen sich, die wir selbst beantworten müssen. Eine buchstäblich gewaltige unbewältigte Geschichte ragt in die Gegenwart hinein und nimmt uns gefangen.

Für beides – Geschichte und Gegenwart – haben wir nur begrenzt Zeit, und wir interessieren uns als engagierte Beobachter für die Welt jeweils von einem bestimmten Ort in Raum und Zeit aus. In einem gewissen (Aus-)Maße, das in der wissenschaftlich-technischen Zivilisation grösser geworden ist, bleiben wir ‚weltfremd‘. Dazu kommen die modernen Medien der Vermittlung, die selektiv sind. Die Komplexität lässt sich in den Medien nicht abbilden. Sie sind zudem als Geschäftsmodell mehr an Aufmerksamkeit als an Wissen interessiert.

Was wissen wir heute von der Welt ohne Medien? Welche Bilder sehen wir im Fernsehen? Welche Bücher, Zeitschriften und Zeitungen lesen wir? Und welchen Einfluss hat das Internet und unser Umgang mit ihm? Was wissen wir vom Hörensagen? Die Umgebung im weitesten Sinn des Wortes, einschließlich der konsumierten Medien und der sozialen Milieus, wirkt wie ein Filter für Weltkomplexität, steigert und reduziert sie zugleich.

Die Sowjetunion war lange für viele ein ‚gutes Imperium‘, das für ‚Frieden und Sozialismus‘ in der Welt stand, ähnlich wie die USA als ‚wohlwollender Hegemon‘ für ‚Freiheit und Demokratie‘. Die Bündnissysteme wirkten sich jedoch nach innen verschieden aus mit großen Wirkungen bis heute. Der Kommunismus war anfangs eine planetarische Utopie.

Für Lenin war klar, dass er nur erfolgreich sein würde, wenn die Weltrevolution gelingt. Ein Sozialismus in einem Land, gar in einem rückständigen Land, konnte nur scheitern. Aus der Diktatur des Proletariats wurde eine Diktatur der Partei über das Proletariat und schließlich die Diktatur des Diktators, des gottgleichen Stalin. Der Stalinismus ist bis heute in Russland nicht aufgearbeitet. Am 2. Februar 2023 wurden zum 80. Jahrestag Wolgograd wieder in Stalingrad umbenannt und neue Stalinbüsten enthüllt.

Die Sowjetunion wurde dennoch internationalistisch zum „Heimatland aller Werktätigen“. Nichts hat Chruschtschow bei seinem zweiwöchigen Amerika-Besuch im Herbst 1959 mehr erstaunt und frappiert, wie die Reaktion der dortigen Arbeiterschaft, die sich vom Kommunismus nichts erhoffte.

In der Konkurrenz um das Paradies auf Erden hatte die irdische Religion des Kommunismus verloren, also verlegte man sich auf den Weltraum bis es zum Sputnik-Schock, der dem Westen imponierte, kam. Die Sowjetunion wurde nach dem 2. Weltkrieg als Atommacht eine Weltmacht und hat dies nach 1991 an Jelzins und Putins Russland übergeben. Wir leben noch immer im Atomzeitalter, daneben sind andere Epochenkennzeichnungen sekundär.

Das verschaffte der Sowjetunion auf wissenschaftlich- technisch- militärisch-industriellem Gebiet nach Stalins Tod 1953 noch einmal Reputation. Die Technikfaszination ersetzte Gott, und man sprach, auch wissenschaftlich seriös, in den 60er Jahren von der Systemkonkurrenz.

Dies war auch und gerade im Verhältnis DDR und BRD so, und die Sozialwissenschaften stellten der DDR in manchen Punkten des Systemvergleichs kein schlechtes Zeugnis aus. Die ‚arbeiterliche Gesellschaft‘ (Engler) setzte auf die wissenschaftlich-technische Intelligenz bis hin zur Kybernetik als Steuerungswissenschaft und auf die Jugend, die nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 allerdings nicht mehr zu begeistern war. Die harte Breschnew-Doktrin der begrenzten Souveränität setzte sich durch.

