Die Welt im Umbruch 

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Der Staatsbesuch von Xi Jinping in Moskau am 21. März hat Bedeutung für die ganze Welt, und die ganze Welt schaute zu, bis hinein in die beeindruckenden Räume der großen Herrschaft mit ihrem Zeremoniell, den langen Wachsoldaten an den schweren goldenen Türen, die ihre Hälse verdrehen wie eine Eule, wenn der kleine Zar eintritt. 

Am Wochenende hat Putin den herrschaftlichen Kreml kurzzeitig verlassen und erstmals die besetzten Gebiete im Ukraine-Krieg besucht. Zuerst war er überraschend auf der Krim, in Sewastopol, dem legendären Zentrum der Schwarzmeerflotte eingetroffen. Kurz zuvor gab es einen brisanten Luftzwischenfall über dem Schwarzen Meer, wo russische Kampfflugzeuge eine amerikanische Aufklärungsdrohne zum Absturz brachten, was US-Militärs für ein „unprofessionelles Manöver“ hielten. Russland betrachtet die Region als sein Territorium. Der amerikanische Generalstabschef Milley reagierte sofort: „Wir suchen keinen militärischen Konflikt“. 

Ständig ist heute von Zeichen und Signalen wie auf hoher See die Rede, in einer Zeit, in der kaum noch persönlich miteinander geredet wird und auch gar keine Zeit dazu verbleibt. Von der Wirtschaft über das Militär bis zur Politik geht es nur noch und vor allem um „schnelle Entscheidungen“. 

Es ist deshalb schon beruhigend, wenn man hört, dass der amerikanische und russische Verteidigungsminister, Austin und Schoigu, miteinander telefoniert hätten. 

Das altmodische sagenhafte „rote Telefon“ aus dem Kalten Krieg gibt es immer noch. Den Kalten Krieg indes meinte man überwunden zu haben. Stattdessen ist in der Jetztzeit von einem neuen Kalten Krieg die Rede und einer multipolaren Welt, deren Gegensätze wachsen. 

Putins Angriffskrieg auf die Ukraine hat die Welt schlagartig wieder militarisiert. Der neue Generalinspekteur der Bundeswehr Carsten Breuer meinte, „es gehe darum, den Krieg in Deutschland denken zu müssen, ihn denken zu können, damit er nicht eintritt.“ Dabei steht Altbekanntes wie der klassische Infanteriekrieg in Schützengräben im Zermürbungskrieg an einer langen Frontlinie in der Ostukraine neben neuen Formen des Cyber- und Informationskrieges. Die hybride Kriegsführung ist heute ein weites Feld. Allein in dieser Welt sich zurecht zu finden, wird für eine neue Verteidigungs- und Sicherheitspolitik überall schwierig. Die nationale Sicherheitsstrategie dafür ist in Deutschland bezeichnenderweise noch nicht erarbeitet. 

In Demokratien müssen zudem Bürger an einer soliden Landesverteidigung beteiligt sein, nur schon deshalb, weil sie sehr viel Geld kostet, was wieder an anderen Orten fehlt. Das 2 Prozent-Ziel der Nato hat inzwischen erst sieben von 30 Mitgliedern erreicht, und muss laut Stoltenberg schnell erheblich ambitionierter werden. Die Nato setzt auf Aufrüstung und Abschreckung gegen Russland. Dafür hat Deutschland eine Verantwortung inne, aber keine Führungsrolle, ebenso wenig wie Frankreich. Deutschland und Frankreich sollten sich vielmehr den europäischen Nordosten zum Vorbild nehmen. Das genügt. 

Sprechen wir an dieser Stelle aber zuerst von der Gipfelebene, aus Anlass des Xi Besuchs in Moskau. 

Ein zweites Bild sandte Putin zuvor aus der schwerstzerstörten Stadt Mariupol, „dem Zufluchtsort für alle, die es im Donbass nicht aushielten“ (Schlögel). Das Staatsfernsehen zeigte Putin mit Bürger/innen, die über ihre neuen Wohnungen schwärmten. Wie schon das zerstörte Grosny wird auch diese Stadt am Assowschen Meer von Russland auf seine Weise wieder aufgebaut. Die Zerstörungen nach dem Urbanizid werden nicht gezeigt, seine Spuren sollen schnell und gründlich verschwinden wie auch die Erinnerung daran. Wo bleiben die vom Krieg Vertriebenen? Wie sollen sie wieder integriert werden? In welche politischen Strukturen? 

