Für Deutschland lag der Schwerpunkt der bisherigen Militärhilfe bei der Artillerie und der Luftabwehr. In kürzester Zeit, was zum Drama der Politik gehört, ist nun wieder eine neue Lage entstanden: Am Mittwochabend, dem 4. Januar des neuen Jahres, verkündet der französische Staatspräsident Macron, der bisher eine andere Linie (mit Putin reden, Verhandlungen vorbereiten) verfolgte, der Ukraine erstmals leichte Panzer liefern zu wollen. Damit ist scheinbar eine Hemmschwelle überschritten. Frankreich prescht vor und setzt Deutschland unter Druck.
Dazu kommt, dass am selben Abend, Präsident Biden in Aussicht stellt, ebenfalls Bradley-Schützenpanzer zu liefern. Macron hatte bei seinem Besuch in Washington anfangs Dezember, wo er als privilegierter Gast empfangen wurde, die traditionelle „Waffenbrüderschaft“ erneuert. Er warnte vor einer „Fragmentierung des Westens“.
Schützenpanzer fordert die Ukraine seit langem nachdrücklich, sie würden schon lange und jetzt erst recht helfen in den schweren Gefechten im Donbass bei Bachmut und Kramatorsk. Mit Schützenpanzern werden Panzergrenadiere transportiert, im Verbund mit Kampfpanzern sind so Bodenoffensiven möglich, die verlorenes Gebiet zurückgewinnen können.
Und genau darauf kommt es jetzt jeden Tag an, wofür wiederum bestimmte Waffen, Munition und Nachschub im Detail die entscheidende Rolle spielen. Selenski hat sich umgehend für das „neue Level der Zusammenarbeit“ bedankt, welches zu einem „beschleunigten Sieg“ führen werde. Das Jahr 2023 ist für ihn „das Jahr der Entscheidung“.
Inzwischen steht fest, dass auch Deutschland bis Ende März 40 Marder-Schützenpanzer liefert, als altbewährt und nicht technisch überladen wie der neuere ‚Puma‘. Damit lässt sich ein Bataillon bestücken. Davor ist jedoch eine 8-wöchige Ausbildung nötig.
Macron und Biden erhöhten den Druck auf Scholz, der Alleingänge vermeiden wollte. Die russischen Botschaften in Washington und Berlin warnen inzwischen vor einer weiteren Ausweitung des Krieges auf neue Regionen und Gefahren für die globale Sicherheit. Die versprochene Waffenruhe über das orthodoxe Weihnachtsfest, welche die Ukraine als „zynische Falle“ interpretierte, war zu Ende, bevor sie begonnen hatte.
Das Misstrauen ist abgrundtief geworden, und es beginnt nun die letzte Phase des Kampfes um die annektierten Gebiete. Deren Anerkennung ist für Putin die Voraussetzung für Verhandlungen, was die Ukraine nicht akzeptieren will. Für sie endet der Krieg mit dem Abzug der russischen Truppen.
Selbst die Lieferung des Kampfpanzers Leopard ll, am besten im europäischen Verbund, ist für Deutschland kein Tabu mehr. Er würde faktisch einen großen Unterschied machen, weil er einen weit höheren Kampfwert hat als etwa der französische Spähpanzer AMX und die deutschen Schützenpanzer Marder und Puma.
Eine letzte rote Linie wird damit überschritten. Es wäre zu nonchalant zu sagen, es sind ja ohnehin schon alle roten Linien gefallen. In der Optik von Putin ist die Nato schon längst Kriegspartei, nur Russland sollte man tunlichst nicht angreifen.
Die traditionelle Neujahrsansprache vor seinen Soldaten galt den „Lieben und Freunden“ sowie den Eltern, „die Helden großgezogen haben“. Die neunminütige pathetische Rede „Wir, die wir uns verteidigen müssen“ war emotional und einmal mehr deutlich gegen den westlichen Aggressor gerichtet. Sie hatte zweifellos eine große Reichweite.
