Die ersten Wahlplakate, die in Potsdam hängen, noch vor dem 1. Januar, sind von der MLDP, der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands, die internationalistische Liste. Man beachtet sie, weil es sonst an den grauen Laternenmasten noch nichts zu sehen gibt.
Die Marxisten-Leninisten von heute, die bei Wahlen nicht einmal einen Prozent erreichen, wollen, dass der „Sozialismus wieder groß wird“ (great again), dass die „Mieten bezahlbar sind“ und die „Reichenprofite kleiner werden“. „Arbeiter in die Offensive!“, heißt es. Auch der markante Kopf von Karl Marx, das „Original der Kapitalismuskritik“, wird wieder auf die Plakate gedruckt.
Diese Ideen und Schlagworte haben einmal in den 60er und 70er (Koenen: „das rote Jahrzehnt“ in Deutschland) viele kluge Köpfe auf der Welt beherrscht, viel zu lange und viel zu sehr. Man glaubt es kaum mehr. Heute bewegen sie nur noch eine ideologische Sekte. Der Systemtheoretiker Luhmann sprach von den „erloschenen Vulkanen“ des Marxismus.
Am 4. Januar hängen überdies auffällig schon knallgelbe Plakate der FDP, die auf eine Veranstaltung mit Christian Lindner vor dem Brandenburger Tor hinweisen. Auch sie braucht dringend Aufmerksamkeit, die „einzige Partei des Liberalismus in Deutschland“ (Lindner 6.1.), nachdem sie bei den Landtagswahlen in Brandenburg auf das Niveau der „Tierschutzpartei“ gesunken ist.
Am 5.1. hängt auch schon wieder das Plakat mit dem ganzen Kopf von Bundeskanzler Scholz: „Mehr für dich“, „Besser für Deutschland“. Daneben hängen die blauen Plakate der AfD mit einem Mix an Parolen „Für den Frieden“, aber auch „Zeit für Wald und Wiese, statt Wind und Solar“, was auf die Dunkelflaute anspielt, die alle mitbekommen haben. Die AfD ist allerdings auch die einzige Partei, die auf ihren Plakaten explizit „für Meinungsfreiheit“ und „mehr Demokratie“ eintritt. Es wird genau zu beobachten sein, ob und wo sie damit zulegen kann.
Zum ersten Mal seit dreißig Jahren erlebe ich sodann, am 5.1., ein Sonntag in Potsdam, auch wieder einen Hausbesuch bei der Wahlwerbung. Von einer jungen Grünen, die den Einzug in den Landtag im September ebenfalls nicht schafften. Sie war allein, mit zwei Prospekten, freundlich und gesprächsbereit. Zuvor waren die Grünen an einer Kenia-Regierung beteiligt. Das Ergebnis des polarisierten Wahlkampfs im September war ein Schock, der in der Folge zum Rücktritt der Parteispitze führte.
Das sind die Frühstarter, die noch die ganze Aufmerksamkeit für sich haben. Am 6. Januar, dem Dreikönigstag am Ende der Weihnachtsferien beginnt schließlich die heiße Phase des siebenwöchigen kurzen Wahlkampfs, und die Laternenmasten werden wieder bis obenhin zugepflastert sein und auf den Marktplätzen werden die Stände der Parteien stehen.
Der Wahlkampf hatte freilich schon unmittelbar mit dem Zerbrechen der Koalition begonnen und den gegenseitigen Schuldzuweisungen, insbesondere der SPD gegenüber der inzwischen geradezu verhassten FDP mit ihrer „neoliberalen Ideologie“ (Klingbeil).
Die Ampel-Regierung konnte nicht bis zum Herbst 2025 durchhalten, was man sich als Anhänger der schwierigen Fortschrittsregierung und in der gegenwärtigen Weltlage gewünscht hätte. „Ampel-Aus“ wurde vielmehr zum deutschen Wort des Jahres, nachdem es lange genug herbeigeredet und herbeigeschrieben wurde.
Bundespräsident Steinmeier musste schließlich zerknirscht erklären, dass das Scheitern einer Koalitionsregierung (zumal eines Dreier-Bündnisses, erstmalig in der Geschichte der Bundesrepublik) keine „politische Katastrophe“ sei. Fürwahr nicht, es ist europäische Normalität.
Aber natürlich gibt es spezifisch deutsche Umstände, und der Wunsch nach politischer Stabilität ist ausgeprägt. Disruptive Veränderungen wünscht man sich nicht, man hat ohnehin genug an Veränderungen zu verarbeiten – ein „Staat, der funktioniert“, ganz elementar hinsichtlich der inneren Sicherheit und Infrastruktur ist bezeichnenderweise das anspruchsvolle Minimum geworden. Das „Modell Deutschland“ gibt es nicht mehr.