Mariupol ist jetzt russisches Staatsgebiet, und der russische Staat kümmert sich um den Wiederaufbau. Genau das soll der eigenen Bevölkerung und der Welt vor dem Xi-Besuch vermittelt werden. Gleichzeitig wird damit ostentativ deutlich gemacht, dass über die annektierten Gebiete nicht mehr verhandelt wird. Vielmehr ist die Anerkennung des neuen russischen Staatsgebiets als Kriegsbeute die Voraussetzung dafür, dass es überhaupt zum Frieden kommt. Putin erklärte sich unter diesen Bedingungen stets offen für Verhandlungen, was er auch gegenüber Xi sofort zum Ausdruck brachte, der als möglicher Friedensvermittler auf der Weltbühne erscheinen will. Das gelang schon zwischen Saudi-Arabien und dem Iran. 

Wie allerdings lässt sich diese russische Position von Recht durch Stärke mit der territorialen Integrität in Chinas 12 Punkten für den Frieden vereinbaren? Souveränität und Menschen-/ Bürgerrechte sind zwei Seiten einer Medaille. Sie sind zugleich der grundlegende Baustein einer internationalen Friedensordnung. Die strategische Partnerschaft, an der Russland und China, die Freunde Putin und Xi, wie sie sich selbst nennen, seit längerem arbeiten, zielt aber auf eine neue Weltordnung, die nicht mehr von den USA bestimmt wird. China sieht sich zudem als Partei des globalen Südens. 

Die wechselseitige Rückendeckung, gegebenenfalls auch militärisch, für die prätendierte Weltmachtrolle in Konkurrenz zu den USA steht im Vordergrund und nicht der Ukraine-Krieg, den beide nicht einmal so nennen. Auch hier, nicht nur auf Seiten des Westens gibt es einen Zusammenhang von Werten und Interessen. Es werden bestimmte Werte beansprucht und die eigenen nationalen Interessen durchgesetzt. 

Das ist keine selbstquälerische Frage für Russland und China, die beide extrem nationalistisch und imperialistisch sind. Die beiden absoluten Herrscher sehen ihre Länder nicht als Autokratien wie ihre Antipoden, sondern beanspruchen ebenfalls die Demokratie (Demokratie als Scheinetikette) und bekräftigen sich genau darin, in Absetzung freilich von der „schädlichen“ amerikanischen Demokratie und ihrem Hegemonieanspruch nach dem vermeintlichen „Ende der Geschichte“ 1989. Xi hat dafür am 6. März scharfe Worte gefunden, und Außenminister Qin Gang warnte: die Chinapolitik der Vereinigten Staaten werde “ katastrophale Folgen“ haben. 

Xi, der eben noch vom Volkskongress ohne eine Gegenstimme gewählt worden ist, ist davon „überzeugt, dass Putin nächstes Jahr wiedergewählt wird“. Putin selber sah sein Land lange als „gelenkte Demokratie“, jetzt ordnet er alles dem Krieg unter: „Alles für den Sieg!“. 

Beide Führer sehen sich bestätigt (Duma, Volkskongress) und von einer großen Bevölkerungsmehrheit getragen. Es gibt keinen Führer ohne diese Masse, in der viele Einzelne sich in Bezug auf die imperiale Größe der Nation etwas grösser fühlen können. 

Wang Huning, der Denker hinter Xi, unternahm 1988 mehrere Reisen durch Amerika. Seine Frage war stets, wie hält das zusammen? (Tagesspiegel, 3.3.2023). Die Frage des Zusammenhalts ist auch bei uns in den letzten Jahren auffällig inflationär geworden. Wie sein großer Vorgänger der französische Aristokrat Alexis de Tocqueville im 19. Jahrhundert (1831/32) beobachtete der Kommunist Wang als Nicht-Demokrat mit scharfem Tatsachenblick, der gleichermaßen erstaunt und kritisch ausfällt. Beide schrieben Bücher darüber: Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika 1835 und Wang, America against America, 1991. Es ist eine aufschlussreiche Übung in politischer Theorie, Sätze aus beiden Büchern miteinander zu vergleichen und sich zu fragen, wer sie geschrieben hat: Tocqueville oder Wang? ( siehe FAZ 22.3.2023). 