Scholz und die SPD zauderten bislang mit Waffenlieferungen, weil sie eine nochmalige Eskalation befürchteten. Sie werden inzwischen von den Koalitions- und den bürgerlichen Oppositionsparteien zu den weiteren Schritten geradezu gedrängt, die konsequent sind, wenn einer befürchteten Großoffensive Russlands militärisch begegnet werden soll.
Wie stark diese Kräfte jedoch sind, ist unklar. Die großen Verluste in Makijiwska (Donezk) durch Himars-Raketen zu Silvester waren ein schwerer Schlag, der die russische Öffentlichkeit und die Bevölkerung durchaus erreicht hat. Führt er zu Einsichten oder zu mehr Ressentiments, die mobilisierbar sind? Welche Lernprozesse gibt es bei den Militärs? Wie organisieren sie sich neu? Nato-Generalsekretär Stoltenberg warnte jedenfalls zurecht davor, Russland zu unterschätzen. Er sprach sich entschieden für weitere Waffenlieferungen aus. Sie kommen nun spät, aber nicht zu spät.
Der Weg vom Waffenausfuhrverbot in Krisengebiete zu der gegenwärtigen Lieferung von schweren Angriffswaffen war für Deutschland historisch-kognitiv lang und politisch kurz zugleich. Die treibenden Kräfte waren ausgerechnet die ehemals pazifistische Partei der Grünen, die sich vor mehr als 40 Jahren quasi gegen die Politik von Helmut Schmidt gegründet hatte, und Protagonisten der liberalen FDP.
Diese wirklich erstaunliche Wende wird von entsprechend großen Worten mit neuem Pathos begleitet: „Putin hat sich in uns getäuscht: der Wohlstand ist uns nicht wichtiger als Werte, die uns ‚heilig‘ sind. Wohlstand ohne Freiheit wäre wertlos“ (Christian Lindner, 6.Januar 2023).
Eine nationale Sicherheitsstrategie soll nun erarbeitet werden, „die sich an der Klarheit der Botschaften mit Konsequenzen an Freunde und Rivalen messen lassen muss“ (a.a.O.).
Die Landes- und Bündnisverteidigung wurde jahrzehntelang vernachlässigt.
Sie muss nun auf Dauer gestärkt werden, obschon der wohlstandsverwöhnte Pazifismus sozialisiert hat. Geld allein genügt dafür nicht. Gleichzeitig erfährt man, dass sich die Zahl der Kriegsdienstverweigerer in Deutschland 2022 verfünffacht hat.
Die „Wertepartner sollen künftig auch die Handelspartner“ werden, so Lindner. Er fordert am Dreikönigstreffen in Stuttgart eine „durchdachte China-Strategie“ und eine „souveräne Interessenwahrnehmung“, um als Exportnation erfolgreich zu bleiben.
Nach der verteidigungspolitischen Zeitenwende sei dafür ebenso eine Zeitenwende in der Wirtschafts- und Finanzpolitik nötig. Darauf darf man genauso gespannt sein, wie auf die neue Sicherheitsstrategie. Vieles ist noch offen und unsicher, wird aber sicherlich zu neuen anhaltenden Kontroversen führen. Bei den nötigen Schulden des Staates in der Krise ist Finanzminister Lindner nicht wohl. Auf „unseren Staat“ aber sollte Verlass sein!? Auf welchen Staat?
Lindner setzt auf ein neues Wachstumspaket und nicht auf das Verteilen von Wohlstand. Er erneuert den Glauben an die liberale Erzählung, dass man bei den Lebenschancen der Einzelnen und ihrer Bildung beginnen müsse. Bildungsrepublik will Deutschland schon lange werden. Eine jährliche „Bildungsmilliarde“ kann helfen, wird sie aber auch nicht hervorbringen.
Die Fragilität der grünen sozialliberalen Koalition ist offensichtlich. Sie hat inzwischen ihre Mehrheit verloren, und Bundeskanzler Scholz hat messbar einen großen Vertrauensverlust erlitten, während die CDU/CSU-Opposition die Verteidigungsministerin Lambrecht gnadenlos ins Visier nimmt, die in der heutigen Situation den objektiv schwierigsten Posten bekleidet.
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