Vor allem Wissenschaftler und Intellektuelle, welche den westlichen Kapitalismus und ‚Amerikanismus‘ als oberflächliche ‚materialistische‘ Lebensform kritisierten, verklärten oder rechtfertigten zumindest die Sowjetunion bei aller Kritik als eine Macht, welche Unterdrückung, Kolonialismus und Rassismus abschafft oder „strukturell“ schon abgeschafft hatte :

„Der schlechteste Sozialismus ist besser als der beste Kapitalismus“, so der berühmte marxistische Philosoph Georg Lukács in den 60er Jahren des ‚Amerikanischen Jahrhunderts‘. Dazu ist das ’sowjetische Jahrhundert‘ (Schlögel 2017) die Kontrastfolie. Der Sozialismus als (Welt-)System hatte einen antifreiheitlichen Kern.

Dabei wurde vieles, vor allem die Gewalt ausgeblendet. Die total Aufgeklärten gingen wie ideologisch Verblendete durchs Land. Das Imperiale und Koloniale dieses gleichmacherischen Sozialismus der ’sowjetischen Menschen‘ wurde gar nicht erst wahrgenommen:

„Die meisten Wissenschaftler waren vor allem in Moskau und höchstens noch in Leningrad/Petersburg unterwegs, schon weil dort die Archive konzentriert sind. Wenn sie in Georgien und Zentralasien geforscht haben, lernten sie in den seltensten Fällen die lokalen Sprachen und reproduzierten stattdessen russische Narrative. Die Unterdrückung von Kulturen wurde ausgeblendet und in eine Fortschrittserzählung verwandelt“, so die Osteuropa-Historikerin Botakoz Kassymbekova (Berliner Zeitung 5.3.2023)

Die Rolle der akademischen Autorität selbst, die gerne belehrend auftritt, wird nicht infrage gestellt: „Die akademische Welt reproduziert oft koloniale Hierarchien.“ Die kasachische Historikerin führt weiter aus: „Wenn man schaut, wer aus der ehemaligen Sowjetunion an westlichen Universitäten russische Geschichte unterrichtet und darüber publiziert, dann sind das meistens Menschen aus Moskau und Petersburg. Ukrainische, kasachische und tschetschenische Stimmen dagegen werden kaum gehört.

Russische Wissenschaftler gelten oft als Experten für ganz Osteuropa und sogar für Zentralasien und den Kaukasus, sie werden als solche eingeladen und gehört, dabei haben sie einen kolonialen Blick auf diese Regionen. Wissenschaftler von dort werden dagegen nie eingeladen, um über Russland zu sprechen, obwohl sie Russland aus einer ganz anderen Perspektive kennen“ (a.a.O.). Es kommt darauf an, mit wem man spricht. Das gilt generell, aber auch ganz besonders für heikle Themen wie Dekolonisierung oder Nationalismus.

„Es ist ein imperiales Standardnarrativ, die nach Unabhängigkeit Strebenden als gefährliche Nationalisten abzustempeln. Über Russland ist dieses Narrativ in den Westen gekommen. Genau wie die Erzählung, es handle sich bei den Tschetschenen um islamistische Terroristen und Banditen“ (a.a.O.).

Die Tschetschenen sind 1944 nach Zentralasien deportiert worden wie andere Nationalitäten auch: „die Wolgadeutschen, die Krimtataren, Inguschen, Karatschaier, Kalmücken und Balkaren.“ Die Dekolonisierung hat nur teilweise stattgefunden, zum Beispiel in Kirgistan und Kasachstan, das sich heute langsam auf einen eigenen Weg zwischen Russland und China begibt (a.a.O.).

Dieser antiimperiale, antikoloniale, antirassistische Blick ist wichtig und überaus lehrreich. Der Ukraine- Krieg zwingt uns dazu. Gleichzeitig überschätzen die Europäer die Bedeutung dieses Krieges, der uns aufrüttelt. Dies musste auch Kanzler Scholz erfahren, als er den brasilianischen Staatspräsidenten, seinen Parteifreund Lula um Unterstützung bat. Die Welt ist nicht Europa.

Im Raum erfahren wir die Zeit

Wo man sich aufhält, so sieht man die Welt und was man von ihr erfährt. Im ‚ europäischsten‘ Kontinent Lateinamerika spielt der Ukraine-Krieg tatsächlich kaum eine Rolle. Was vor allem beschäftigt, ist in Argentinien die Inflation, in Kolumbien die Korruption und in Ecuador die Gewalt in den Städten.

Die russische und chinesische Propaganda wirken sich weltweit aus, nicht nur hier. Der Antiamerikanismus tut sein Übriges. Nur Utopisten und Fanatiker glauben, dass alle ihrer hypermoralischen Weltanschauung folgen. Oft hat eine solche Weltanschauung nur, wer die Welt im Kleinen wie im Großen nicht zur Kenntnis nimmt. Aufklärung bedeutet insofern, zur Kenntnisnehmenkönnen, was der Fall ist.