Woran muss man glauben, um die liberale Demokratie für möglich zu halten? Freiheit und Demokratie gehen für China nicht zusammen. Das Experiment der Freiheit wird nicht eingegangen, das der sozialen und ökonomischen Gleichheit für ein großes Land sehr wohl. Auf den Sieg über den Hunger ist man stolz. Die liberale Demokratie hingegen wird mit Individualismus, Anarchie, Unruhe und Tumult assoziiert (Tiananmen 3./4. Juni 1989). Die kulturelle Dekadenz sei eine Folge davon (so sieht es auch die „russische Welt“). Und vor allem: eine demokratische individualistische Gesellschaft, wie sie schon Tocqueville beschrieben hat, ist nicht regierbar! 

Die Vermittlung im Ukraine-Krieg ist ein freundliches Angebot, spielt aber für China keine Hauptrolle. Xi bekräftigt vielmehr bei seinem Moskau-Besuch, dass er auf Putin setzt, der 2024 wiedergewählt werden soll. Wie Putin seinerseits das chinesische Angebot liest, können daraus keine Friedensverhandlungen entstehen. Die Positionen bleiben im Frühling, nach überstandenem harten Winter, vielmehr erst recht verhärtet und in der Sache konträr. Xi, der den Angriffskrieg Russlands nie verurteilt hat, konnte und wollte diese Prämissen nicht verändern. Alle Hoffnungen haben getrogen. Nicht einmal ein Telefonat mit Kiew, worüber spekuliert worden ist, hat stattgefunden. Putin ist vielmehr nach Peking eingeladen worden. 

Der Krieg auf dem buchstäblichen Schlachtfeld mit Bachmut als beredtem Symbol geht unvermindert weiter, ebenso Drohnenangriffe auf nicht- militärische Ziele wie Schulen und Wohnheime. Dieser Drohnenkrieg, auf den zunehmend gesetzt wird, ist neu und günstiger als Raketen. Die Munition wird auf beiden Seiten zum Problem, soviel wird tagtäglich verschossen. Neue Formen der Alltagsnormalität neben dieser absurden Anormalität des Krieges, der im ganzen Land die Sirenen heulen lässt, setzen der Bevölkerung zu. Nirgendwo ist man sicher. Das kann man Terror nennen.

Der Krieg könnte sogar noch eskalieren im Zuge der Lieferung von Kampfjets und Angriffen auf die Krim. Die schweren westlichen Panzer, die eine Gegenoffensive ermöglichen, treffen erst allmählich ein. Verteidigungsminister Schoigu sprach während des Besuchs aus China davon, dass die Stufen zum atomaren Konflikt weniger werden. Nicht einmal in dieser Hinsicht kann Xi die Welt beruhigen, was angesichts der militärischen Zuspitzungen im südchinesischen Meer, wo China täglich westliche Aufklärungsflugzeuge in brenzlige Situationen verwickelt, nicht verwundert. 

Viel zu wenig nimmt Europa zur Kenntnis, wie aggressiv dort die vermeintlich freundliche chinesische Außenpolitik, die mehr als Russland auf einen funktionierenden Welthandel angewiesen ist, auftritt. Allein die Entwicklung des Verhältnisses zu Australien in den letzten zehn Jahren spricht Bände. Der U-Boot-Pakt von USA und GB mit Australien verärgert China. Er ist Teil des neuen Sicherheitsbündnisses „Aukus“, das sich für einen offenen und freien Indopazifik einsetzt. 

Australien soll mit der Zeit eine eigene Atom-U-Bootflotte aufbauen können als strategisches Gegengewicht zu China, das inzwischen (schnell und fast unbemerkt) die größte Marine der Welt hat . China benötigt hier die Rückendeckung Russlands für den militärischen Konflikt mit den USA genauso wie diese, die Allianz mit Japan, den Philippinnen, Indonesien, Südkorea und Australien zügig ausbaut und Manöver durchführt. Hier dreht sich die Rüstungsspirale. 

Während des Besuchs von Xi in Moskau besuchte der japanische Premierminister Kishida gleichzeitig Kiew. Er ließ sich auch durch Butscha führen und war tief beeindruckt. Japan hat seinen verfassungsmäßigen Pazifismus aufgegeben und rüstet gewaltig auf, ähnlich wie Polen in Europa, das Himars-Raketen an der russischen Grenze stationiert. Japan unterstützt die Ukraine nicht militärisch, wohl aber humanitär und ökonomisch. Der Wiederaufbau verschlingt schon jetzt enorme Summen, die sich noch steigern werden. Der ersehnte EU-Beitritt wird absehbar nicht so schnell kommen, wie er erwartet wird. 

