Die Liberalen wollen mitregieren

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Nach dem Wahlprogramm der FDP gibt es diesmal „soviel zu tun wie noch nie.“ Das will etwas heißen bei einer Partei, die bis 2014 am längsten in der Regierung war, wenn auch als kleiner Koalitionspartner. Sie gehört zur Gründungsgeschichte der Bundesrepublik und weist eine lange und vielfältige Programmgeschichte auf.

Wie der Name ‚Freie Demokraten‘ schon sagt, steht im Zentrum das philosophische Prinzip der größtmöglichen Freiheit des Liberalismus und seine verschiedenen Varianten. Schon Montesquieu (1748) sprach vom mehrdeutigen Begriff der Freiheit. Mit größtmöglicher Freiheit ist zunächst prinzipiell die Freiheit des Einzelnen, die individuelle Freiheit, gemeint, die grundrechtlich verbürgt ist. Der Ausbau, die Wahrung und Verteidigung dieses Verfassungsliberalismus liegt allen gesellschaftlichen Liberalisierungen der letzten Jahrzehnte zugrunde. Die Verfassung bildet den Rahmen, die Grundlage und die Grenze politischen Handelns. Auch das Recht in der Not ist verrechtlichtes ‚Ausnahme-Verfassungsrecht‘ (Kaiser) nach dem Grundgesetz. 

Insofern sind die liberalen Stimmen, die politisch meist vereinzelt auftreten, stets notwendige Stimmen, in welchen Situationen und Konstellationen auch immer. In der Regierung galt die FDP oft als wichtiges Zünglein an der Waage oder als „Umfallerpartei“, je nachdem. Sie hat acht Mal den Vizekanzler gestellt, zuletzt mit Außenminister Westerwelle, zuvor waren Scheel, Genscher und Kinkel wichtige Außenminister. Wichtige Innenminister waren Maihofer und Baum.1969 sorgte die FDP mit Willy Brandt und Walter Scheel für einen sozialliberalen Machtwechsel, der zugleich eine außenpolitische (neue Ostpolitik) und gesellschaftspolitische (mehr Demokratie wagen) Wende einleitete. 

Unvergessen sind die legendären Freiburger Thesen von 1971 und die Streitschrift des damaligen Generalsekretärs Karl-Hermann Flach „Noch eine Chance für die Liberalen oder die Zukunft der Freiheit“ (1971), worin er die besitzbürgerliche Einengung und Erstarrung des organisierten Liberalismus kritisierte. Um die Zukunft der Freiheit geht es immer wieder unter anderen Bedingungen, Freiheit ist nicht kontextlos. So verstanden es auch die Jungdemokraten, die später von der Generation der Jungliberalen abgelöst worden sind. 1977 lösten die Kieler Thesen die Freiburger Thesen ab und eröffneten den Konflikt zwischen Wirschaftsliberalismus und linker Sozialdemokratie, der bis heute anhält – bei den Jungen wie bei den Alten. 

Ob heute ein neuer Sozialliberalismus möglich ist, steht in Frage. Sicher ist, dass die FDP wie keine andere Partei die Partei der Marktwirtschaft war und ist. Was das heißt für eine soziale und sozialökologische Marktwirtschaft von heute, wird uns noch beschäftigen, genauso wie die Absetzung von jedweder sozialdemokratischen oder grünen Staatsgläubigkeit, die nicht mit Obrigkeitsdenken zu verwechseln ist, sowie die Fixierung auf den negativen Freiheitsbegriff gegen den Staat, der durch das Verantwortungsprinzip zu erweitern ist. Zur verantworteten Freiheit gehört neuzeitlich ebenso der Staat als Formel der Politik wie die Verantwortung als Staatsprinzip (Saladin).

Zum anderen hat die freiheitliche Grundposition der Liberalen aber auch eine klar positive Stoßrichtung, nämlich in der Kritik am Überwachungsstaat. Gegen ihn, der im Zuge des beherrschenden modernen Themas der Sicherheit in all ihren Facetten wie selbstverständlich ausgebaut wird (Sicherheitsstaat), gilt es tatsächlich wieder und vermehrt die Freiheit der Einzelnen zu verteidigen. Dafür treten die Liberalen als Anwälte ein: „Wenn das Populismus ist, bin ich gerne Populist“ (Kubicki). Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger beispielsweise trat 1995 zurück, als es um den ‚großen Lauschangriff ‚ ging.

Die FDP legt später teilweise erfolgreich Verfassungsbeschwerde ein. Auch gegen die anlasslose Vorratsdatenspeicherung und die Online-Durchsuchung erheben die Liberalen ihre Stimme, da sie für informationelle Selbstbestimmung eintreten. In dieser Tradition liegt auch die kluge regierungskritische Verteidigung der Grundrechte während der Coronakrise, wo die FDP prinzipienorientiert Kurs hält – nicht rechtslibertär wie die ‚AfD‘ und nicht so zahm wie die Grünen. 

