Die Schweiz als Antithese?

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„Die Schweiz sägt an der Brücke nach Europa“, titelt die ‚Frankfurter Allgemeine‘ am 27.Mai, nachdem der Bundesrat, so heißt ‚ die Regierung‘ in der Schweiz, die Verhandlungen über das EU-Rahmenabkommen nach sieben Jahren abgebrochen hat. Das ist ein Paukenschlag. Die ‚Süddeutsche Zeitung‘ spricht lustiger weise von „Bern-out“ und „Schwexit“ sowie ernsthaft davon, dass die Beziehungen zwischen Bern und Brüssel “ wohl schleichend erodieren werden“(27.5., S.1). Die Schweizer wollen „den Fünfer und das Weggli“, wie ein Sprichwort heißt. Es bedeutet: sie wollen zu viel! Vielleicht gilt aber auch das Umgekehrte: „Wer hat Angst vor Wilhelm Tell?“, so Oliver Zimmer (2020). “ Das archaischste Land des Westens ist zugleich das modernste“ (NZZ, 26.11.2020). Nicht zufällig hat dieses Buch ein Schweizer Historiker aus dem Kanton Zürich geschrieben, der in Oxford europäische Geschichte lehrt. Der historisch-geographische Ort, von dem aus man beobachtet und spricht, ist in dieser Debatte nicht zu vernachlässigen. Einmal mehr geht es um unser Schweizer Selbstverständnis und die Beziehung zu Europa, wobei auch Europa nicht als ein Block betrachtet werden darf.

Die Schweizer Regierung hat die Verhandlungen mit der grossen EU abgebrochen ohne Plan B. Der Bundesrat spricht von „substantiellen Differenzen“ bei „zentralen Punkten“ des Abkommens, über das sieben Jahre lang zäh verhandelt wurde, was eine schier unendliche Geschichte des Pro und Contra auch in der Presse war. Das können wir hier im Detail nicht nachvollziehen, im Wesentlichen ging es am Schluss aber um drei Sachfragen und zwei grundsätzliche Fragen, nämlich: Lohnschutz, Staatsbeihilfen und Unionsbürgerrichtlinie sowie die dynamische Rechtsübernahme und die Streitschlichtung.

Das politisch problematische Verhältnis der Schweiz zu Europa ist weit älter als EU-Europa. Schon in meiner Schulzeit in den 60er Jahren wurde über das Verhältnis zur voranschreitenden wirtschaftlichen Integration Europas ständig diskutiert und natürlich feierten unsere liberalen Lehrer die Gründerväter des europäischen Friedensprojekts nach dem 2.Weltkrieg: die Christdemokraten Schuman, de Gaspari und Adenauer. Die Geschichte ausserhalb der Schweiz, vor allem von Deutschland und Frankreich, war häufiger Gegenstand im Geschichtsunterricht als die Schweizergeschichte, die am Schluss des Gymnasiums mit Hilfe von Dändliker/Bandle im Schnelldurchgang sozusagen noch nachgeholt wurde. Sie spielte nur eine marginale Rolle und interessierte uns Schüler kaum. Wir haben über die Schülerorganisation (SO) stattdessen andere Fächer zuungunsten der Geschichte gefordert wie Politologie und Soziologie, die den Wechselstimmungen des damaligen Zeitgeistes entsprachen – eine falsche Forderung, wie ich später zugeben musste.

Allgemeinwissen in Schweizer Geschichte ist kaum vorhanden und durch die idealisierte und heroisierte Rolle der Schweizer Bauern und ihres Freiheitsverständnisses (Wilhelm Tell 1804) sowie die Militärdiensterfahrung der meisten Schweizer mythenbesetzt, was sich (oft männerbündlerisch) auch politisch auswirkt. Diese Geschichtspolitik gehört zum Programm des ‚wahren Patriotismus‘ in allen Ländern. Aber was man aus der Geschichte lernen kann, ist zumindest umstritten und gilt für unterschiedliche historische Situationen, die zu beachten sind. Die ‚Schlacht am Morgarten‘ (1315) gegen die Habsburger Ritter beispielsweise spielte während des zweiten Weltkrieges (Réduit) eine andere Rolle als die Entstehung des modernen Bundesstaates und der direkten Demokratie im 19. Jahrhundert für unser heutiges Verhältnis zu Europa, das auch für eine transnationale europäische Verfassung lehrreich sein könnte ( siehe dazu: Die Union 4/1998, Wien; Kleger/Karolewski/Muncke, Europäische Verfassung 2001, erweiterte, 3. Auflage mit Überlegungen zum europäischen Föderalismus 2004; Der Konvent als Labor 2004). Wenn wir daran interessiert sind, die wechselseitige politische Sprachlosigkeit zu überwinden, muss diese Frage noch einmal aufgespalten werden in die doppelte Frage: Was kann die Schweiz, und was kann Europa davon lernen? Um diese Wechselseitigkeit des Lernens geht es bei den folgenden kurzen Überlegungen aus Anlass des Scheiterns des Rahmenabkommens.

