Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 29. April 2021 zur Klimapolitik hat sowohl eine historische als auch eine sehr aktuelle politische Bedeutung im Hinblick auf die Wahlen am 26. September. Ab diesem Datum, so darf man ohne große Übertreibung sagen, ist die Regierung verantwortlich für eine “ gesicherte Zukunft“. Was für ein immenser Anspruch! Wer kann dafür überhaupt verantwortlich sein? In nicht-säkularen Zeiten hätte man gesagt: Gott, wer sonst? Oder der Mensch, die Menschen, die Menschheit? Gibt es für eine solche Verantwortung überhaupt ein Subjekt?
Offenbar schon: der Staat oder die Regierung, sagt man heute, oft schnell, einfach und bequemerweise, da der Staat, die Regierung oder die Politik – völlig undifferenziert – die Instanzen geworden sind, an die wir viel Verantwortung delegieren. Und das, obwohl wir sie alle ständig schlechtreden, beschimpfen und kritisieren. Konstruktive Politik- und Staatsfähigkeit sind heute weder theoretisch noch praktisch große Tugenden, während Kritik wohlfeil geworden ist. Solide Staatstheorie wäre schon aus Sicherheitsgründen angesagt, wenn “ der Staat das Subjekt der Verantwortung für die langfristigen Nebenfolgen menschlicher Handlungen ist“ (Spaemann 1979). Dann haben wir ihn erst recht als zivilisatorisches Inter-Subjekt demokratischen Regierens zu begreifen.
Bleiben wir aber beim aktuellen Anlass, der es in sich hat: Greenpeace, BUND und Fridays for Future haben gegen das zwischen Bund und Ländern mühsam ausgehandelte Klimaschutzgesetz von 2019 erfolgreich Verfassungsbeschwerde eingelegt. Das höchste Gericht fordert nun Nachbesserungen, welche schon die nächste Regierung auf den Weg bringen soll. Sie kann nun daran gemessen werden, ob sie ab 2030 die notwendige große Transformation hin zur Klimaneutralität vorbereiten kann. Die neue Regierung, in welcher Konstellation auch immer, wird damit von nationaler wie europäischer Seite, die ihre Klimaziele ebenfalls verschärft hat, in die Zange genommen. Der Kohleausstieg wird früher als verabredet stattfinden, und die Anstrengungen für erneuerbare Energien erhöht werden müssen.
Damit wird quasi ein Recht der Zukunft auf die Gegenwart etabliert, welches die Regierung unter Entwicklungsdruck setzt, was mehr und anderes ist als Modernisierung. In den 80er Jahren waren die Rechte künftiger Generationen noch ein neues, akademisches und apartes Thema ökologischer Ethik (siehe Spaemann, Saladin, Birnbacher u.a.). Die ‚grüne Verfassung‘ (Kölz/Müller) war durch die Aufnahme der Rechte künftiger Generationen definiert, was zu neuen Selbstverpflichtungen führte. Nun wird es, nach dem Atomausstieg, zum zweiten Mal politisch ernst bis hinein in schwierige Koalitionsverhandlungen künftiger Regierungen. Die Klimapolitik wird das Streitthema des Wahlkampfs werden und voraussichtlich darüber hinaus.
Die Argumentation des höchsten Gerichts ist aufschlussreich:
1. Aus dem Staatsziel Umweltschutz im Grundgesetz wird mit fortschreitendem Klimawandel die Priorität des Klimaschutzgebotes gegenüber anderen Interessen abgeleitet.
2. Wird in der Jetztzeit zu wenig getan, so wird die junge Generation ab 2030 unverhältnismäßig stark belastet werden.
3. Dies wiederum hängt mit dem Verbrauch des sogenannten CO2-Budgets zusammen.
4. Die Bundesregierung hat bisher die Idee von CO2-Budgets, die der Sachverständigenrat für Umweltfragen vorgeschlagen hatte, abgelehnt.
5. Das Gericht legt sie aber seiner Entscheidung zugrunde. Es schlägt nicht sogleich eine radikale Reduktion vor, sondern kritisiert vielmehr die ungleichgewichtige Reduktionslast zwischen den Generationen, und zwar mit dem Argument:
6. dass die Freiheitsrechte künftiger Generationen wegen der Emissionsminderungspflichten unverhältnismäßig eingeschränkt werden, da sie – wie etwa Reisen und Einkaufen – notwendigerweise mit Treibhausgasemissionen verbunden sind.
Die Zeit wird hier zum ausschlaggebenden Argument, denn bereits jetzt sollen die sektorenübergreifenden Anforderungen an Verkehr, Energie- und Landwirtschaft formuliert werden, die ab 2030 den Weg zum epochalen Ziel der Klimaneutralität vorzeichnen. Letzteres wird als historisches Generationenziel begriffen, welches sozusagen unsere grünen Zeiten vorgeben, die als ‚letzte‘ Handlungschancen begriffen werden. Bis dahin dürfen wir nicht das jeder Nation zugestandene Restbudget an CO2 verbrauchen und den Wohlstand ohne zivilisierende Einschränkungen pflegen, was intergenerationell ungerecht wäre, so die ethische Argumentation. Damit wird Zukunftsethik buchstäblich, und die Zeit als Frist zu einem Druckmittel auf die Politik. Die neue Bundesregierung wird deshalb jetzt schon sagen müssen, wie es nach 2030 weitergeht. Das ist ein Erfolg der Umweltbewegung noch vor den Wahlen.
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