Die Liberalen wollten eine „Wirtschaftswende“, wie damals 1982 schon die FDP mit dem Lambsdorff-Papier gegen Helmut Schmidt. Die SPD und die Grünen sahen die wirtschaftspolitischen Probleme anders. Man konnte sich nicht mehr einigen, auch aus der viel beschworenen staatspolitischen Verantwortung heraus nicht. Und die SPD empörte sich schließlich über die D-Day-Strategie der FDP (bzw. deren Desaster), die Fortschrittskoalition platzen zu lassen. Politisches Vertrauen ist verloren gegangen.
Kanzler Scholz entließ schließlich seinen Finanzminister Lindner und stellte die Vertrauensfrage, um Neuwahlen herbeiführen zu können, die eigentlich keine der drei Koalitionsparteien wollte, da sie in einer schlechten und gegenüber der Bevölkerung außerordentlich ungeliebten Ausgangsposition sind: wenn nicht die „schlechteste“, dann doch die „ungeliebteste“ Regierung ever! Die Wahrheit ist manchmal schmerzhaft.
Traut man solch einem Kanzler noch einmal die Führung zu? Die SPD startet denkbar schlecht, was die Chance für den bald 70-Jährigen eloquenten und hartnäckigen Friedrich Merz ist, der erst im dritten Anlauf Parteivorsitzender geworden ist. Die CDU/CSU machte sich mit einem neuen Grundsatzprogramm (Mai 2024, Leitkultur und christliches Menschenbild) wieder anheischig, Kanzlerpartei zu werden, was sie immer war. Ihr Vorsprung ist mit über 30 % groß, die Zahl der Großspenden auch, und er müsste aller Voraussicht nach bis zum 23. Februar reichen.
Die FDP dient sich zudem schon wieder der CDU als Steigbügelhalter für eine neue Regierungskoalition an, falls sie die 5 % Hürde noch einmal schafft. Mit ihr gibt es die größten Schnittmengen in der Wirtschaftspolitik, die an Erhards „Wohlstand für alle“ anknüpfen soll. Bürgerliche Politik steht hier ausdrücklich gegen sozialdemokratische Politik, die sich ebenso um die Unternehmen bemüht. Wachstum, um verteilen zu können, und die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft stehen im Vordergrund. „Schlimmer als ein Kipppunkt des Klimas ist der Kipppunkt deutscher Wettbewerbsfähigkeit“ (FAZ, 7.1., S.1).
Die CSU sodann will partout nicht mit den Grünen, mit „Garantie“(Söder), während sich die Grünen eine Koalition mit der CDU durchaus vorstellen können, ja zum Teil sogar wünschen. Kanzler Scholz dagegen glaubt unverdrossen, den Vorsprung von Merz‘ CDU noch einmal – wie das letzte Mal – aufholen zu können. Geht es also um Merz oder Scholz?
Mit dieser Zuspitzung versucht natürlich die SPD parteipolitisch, den Wahlkampf zu lancieren, die sehr wohl erneut für eine Groko infrage kommt, dann allerdings ohne Scholz. Wieder stehen von vornherein bestimmte Koalitionen als mögliche Regierungskoalitionen und Kanzlerkandidaten zur Wahl. Das ist, grob gesagt, die Ausgangslage, die auch für das Ergebnis keinen politischen Aufbruch erwarten lässt.
Auf die deutsche Christdemokratie, eine der wenigen Volksparteien, die in Europa übrig geblieben ist, käme jetzt besonders an – von der Wirtschaft aus gesehen ohnehin, innen – und vor allem außenpolitisch nach dem Amtsantritt von Donald Trump ebenso. Kann sie solchen Erwartungen noch gerecht werden oder spiegeln ihre Zustimmungswerte lediglich die Schwäche der anderen?
Bei der Wirtschaftskompetenz wird der CDU ohnehin am meisten zugetraut. Aber auch hier fehlt schon im Wahlprogramm vieles, was ein Politikwechsel, der lediglich großspurig angekündigt wird, bedeuten könnte. Es fehlt eine Rentenreform sowie die seriöse Gegenfinanzierung der versprochenen Wohltaten ebenso wie der Abbau der grassierenden Subventionspolitik. „Merz springt zu kurz“, heißt es am 24. Dezember 2O24, in einer gründlichen Analyse (NZZ, S.15). Das Programm bekennt sich sodann weiterhin zur umstrittenen Schuldenbremse.