Der Historiker Herbert Lüthy, der Lehrer unserer Lehrer, bemerkte schon 1961: Während wir diskutieren und noch heute – wie über kein anderes Thema – so kontrovers und breit diskutieren, schreitet die europäische wirtschaftliche Integration “ unmerklich und unaufhaltsam“ voran. “ Sie lässt sich nicht dadurch rückgängig machen, dass wir uns weigern, an ihrer Organisation teilzunehmen. Es scheint, dass wir mit uns selbst uneinig sind und dass unser Wille, im wirtschaftlichen Wettlauf mitzugehen, uns ständig in Widerspruch zu unserem politischen Willen bringt, das zu bleiben, was wir sind – oder vielmehr, was wir waren“ (Die Schweiz als Antithese, in: Gesammelte Werke, Essays 1940-63, 2003, S.410ff). Diese Antithese bezieht sich auch auf die Gegenwart, und damit auf ein europäisches Umfeld, das sich stark verändert hat. Auf diese veränderten Umstände kann und muss sich auch die Schweiz einstellen: Sie kann sich nicht herausziehen und ist darin, ohne sich aufzugeben, keine institutionelle Antithese mehr, sondern bestenfalls ein origineller Anreger als Mitgestalter.

Das Europaprojekt als Friedens- und Wohlstandsprojekt hat sich ausgehend von einem losen Staatenbund über die Einheitliche Europäische Akte (1986) hin zum Maastrichter Vertrag 1992, dessen Herzstück die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion war (Delors, Mitterrand, Kohl), institutionell erheblich weiterentwickelt und geographisch – siehe nur die historische Osterweiterung seit 2004 – (vielleicht zu weit) erweitert. Und es hat zurzeit (vielleicht zu) große Ambitionen als Großprojekt im Zeitalter der Globalisierung. Das übt vielerlei Druck und möglicherweise sogar eine falsche Faszination und Sogkraft auf einen Kleinstaat aus, der nicht Mitglied der EU ist und (trotzdem oder gerade deswegen, das sagen mir Deutsche) als reelle und solide Demokratie gut funktioniert, zumal kleinere Staaten unter Bedingungen von Frieden und Freihandel erfolgreicher sind als größere (siehe Alesina/Spolaore, The Size of Nations, 2005). Das ist selbstverständlich kein Grund für saturierte Selbstzufriedenheit oder gar für politische Überheblichkeit als Kompensation eines Minderwertigkeitskomplexes, was es auch gibt, aber eine Grundlage dafür, mutiger in die Zukunft zu denken.

Die gegenwärtige Lage in Europa und der Welt ist mit vielen Fragezeichen zu versehen. Die historischen Praxis-Prozesse verfolgen kein geschichtsphilosophisches Ziel, weder national, europäisch noch global. Wir müssen deshalb mit offenen Karten spielen und die Unsicherheiten als Informationen schätzen lernen (so die Physikerin Susanne Westhoff, Die Zeit, 20.Mai, S.37). Auf diesem Wege lassen sie sich eher kontrollieren und reduzieren, was zu besseren Entscheidungen führt, denn gerade Politiker fürchten nichts mehr als Fehlentscheidungen. Die Physikerin plädiert deshalb für eine offene Gesprächskultur, die zugleich eine andere Denk- und Forschungsweise nach sich zieht: „Wer eine Entscheidung begründen will, muss zugleich seine Unsicherheiten offenlegen. Das macht eine Aussage nicht weniger, sondern mehr wert. Denn eine Unsicherheit, die ich erkannt habe und einschätzen kann, ist keine Unwägbarkeit mehr.“ Obwohl wir es im Politischen unweigerlich mit Interessen, Werten und Emotionen zu tun haben, die unsere Identität berühren, gilt dieses Plädoyer für eine offene Gesprächskultur erst recht anstelle einer von Ignoranz und Arroganz geprägten politischen Unkultur, die voll von Ressentiments ist, die immer nur die anderen haben. Verbissene Rechthaberei führt uns aber nicht weiter, weder in der Schweiz noch in der Europapolitik.