Realismus nennen wir dagegen diejenige politische Theorie, welche entgegen verführerischer simplistischer Tendenzen, die Komplexität zu reduzieren, den Blick in die Welt zu schärfen und zu verbessern versucht. Er ist keine Anleitung zur bequemen und flexiblen Anpassung an die herrschenden Verhältnisse, sondern bedeutet im ethischen wie erkenntnistheoretischen Sinne eine Aufmerksamkeitssteigerung. Das betrifft auch und vor allem die vielen Einzelnen, die selbstbestimmt leben wollen.

Wer unterwegs ist (das muss keine Weltreise sein!), offen und neugierig bleibt, lernt dazu. Gleichzeitig wird einem im informativen Austausch und der persönlichen Begegnung bewusster, wieviel man nicht weiß. Das schützt vor theoretischer und politischer Besserwisserei, denn in Wahrheit glauben wir viel und wissen wenig.

Deshalb gilt noch immer, wenn auch unter anderen Umständen, das Lebensmotto von Vaclav Havel vom ‚Versuch, in der Wahrheit zu leben‘, was schließlich zur samtenen Revolution in der Tschechoslowakei führte. Die Reflexion ist eine sanfte Macht, die Bornierungen durchbrechen kann.

Dabei muss man sich zuallererst an die eigene Nase fassen, denn kennen ‚wir Europäer‘ Europa? – : den Balkan, Osteuropa, das Mittelmeer, welches die Römer ‚ mare nostrum‘ nannten, wo gerade das letzte Land des arabischen Frühlings, Tunesien, mit seiner Demokratie zu scheitern droht. Es ist brennende Aktualität, dass die ganze Region vom Mittelmeer bis zur Sahelzone immer mehr ins Rutschen kommt.

Aber beginnen wir vor unserer eigenen Haustüre in der Region Berlin-Brandenburg in der neuen Mitte Europas. Studierende, die hierherkommen, sollten zuerst die Landkarte zur Hand nehmen, um zu sehen, wo sie sind, bevor sie die Geschichte vertiefen und die tagespolitischen Auseinandersetzungen suchen. In der mit Abstand größten und schwierigsten Stadt Deutschlands, umgeben von einem großen und größtenteils dünnbesiedelten Flächenland mit seinen zahlreichen Dörfern und (Ackerbürger-) Städtchen. Der Kontrast könnte kaum deutlicher sein.

Eine vor allem verwaltungstechnisch begründete Fusion mit ihrem unbekannten, von der Hauptstadt der DDR wie der neuen BRD gebeutelten Land lehnten die Brandenburger 1996 in einem Volksentscheid ab. Das neue Bundesland teilt zudem eine lange Grenze entlang der Oder mit dem großen, ebenfalls weitgehend unbekannten Nachbarland Polen. Auch hier ist der Kontrast deutlich und in anderen Hinsichten herausfordernd.

Man gewinnt den Eindruck, dass ‚die Deutschen‘ mit dem Rücken zu Polen leben, während das umgekehrt nicht der Fall ist. Dazu kommt aus historisch-politischen Gründen viel zerstörtes Vertrauen. Der neugierige und produktive Austausch mit den benachbarten Städten Poznan und Wroclaw findet nicht derart statt, wie es sein könnte. Die Vision einer gemeinsamen Zukunft wächst auf regionaler Ebene, auch grenzen – überschreitend, zum Beispiel in der Metropolregion Stettin.

Beginnen wir also bescheiden und bleiben bescheiden, aber aufmerksam und innovativ: „Im Raume lesen wir die Zeit“ (Schlögel 2003) – geographisch, historisch und aktuell sowie translokal, transregional, transnational und transkulturell. Eine räumlich gesehene Welt ist reicher, komplexer und mehrdimensionaler (S.15), was ein sinnvoller Ansatz ebenso nötiger wie schwieriger Zivilisationsgeschichte gegen die Gewalt ist.

‚Trans‘ heißt unterwegs sein. Das kann durchaus im Ort und vor Ort sein, um die Welt zu erfahren und durchlässig für sie zu bleiben. Lernen wir also, nach dem Ende der Großen Erzählung, die Welt wieder neu zu sehen.

Bildnachweis: Assenmacher, CC BY-SA 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0, via Wikimedia Commons