Indien spielt als größte moderne Demokratie noch einmal eine ‚geozivilisatorische‘ Sonderrolle im weltweiten Kulturkampf der Demokratien. Kooperationen werden, gerade auch von Deutschland, emsig gesucht und neue Bündnisse werden versuchsweise gebildet, die zweifelsohne regional- wie weltpolitisch eine zukunftsträchtige Rolle spielen. Strategien stoßen dabei aufeinander. Die USA haben ihre Indopazifik-Strategie, China und Russland eine strategische Partnerschaft, die USA und Europa ein atlantisches Bündnis. 

Wären die betroffenen Staaten im Pazifik nicht so verschieden, könnte man sogar von einer ’neuen Nato‘ sprechen. In Europa ist die Nato als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg wieder erstarkt, nachdem sie vor kurzem noch als „hirntot“ (Macron) erklärt worden ist. Das sind alles in allem keine beruhigenden Entwicklungen, zumal weder Russland noch China auch nur zu den geringsten Legitimitätskonzessionen bereit sind. Im Gegenteil: China reagiert besonders empfindlich und gereizt auf jeden Schritt: jüngst auf den ersten Taiwan-Besuch eines deutschen Regierungsmitglieds seit 26 Jahren (Stark-Watzinger): „Die Reise nach Taiwan ist ein ungeheuerlicher Akt“ (Wang Wenbin). 

Taiwan ist jedoch kein Büttel der USA, es hat den Ukraine-Krieg aufmerksam verfolgt und seine eigenen Konsequenzen daraus gezogen. Der Taiwan- Kenner Stephan Thome spricht von der „Helmut-Schmidt-Schule der totalen Taiwan-Ignoranz“ (im Tagesspiegel, 20.3.2023, S.17). Dabei ist Taiwan „eigentlich ein linker Traum: eine Demokratie, die eine Diktatur überwunden hat, regiert von einer Single-Frau aus einfachen Verhältnissen, die sich für indigene und queere Menschen einsetzt, ein Sozialstaat mit Gewerkschaften und Zivilgesellschaft“ (Tagesspiegel, a.a.O. ). 

Die Welt, nicht nur Europa, ist im Umbruch. Beides hängt freilich miteinander zusammen, weshalb man sich mit der Welt im Ganzen, welche die ambitionierte und gefährliche Politik der Supermächte im Auge haben, wieder beschäftigen muss, auch als kleines Land und aus der Froschperspektive. Das ist natürlich eine Überforderung, aber manche Entwicklung bahnte sich schon seit längerem an (z.B. die weltwirtschaftliche Herausforderung durch China). Diese werden aber erst jetzt unter dem Druck von Notständen zur Kenntnis genommen. Eine globale Finanzkrise wie 2007/2008 würde zum Beispiel alles noch einmal überschatten Das heißt in der Konsequenz: Wir müssen auf die neue Krisenrealität antworten und können nicht vor ihr fliehen oder resignieren. Welche Krisen sind wie beherrschbar? ist zur vordringlichen Frage geworden. 

Das betrifft in unserer geographischen Nähe wegen des Ukraine-Krieges das besondere historisch-politische Verhältnis Deutschlands zu Russland (siehe Financial Times, 22.3.2023). Das betrifft aber auch das neue ‚great Britain‘ nach dem Brexit, das von großen Streiks erschüttert wird und in Churchill-Manier die Ukraine wie die USA gleichermaßen vorbehaltlos unterstützt. Es betrifft ebenso die alte ‚grande nation ‚ mit ihrem ‚Alleinherrscher‘ Macron, der seiner Bevölkerung unter heftigen Protesten gerade eine Rentenreform aufdrückt. Von überallher ist auf die Welt mit einem hegemonial-imperialen Blick geschaut worden. Diese Welt fällt nun in Stücke auseinander, die wieder neu zur Kenntnis zu nehmen sind. 

Auch Frankreich, das stets in der zivilisatorischen Missionskonkurrenz der Menschenrechte mit den USA stand, befindet sich seit vielen Jahren in einer Mehrfachkrise. Politisch ist das überkommene Präsidialsystem der V. Republik zu nennen, in der die parlamentarische Demokratie keine große Rolle spielt. Dazu kommt der Konflikt zwischen den global vernetzten Eliten in den Zentren und der Bevölkerung auf dem Land. Die Bedeutung von Frankreich schwindet zusehends durch die Schwerpunktverschiebung von Westeuropa nach Osten und vom Atlantik zum Pazifik. Das Ende von „Franceafrique“ kommt hinzu. 

Die Welt in Asien, Australien, Europa und Afrika ist im Umbruch mit Folgen, die uns noch lange beschäftigen werden.

Bildnachweis: IMAGO / SNA