Vielleicht wäre es deshalb ebenso fruchtbar, noch einmal über das politische Problem der Größe und die Rückkehr zum richtigen Maß (Kohr, Schumacher) für bürgernahe Demokratien nachzudenken, sofern solche in unseren schnellen Zeiten, wo der Schnellere der Bessere ist, überhaupt noch erwünscht sind. Die Schweiz als Willensnation, als mehrsprachige Nation und nicht als Nationalitätenstaat sowie als Bund 26 souveräner Kantone ist bei allen großen Veränderungen in Europa ihren eigenen Weg gegangen, verbunden mit Land und Leuten aufgrund der Rolle von kommunaler und direkter Demokratie, was auch für andere Länder und Bevölkerungen für ihren Weg der Selbstbestimmung inspirierend sein kann. Die These von der Unregierbarkeit stammt von Regierenden.

Seit der historischen Abstimmung über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) 1992 ist das Land in der Europafrage tief gespalten. Die Beteiligung am weichenstellenden Urnengang war groß (78,7%), und das Ergebnis denkbar knapp (49,7% Ja-Stimmen). 1992 ging es um die Realisierung der sogenannten vier Freiheiten unter 19 Ländern eines gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraumes: freier Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr. “ Während die Landesregierung, die Mitte-Parteien und die Wirtschaft den Beitritt zum EWR als gangbaren Mittelweg zwischen der ausschließlich punktuell-pragmatischen Integrationspolitik der Vergangenheit und einem eventuellen künftigen EU-Beitritt sehen, schlägt dem Vorhaben bereits während der Verhandlungsphase zwischen 1989 und 1992 von Links und Rechts ein rauer Wind entgegen“ (Handbuch der eidgenössischen Volksabstimmungen 1848-2007, S.499).

Für die Schweizerische Volkspartei (SVP) war dies der Weg zum EU-Beitritt und damit der Anfang vom Ende der schweizerischen Unabhängigkeit: Die Schweiz unterstellt sich „fremdem Recht“ und werde so zu einem „Satelliten der EU“. Bedenken gab es auch von linker Seite: „So befürchtet die Sozialdemokratie Lohndumping und teurere Mieten; die Grünen Rückschritte im Umwelt- und Konsumentenschutz“(ebenda). Das Thema dominierte ein Jahr lang die politische Öffentlichkeit und wurde von zahlreichen Meinungsumfragen begleitet: „Während der Bundesrat zusammen mit der Wirtschaft und den Mitte-Parteien mit großem finanziellem Aufwand für die Vorlage wirbt, kämpft die Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (AUNS) an vorderster Front dagegen (…). Unterstützt wird die AUNS von der SVP – insbesondere von der Zürcher Kantonalfraktion unter Christoph Blocher -, den Grünen, den kleinen Rechtsparteien sowie dem Schweizerischen Bauernverband“ (ebenda: S.500).

Das Ergebnis dokumentiert schließlich einen tiefen Graben zwischen der deutschen Schweiz und der französischsprachigen Romandie, wo die Vorlage in allen Kantonen angenommen wurde. Wie aus Nachbefragungen deutlich hervorging, standen sich zwei grundsätzlich verschiedene Vorstellungen über die Schweiz und ihre Zukunft gegenüber: „So drehten sich die von den EWR-Befürwortern genannten Motive vor allem um zwei Themen: kulturelle Öffnung (Ablehnung der Isolation, Wille zur Öffnung) und wirtschaftliche Motivation. Dieselben Beweggründe finden sich auch bei den Gegnern, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen. Es haben die Gegner aus der Befürchtung heraus, ihr Idealbild von der Schweiz könnte bei einem Beitritt zusammenbrechen, ihre Identität verteidigt. Konkret genannt werden die Argumente Verlust der Unabhängigkeit, mangelnde Mitbestimmung im EWR, Ausländerzustrom sowie eine generelle Desorientierung angesichts des beschleunigten Integrationsprozesses“ (ebenda).