Von Anfang an sind die unverzichtbaren liberalen Stimmen gegen die Unverhältnismäßigkeit und Unwirksamkeit bestimmter außerordentlicher Maßnahmen und das Krisenmanagement der Regierung am Bundestag vorbei deutlich vernehmbar. Lindner sprach wiederholt von einem „Blankoscheck“ für die Regierung und der Rechtsanwalt Wolfgang Kubicki sogar von „Scheinlegitimität'“. Die Kritik wird staatstragend mit konstruktiven Vorschlägen verbunden. Die Bundestagsfraktion fordert immer wieder konkrete Öffnungsperspektiven, regionale Modellregionen und Planungssicherheit statt pauschaler Lockdowns. Inzwischen liegt die FDP bei 10 bis 12 % in den Umfragen, doppelt so hoch wie noch vor einem Jahr. Mit zufriedener Stimmung geht sie deshalb in den digitalen Parteitag am 14. und 15. Mai in Berlin, um den Bundestagswahlkampf zu eröffnen. Sie will mitregieren. 

Die FDP ist keine Kanzler-, aber unverkennbar eine Regierungspartei. Sie ist von der Art des Politisierens wie vom Personal her strukturell aufs Regieren angelegt. Sie ist keine Partei des Straßenprotests oder großer zivilgesellschaftlicher Bewegungen. Mitspielen bedeutet für sie mitregieren, weshalb sie von ihrer vorwiegend bürgerlichen Wählerschaft gewählt wird. Dafür benötigt sie ein gutes zweistelliges Resultat und eine neue Flexibilität in Koalitionsverhandlungen für ein künftiges Regieren wahrscheinlich in einer Dreierkoalition. 

Nur die linke Republik von rot-rot-grün darf es für die FDP auf keinen Fall geben, alles andere könnte sie akzeptieren, selbst eine arbeitsteilige Ampelkoalition wie in Rheinland -Pfalz. Natürlich würde man Laschet, mit dem man in NRW mit einer Stimme Mehrheit regiert, gerne von den Grünen fernhalten. Lindner lobt Laschet als „Integrator“ und würde ihn sicher als Kanzler wählen. Ob grün und gelb noch miteinander können, wird aber eine politische Nagelprobe für beide Seiten werden, die wahrscheinlich einen starken Vermittler brauchen.

Das gute Zwischen-Resultat verdankt die FDP der konsequenten Politik für die Bürgerrechte und enttäuschten CDU-Wählern. Lindner versucht neuerdings sogar das Image der sozialen Kälte durch eine soziale Öffnung der bürgerlichen Mitte der Leistungsträger abzustreifen. Vor allem die „arbeitende Mitte“ soll entlastet und mit ihrer Aufstiegsorientierung (ausdrücklich mit Eigenheim) durch eine ambitionierte Bildungspolitik (Modell ‚Talentschulen‘ in NRW) „gesamtstaatlich“ durch eine neue Kooperation von Bund und Ländern unterstützt werden. 

Gegen die Gefährdung gut bezahlter Arbeitsplätze will Lindner sogar „vor die Werkstore gehen“. Er spricht von einem „aufstiegsorientierten Sozialstaat“; Leistungsgerechtigkeit und Fairness sollen gelten, was etwas weniger ist als eine ‚Gesellschaft des Respekts‘. Sozialliberale Ansätze sind jedoch wieder erkennbar, die krisenbedingten Umstände würden indes noch mehr erfordern. Denn es soll ja nicht nur ein schmales Segment von besonders dynamischen, kompetitiven und leistungsorientierten ‚Ich-Unternehmern‘ angesprochen werden.

Die FDP ist auch Europapartei. Ob sie allerdings den europapolitischen Kurs von Schulz, der das anspruchsvolle Europakapitel für die große Koalition geschrieben hatte, von Merkel und Scholz, deren geschickte Verhandlung – zusammen mit Frankreich – im Juli 2020 zu einem Durchbruch für ein solidarisches Europa in der Krise führte, weiterführen würde, ist zu bezweifeln. Prinzipienorientierte Liberale sind für Überraschungen gut, die FDP war beispielsweise für eine Volksabstimmung über den Lissabon-Vertrag.

Die FDP vertraut den Kräften des Marktes. Sie stärkt mit dem neuen 75-seitigen Wahlprogramm noch einmal diesen Markenkern und setzt außerdem, wie die anderen Parteien auch, auf Zukunftsthemen wie Digitalisierung, Bildung und Klimaschutz. Als Digitalpartei hat sie sich schon 2017 verstanden, deren Motto lautete: moderner und digitaler. Bildung ist zudem für die Sozialliberalen seit je ein Bürgerrecht (Dahrendorf) und erhöht erheblich die Chancengerechtigkeit, wenn sie denn wirklich und nicht nur verbal eine Hauptrolle in der Politik spielen würde.