Die AfD verliert inzwischen in der deutschen Sicherheits- und Außenpolitik alle Hemmungen. In Europa herrscht Krieg und Parteichef Chrupalla meint bereits, „dass Russland den Krieg gewonnen habe“. Da muss eine bürgerliche Partei ganz besonders dagegenhalten können und den „Wählern mehr zumuten“, so der Leitartikel am 21. Dezember (NZZ, S.1). Die Wahrheit ist oft eine Zumutung.
Der forsche Merz wollte einmal die AfD halbieren, die als einzige Partei auch für „mehr Demokratie“ wirbt. Im Nachbarland Österreich ist gerade die Brandmauer gegenüber der FPÖ zerbrochen, die im Herbst Wahlsieger mit 29 % geworden ist. Bei der ÖVP dauerte es keinen Tag. Die defizitäre Parteiendemokratie ist für negative Überraschungen gut, weshalb die Bürger inzwischen auf Wahlversprechen (etwa bezüglich Steuern) nicht mehr viel geben, was nichts Neues ist.
Die Entfremdung zwischen Bürgern und Parteiendemokratie, die mehrere Ursachen hat, wird immer größer. Deshalb ist auch der Aufbau einer Freund-Feind-Spannung zwischen den (unabwählbaren) „Parteien der demokratischen Mitte“, die zu einem homogenen Block zusammengeschweißt werden, gegen „Radikale“ am Rand, die verboten werden sollen, problematisch. Demokratische Auseinandersetzungen in der Breite und Tiefe sollten anders laufen.
Der grüne Bundespräsident van der Bellen beauftragt am 6. Januar „Volkskanzler“ Kickl, den er vor Kurzem noch als „gefährlichen Extremisten“ bezeichnet hatte, mit der Regierungsbildung, nachdem ein Verhandlungskompromiss zwischen ÖVP, SPÖ und den liberalen Neos gescheitert war. „Kickl will die Verantwortung“, so van der Bellen bei seiner Begründung nach einem längeren Gespräch.
Wie lange noch kann in Deutschland ein Szenario wie in Österreich vermieden werden? Das ist eine berechtigte Frage, spätestens, wenn die nächste Regierung ebenfalls scheitert. Man sollte sich theoretisch frühzeitig damit beschäftigen.
Ist, wenn die Parteien versagen, eine Expertenregierung möglich (wie erfolgreich in Italien: Draghi u.a.), was in Deutschland noch ein ferner Gedanke ist? Oder zwingen die demokratischen Parteien die Justiz, die AfD doch noch zu verbieten, wenn es denn gelingt? Van der Bellen hätte in der Regierungskrise auch Neuwahlen ausrufen können. Die Rolle des Bundespräsidenten, die in Deutschland oft und gerne belächelt wird, wird in solchen Situationen für das ganze politische System zentral – siehe Italien und jetzt Österreich.
Bei Neuwahlen hätte höchstwahrscheinlich die FPÖ, die radikaler ist als die AfD (Remigration ist Programm), noch mehr Stimmen dazugewonnen und wäre möglicherweise auf 35 % gekommen. Die Probleme, wirtschaftlich, gesellschaftlich und demokratietheoretisch, sind ähnlich wie in Deutschland. Die CDU ist indes nicht die ÖVP, ihre Brandmauer steht noch, welche die AfD als undemokratisch attackiert. Ihr Hauptgegner ist die CDU, die wiederum im Grunde die einzige Kraft in der real existierenden Parteiendemokratie ist, die sie eindämmen kann.
Dafür nimmt sie auch viel Symbolpolitik in der Migrationspolitik in Kauf. Doch „der Kampf lohnt sich“: „Es gibt eine bürgerliche Mehrheit, die sich bisher nicht recht abgebildet sieht. Die Zeiten sind vorbei, da Union und FDP hierfür als Traumpaar als gesetzt galten. Sie müssen kämpfen und Fehler nicht zuerst bei anderen suchen“ (FAZ, 7.1., S.1). Nichts weniger als eine „geistig-moralische Wende“ ist notwendig (a.a.O.), die allerdings nicht von einem Kanzler und den Parteien allein bewerkstelligt werden kann und nicht von heute auf morgen.
Zu erwarten ist eher, dass Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland, auch unabhängig von der Politik (man siehe nur, wie die Wachstumsinitiative verpufft ist), Rezepte finden werden, um pragmatisch mit den wachsenden Problemen umgehen zu können. Vieles wird von der Kreativität und der Erneuerungskraft der Unternehmen abhängen, wie es in Deutschland weitergeht. Der deutsche Parteienstaat hat dagegen an alter Stabilität eingebüßt, die Nachkriegszeit ist definitiv vorbei (auch außenpolitisch) und Alice Weidel ist keine Meloni.