Nach dem EWR-Nein waren die bilateralen Verträge eine ökonomisch erfolgreiche und politisch gangbare Zwischenlösung. Aber die Schweiz ist noch immer und in gewissen Punkten immer mehr (etwa hinsichtlich Subsidiarität und Demokratie) von bestimmten konstruktivistischen Vorstellungen von EU-Europa entfernt, denen die realexistierende EU näherzukommen versucht. Dennoch sollte die Schweiz versuchen, mit dem groß gewordenen Europaprojekt Schritt zu halten und die wechselseitige politische Sprachlosigkeit überwinden. Das ist leichter gesagt als getan. Die Diskussionen um das Rahmenabkommen hätten dafür eine Voraussetzung und ein Anstoß sein können. Dahinter zurückzufallen ist jedenfalls keine mutige Lösung für die Zukunft, sondern eher eine ängstliche und inkompetente Reaktion.

Tatsächlich gibt es auch einen abwägenden vernünftigen ‚Konservativismus‘ im Interesse einer Demokratie der Bürger und Bürgerinnen. Dessen Argumente müssen aufgenommen und nicht bloß nach dem Rechts-Links-Schema etikettiert und schubladisiert werden. Dieser innenpolitischen Auseinandersetzung auch um den Patriotismus, der nötigen kritischen Loyalität mit Land und Leuten, kann man in der direkten Demokratie nicht nur nicht ausweichen, man sollte ihr auch in anderen Ländern nicht ausweichen, wenn es um den Preis der Integration geht.

Die Schweiz ist (EU-) Europa nicht nur fern, sondern zugleich auch nah – geographisch mitten in Europa und mehrsprachig, gleichsam ein ‚kleines Europa‘ mit Sprachenfreiheit. Seit 1972 gibt es wichtige bilaterale Abkommen und enge Verflechtungen in verschiedener Hinsicht, denken wir nur an die Regio Basiliensis oder die Bodenseeregion. Der transnationale Regionalismus, der hier prototypisch entstanden ist, wirkt in allen Teilen Europas, auch an der Oder zwischen Brandenburg und Polen.

Auf diesem Weg einer Mehrebenen-Verflechtung und Mehrebenen-Demokratie, die nicht ohne Konflikte und Widersprüche sind, sollte man bleiben – als Beiträger für eine originelle Integration von unten voller wirtschaftlicher, wissenschaftlicher, technischer und politischer Möglichkeiten. Das setzt Offenheit und Innovationskraft voraus. Das Rahmenabkommen sollte zur Erleichterung dieser Beziehungen in den Bereichen des Binnenmarktes beitragen Die EU wollte Verträge nur noch unter der Bedingung erneuern, dass das institutionelle Rahmenabkommen unterschrieben wird. Die „Guillotine-Klausel“ gegen das Rosinenpicken wird allerdings zu einem bezeichnend verräterischen Wort in diesem Verhältnis, das viele als erpresserisch empfanden. 2o14 begannen die Verhandlungen, Ende 2018 lag ein erster Vertragsentwurf vor, 2021 werden die Verhandlungen von einem Bundesrat abgebrochen, der keinen besonders kompetenten Eindruck machte.

Von Anfang an gab es gewichtige Widerstände, die immer zahlreicher wurden. Die wählerstarke EU-kritische Schweizer Volkspartei (SVP) begann mit ihrer Fundamentalkritik des „Unterwerfungsvertrages“, und die Gewerkschaften drohten mit einem Referendum wegen des fehlenden Lohnschutzes. Die Sache wird eine langwierige und schwierige Verhandlungs- und Regierungsaufgabe für den Bundesrat und die Bundesratsparteien, die uneins sind.