Für den Klimaschutz und die Energiepolitik empfiehlt Lindner, statt Überbietungswettbewerb und Aktivismus nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 29. April, eine „Generalinventur“; sie sei technologisch und planwirtschaftlich festgefahren. Einzig ein „CO2- Limit “ müsse als verbindliches Ziel festgelegt werden. Bei einem „Nullwachstum“ nach 2030 könnte es zudem „enorme Verteilungskonflikte“ geben. 

Cleantech in Analogie zu Biontech schwebt Lindner als technische Lösung vor. Geradezu enthusiastisch spricht er vom Markt, den Unternehmern und Technologien. Deutschland verpasst gerade wichtige technologische Trends der neuen Generation wie 5G flächendeckend, Green GMO, dezentrale blockchain-basierte Technologie u.a. , was wirtschaftlich viel kosten wird. Von staatlicher Steuerung und Industriepolitik spricht Lindner nicht. Die Politik wächst bei ihm nicht über sich hinaus.

Eine Kombination verschiedener Steuerungsformen ist aber notwendig. Das sieht man etwa beim Aufbau einer neuen Energie- und Forschungsregion in der Lausitz. Lindner sagt wenig Konkretes zur Industrie-, Technologie- und Wissenschaftspolitik angesichts der industriepolitischen Zeitenwende. Elektro-Autos haben beispielsweise weniger Komponenten und weniger Zulieferer, was zum Wegfall von Arbeitsplätzen führen wird. Lindner wird deshalb häufiger vor die Werkstore gehen müssen, auch für Betriebsräte im Tesla-Land.

Steuererhöhungen sind im „Hochsteuerland Deutschland“ für die Liberalen nicht verhandelbar. Einzig große IT-Unternehmen wie Amazon oder Google könnten hier eine Ausnahme bilden. Ansonsten werden Erhöhungen bei der Einkommenssteuer ebenso abgelehnt wie Vermögenssteuer und Erbschaftssteuern. Priorität hat der wirtschaftliche Aufschwung nach der Coronakrise, was sich mit Steuererhöhungen nicht vereinbaren lässt; insbesondere Familienunternehmen dürfen nicht behindert werden. 

Tatsächlich ist ein mangelndes Verständnis für die Komplexität und Kleinteiligkeit der (sozialen) Marktwirtschaft verbreitet. Vor allem in Deutschland (ebenso wie in anderen Ländern) besteht das wirtschaftliche Rückgrat aus vielen kleinen mittelständischen Unternehmen und nicht nur aus großen Industriebetrieben, mit denen die Gewerkschaften gewachsen sind. Die von dort abgeleiteten Lösungen funktionieren jedoch oft für den Mittelstand nicht, dünnen ihn aus oder drangsalieren ihn bürokratisch. Dadurch verlieren auch Veränderungskräfte einen wichtigen Teil ihrer Umbruchkapazitäten.

Überhaupt gilt für den wirtschaftsfreundlichen Liberalismus die Philosophie, dass die Marktwirtschaft, Wirtschaftswachstum und Innovationskraft für das solide Fundament sorgen, das alle anderen sozialen und ökologischen Ziele überhaupt erst erreichen lässt. Das ist marxistischer als Marx. Priorität hat die Wettbewerbsfähigkeit und nicht die Politik, die lediglich einen Rahmen vorgibt. Aber welchen? Darüber erfährt man wenig Genaues. Auch beim Miet- und Wohnungsproblem liegt die ursächliche Problematik für die Liberalen allein beim Angebot. Das ist zu kurz gedacht und zu wenig für die arbeitende Mitte.

Christian Lindner selber hat sich als ständige one man-Show, wozu die mediale Öffentlichkeit durch Personalisierung verlockt (zwingt?), an diesem Parteitag abgeschafft. Am Schluss seiner mehr als einstündigen Rede bedankt er sich ausführlich und auf sympathische Weise bei seiner Partei als Team und stellt viele Mitglieder namentlich vor. So etwas hat man bei der CDU und SPD zwar erwartet, aber nicht gesehen. Damit hat Lindner neue Personen und Gesichter in die erste Reihe gerückt, welche die neu gewonnene Stärke der Partei unterstreichen nach den vergangenen mehr als sieben Jahren und dem erstmaligen Rauswurf aus dem Bundestag: „Die Zusammenarbeit war noch nie so gut“ (Lindner).

Ob und wie die FDP als liberale Bürgerrechts- und wirtschaftsnahe Wirtschaftskompetenzpartei die nächste Regierung mitgestalten wird, werden wir sehen. Ein zweites Ausscheren aus einer möglichen Jamaika-Koalition wie im November 2017, die eine Mehrheit der Bevölkerung als Experiment gewünscht hatte, soll es jedenfalls nicht mehr geben. Die Enttäuschung darüber wirkt noch nach. Fairerweise muss man dazu sagen, dass auch die damalige Kanzlerin, deren Ära jetzt zu Ende geht, ihren Anteil daran hatte.

Photo by Sigmund on Unsplash / Collage: HK