Die Union bleibt in ihrem Wahlprogramm selbst in der Sicherheitspolitik vage und laviert (a.a.O.), indem sie Hintertüren offenlässt, ganz so wie Kanzler Scholz, der als besonnener Friedenskanzler punktet. Die Friedenssehnsucht wird ebenso bedient, wie die Aussagen zur Bundeswehr und Wehrpflicht schwammig bleiben.
In diesem Punkt überrascht hingegen der dritte Kanzlerkandidat Robert Habeck von den Grünen, die eine ganz normale staatstragende Partei geworden sind, der mit dem 3,5-Prozent-Ziel für die Bundeswehr vorprescht (Spiegel-Interview 3.1.25). Die CSU will aber „mit Garantie“ (Söder) nicht mit den Grünen regieren, die sie für das „Gesicht der Wirtschafts- und Energiekrise“ hält. „Politikwechsel oder weiterer Abstieg“ heißt ihre drastische Alternative (6.1.).
Diese Aussage wird nur noch von der AfD und dem BSW übertroffen. Die CSU will sich selbstbewusst nicht unter Druck setzen lassen, weder von der CDU, der SPD noch den Grünen und keine Leihstimmen an die FDP verschenken, deren Wahlrechtsreform sie nicht vergessen hat. Ihre historische Lektion von Österreich auf der Klausurtagung in Kloster Seeon lautet: „Schwarz-Grün befördert die Polarisierung“.
Verteidigungsfähigkeit wird diesmal ebenso ein Kriterium der Wählbarkeit an vorderster Stelle sein. Sie hängt eng zusammen mit einer neuen Definition des Transatlantismus. Die Definitionsmacht liegt hier freilich nicht nur auf europäischer Seite. Der ‚grande nation‘ hat dies seit de Gaulle nie gefallen.
Dafür ist Macron gegenwärtig, aus innenpolitischen Gründen, zu schwach, um selbst ernsthafte Vorstellungen einer „europäischen Souveränität“ ohne die USA bieten zu können. Frankreich fehlt genauso wie Deutschland die Weltpolitikfähigkeit. Die Briten dagegen haben diese immer verstanden, mit ihrer „special relationship“, ganz gleich, ob die Tories oder Labour regierten.
In Deutschland kommen zwei Dinge zusammen: zum einen fehlt die Weltpolitikfähigkeit, die Deutschland als „Mittelmacht“ vernünftigerweise auch gar nicht anstrebt (Schmidt, Scholz). Daraus folgt, dass sie – was schwierig genug ist – die Rolle eines verlässlichen Bündnispartners an der Seite der USA beibehalten muss. Das wird unter Trump, der am 20. Januar die Regierung übernimmt, erwartbar schwieriger, aber nicht unmöglich werden.
Die AfD entspricht diesen Anforderungen nicht: sie kokettiert mit EU- und Natokritischen sowie neutralistischen Positionen und der Putin-Freundlichkeit. Die AfD ist für die deutsche Politik, ebenso in den wirtschaftlichen Vorstellungen, ein unsicherer Kantonist ebenso wie das BSW.
Es läge an der CDU, Vorstellungen eines neuen Transatlantismus aus deutsch-europäischer Sicht zu entwickeln. Als Exportnation muss Deutschland versuchen, möglichst viel von der alten Freihandelspolitik zu erhalten. Sie muss aber dezidiert auch mehr Geld in die Bundeswehr investieren, was noch immer eine ungeliebte Priorität ist, die Folgen hat.
Wo also liegen Einsparpotenziale, etwa beim Bürgergeld? Das ist ein Streitpunkt mit den Sozialdemokraten. Für Scholz gibt es an dieser Stelle „kein Entweder-oder“, er argumentiert wieder mit seinem prägnanten Erfolgsrezept „Respekt und Mindestlohn“, diesmal 15 Euro. Die Kanzlerparteien bedienen ihre Klientel, auch die Grünen können sich, jetzt geschlossen als Habeck-Partei, darauf verlassen.
Bloß mit weiteren Sonderschulden geht es bei der Bundeswehr jedoch nicht weiter. Die CDU will verbal „die wahre Zeitenwende“ herbeiführen, und der mögliche künftige Verteidigungsminister Kiesewetter spricht schon jetzt von deutschen Soldaten in der europäischen Friedenstruppe in der Ukraine.
Merz hat jedoch nicht die Statur von Adenauer, um hier unpopuläre Entscheidungen zusammen mit Trumps erwartbaren Forderungen umzusetzen, was auch europapolitisch mehr erfordert, als Deutschland und Frankreich im Moment zustande bringen. Hier herrscht Stillstand.
Die Bürger haben am 23. Februar die Wahl, aber viel zu erwarten ist nicht.
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