Anstelle Verträge punktuell neu zu verhandeln, wollte die EU diesmal härter und grundsätzlicher, dass EU-Recht dynamisch übernommen wird: Es ging und geht in diesem Streitfall vor allem um die dynamische Rechtsanpassung und ihre Implikationen. Genau an dieser Stelle bemängelt die grundsätzliche Kritik, dass die Schweiz zu viel demokratische BürgerInnensouveränität an die EU, die voller Demokratiedefizite steckt, preisgibt. Die Souveränitätsfrage wird von den Mitte-Parteien als Problem der erschwerten Exit-Option übernommen. Sie war und ist aber (zusammen mit der Neutralität) vor allem das politische Thema der SVP, die lediglich ein Freihandelsabkommen wünscht. Die Souveränität, die heute verflochten zu denken ist, wird so gleichsam zum politischen Begriffselefanten im Diskursraum (dazu ausführlich Cottier/Holenstein, Die Souveränität der Schweiz in Europa, 2021). Die Türe ist nun deswegen aus symbolischen Gründen zugeschlagen. Die realen Probleme aber bleiben, und die falsche Symbolpolitik hat einen Preis, der zu hoch ist.

Die EU konzedierte mit dem Rahmenabkommen Zeit für Anpassungen, Mitwirkungsrechte und in Konfliktfällen ein Schiedsgericht, wobei wohl der Europäische Gerichtshof das letzte Wort haben würde: „Kein schlechter Deal für einen Kleinstaat, der sich mit einem ungleich stärkeren Staatenverbund finden muss“ (Die Zeit, 27.Mai). Die Verrechtlichung politischer Konflikte widerspricht allerdings dem schweizerischen Primat der Demokratie. Das Misstrauen gegenüber den (‚fremden‘) Richtern ist vorhanden, wird in der Schweiz durch die SVP aber auch politisch geschürt, insbesondere gegenüber dem EuGH als Integrationsmotor. Gleichwohl gibt es objektive systematische Probleme bei der zunehmenden Verrechtlichung der Politik, die auch in Deutschland diskutiert werden.

Deutsche Kommentatoren, die an die Grundrechte-Demokratie gewohnt sind, verstehen zwar die Welt, aber die kleine, kleinteilige und politisch komplizierte Schweiz nicht mehr, die sich unbehaglich fühlt im Griff der ‚französischen‘ ‚technokratischen‘ Staatsvorstellungen der EU (Delors), denen eine bestimmte Finalität unterlegt wird. Thomas Nipperdey begann seine deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts nicht zufällig mit dem Satz: „Am Anfang war Napoleon“ (1995, S.11). Das Gleiche trifft auf die Schweiz zu und die ungeliebte Helvetik (1798-1803), die eine Vorstufe des modernen Bundesstaates von 1848 war, in dessen Verfassung verschiedene politische Welten eingeflossen sind.

Die Staats- und Souveränitätsidee von oben in der Tradition des französischen Juristen und Politikers Jean Bodin (1576), für den die Eidgenossenschaft kein Staat war, ist diametral entgegengesetzt einem entstehenden Bund und Bundesstaat von unten, den Möglichkeiten der Stimmbürger und des Föderalismus, die auf andere, ‚langsamere‘ Weise die nötigen und effektiven Kooperationen aufbauen. Selbstverständlich bleibt auch für liberalkonservative Patrioten und Weltbürger die Kooperation, die auf verschiedene Weise erfolgen kann, mit den Nachbarländern, der EU und der Welt verpflichtend, die in der heutigen geopolitischen Lage besonders dringlich ist. Xi, Putin, Erdogan und die fundamentalistischen Terroristen werden alles tun, um Europa zu destabilisieren. Deshalb dürfen die heutigen Schweizer in diesem Umfeld keine Neutralier werden und müssen Außenpolitik neu lernen, genauso wie die EU gegenüber der politischen Schweiz.

Auffällig ‚unschweizerisch‘ aber ist in diesem Fall zweierlei: Statt tauglicher politischer Kompromisse sind alle Parteien in der Europafrage gespalten und in gewisser Weise handlungsunfähig, auch die SPS und die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP), die zusammen die Mehrheit im Bundesrat stellen. Nur die SVP und die Grünliberalen (GLP) sind geschlossen und bestimmt, entweder prinzipiell gegen oder vorbehaltlos für den Rahmenvertrag. Und das Stimmvolk? Ausgerechnet es hat bisher in dieser Sache gar nichts zu sagen, weil der Bundesrat fürchtet, keine Mehrheit zu bekommen, nicht zuletzt wegen des Lohnschutzes und des Sozialabkommens.

Über diese nötige Debatte im Verhältnis zu Europa muss indessen abgestimmt werden, die demokratische BürgerInnensouveränität trägt letztlich die Verantwortung dafür, dass wir als Bürgerschaft und Bürgerstaat auf dem europäischen bilateralen Weg bleiben, was noch kein Präjudiz für den Beitritt ist. Allerdings ist die Übernahme von EU-Recht ohne politische Partizipation ein Widerspruch in sich. Wie steht es dann mit der identitätsstiftenden direkten Demokratie?

Nach dem Europarechtler Thomas Cottier betreffen mehr als 50% unserer Gesetzgebung kein EU-Recht. „Wird eine Materie neu von EU-Recht geregelt, dann übernehmen wir das dynamisch bzw. Unterstellen es dem Referendum. Sollte es in einer Abstimmung abgelehnt werden, dann sieht das Rahmenabkommen ein Verfahren zur Differenzbereinigung vor. Am Schluss ist der Preis höchstens eine Ausgleichsmaßnahme, die aber wiederum von einem Schiedsgericht auf ihre Verhältnismäßigkeit geprüft wird“ (NZZ, 27.Mai, S.23).

Nach Ansicht des auch in Verhandlungen politisch erfahrenen Juristen, der sich inzwischen aus geopolitischen und Mitbestimmungsgründen für einen EU-Beitritt ausspricht, stärkt und schützt das Recht die Schweiz. Die direktdemokratischen Verlustängste hält er für „maßlos übertrieben“. Das ist ein neuralgischer Punkt bei der Versachlichung der heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen, an denen man nicht vorbeikommen wird. Tatsächlich gibt es zwischen Nationalpatriotismus und den Wechselstimmungen des Zeitgeistes noch politische Argumente und Möglichkeiten. Versagt hat hier zunächst die Politik des Bundesrates, weil er keine konzertierte Aktion zusammen mit den Gewerkschaften zustande gebracht hat. Es war ein Fehler, die flankierenden Maßnahmen zu Beginn der Verhandlungen zur Disposition zu stellen.

Die Nachteile beim Scheitern des Rahmenabkommens sind früh aufgelistet worden: Sie sind kleinlich, alltäglich, unangenehm und unnötig. Schon am Morgen des 27. Mai las man in den Lokalzeitungen, dass die Medtech-Branche ihren EU-Zugang verliert. In zwei Jahren laufen außerdem Verträge aus, die für die Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie, dem Rückgrat der Schweizer Wirtschaft, von Bedeutung sind. Mehr als die Hälfte ihrer Produkte verkaufen sie in die EU. Diese will auch keine Abkommen auf neuen Feldern mehr schließen, was beispielsweise die Schweizer Stromversorgung und die Impfstoffversorgung empfindlich treffen könnte. Zudem drohen ausgerechnet den Hochschulen und der europäischen Forschung schmerzhafte Einschnitte. So könnte man noch einiges aufzählen, was mitten in Europa an schädlichen Schikanen völlig unnötig und blamabel ist.

Die Beziehungen gelten als „erschüttert“. Die EU hat keinen Plan B und wird sich von ihren Prinzipien, wie auch der Brexit deutlich zeigt, nicht wegbewegen. Darüber sollte man sich keine Illusionen machen, die eigene Staatsbildung der EU ist zu weit fortgeschritten, und ein Fundament für wirkungsvolle Gespräche mit der Schweiz gibt es derzeit nicht. Auch die Schweiz hat keinen Plan B, nur vier Plänchen (laut Schweizer Fernsehen): Man will die über hundert bilateralen Abkommen weiterpflegen, was nun schwerfallen dürfte; und man will, eine bloße Phrase, den politischen Dialog anbieten (wem und worüber?); zudem soll das Justizdepartement prüfen, welche Schweizer Gesetze angepasst werden können; und schließlich soll als Zeichen des guten Willens die blockierte Kohäsionsmilliarde freigegeben werden. Das ist zu wenig und eröffnet keine Perspektiven.

Bildnachweis: iStockphoto.com/Oleksii Liskonih