Die letzte Offensive

  1. Home
  2. /
  3. Blog
  4. /
  5. Die letzte Offensive


Im Frühling wird allenthalben die große Gegenoffensive der ukrainischen Armee erwartet. Seit Herbst 2022 hat sich die lange Frontlinie in der Ostukraine kaum verschoben. Zuvor hatte die Ukraine überraschend Geländegewinne in der Region Charkiv erzielt. Auch die Stadt Cherson im Süden, die als erste von der russischen Armee besetzt worden ist, konnte unter großem Beifall der Bevölkerung zurückerobert werden. Nach einem Jahr der Invasion halten russische Truppen noch immer ca. 18 Prozent des Landes besetzt.

Im September hatte Russland seine Streitkräfte durch eine Teilmobilmachung noch einmal verstärkt. Seitdem baut es sukzessive seine Verteidigungslinien im Donbass und auf der Krim weiter aus. Seit der formellen Annexion der neuen ukrainischen Gebiete ist Putin fanatisch gewillt, „alles für einen Sieg“ zu mobilisieren.

Und das in einem Krieg, der von einem faktischen Angriffskrieg in einen „Verteidigungskrieg“ umdefiniert worden ist, in dem es nun um nicht weniger als die „Existenz Russlands“ geht in einem ‚total‘ gewordenen hybriden Krieg gegen die ‚globale Nato‘. Die gescheiterte ‚Spezialoperation‘ gegen das „neonazistische“ Kiewer Regime im Februar 2022 hat sich ausgeweitet und immer neue gesteigerte Bedeutungen mit weltpolitischen Auswirkungen erhalten.

Russland, das größte Flächenland der Welt, ist damit politisch-mental wieder in einen Weltkrieg wie im 2. Weltkrieg gegen die Nazis versetzt – ‚reenactement‘. Und die Ukraine bildet dafür seit der Maidan-Revolution nur die Speerspitze, und selbst das kleine Finnland, das soeben als 31. Mitglied der Nato beigetreten ist, wird zu einer Bedrohung (dabei war und ist es umgekehrt!).

Die selbst herbeigeführte Natoisierung Europas erhöht für Russland das Risiko eines Konflikts (Schoigu) – auch eines atomaren Konflikts? Diese verdrängte Realität bewegt sich nach wie vor zwischen der bewussten Manipulation von Ängsten durch Putin (Kaliningrad, Belarus) und verbalen Beschwichtigungen, bei denen man sich in Europa ausgerechnet auf China verlassen will.

Scholz und Macron tun das, während der amerikanische Generalstabschef versichert (und es ist wohl die einzige realistische Versicherung), dass die USA die stärkste Militärmacht bleiben müssen. Was sie technisch auch sind, die Rüstungsausgaben sind entsprechend. Bei aller berechtigten Kritik an der Politik der amerikanischen Führungsmacht (Beispiel Irak), wird dies angesichts des Ukraine-Krieges und der Konflikte im Indopazifik wieder evident. Den kleineren Ländern bleiben derweil nur der Natoschutzschirm und die Wehrpflicht, um wehrfähige Demokratien zu bleiben.

Stand 2022 gab es die Wehrpflicht noch in Dänemark, Schweden, Finnland, Zypern, Griechenland und der Schweiz. Die Ukraine führte die Wehrpflicht 2014 wieder ein, 2015 folgten Litauen, Norwegen (erstmals auch für die Frauen), Litauen, Lettland, Niederlande und Polen, wobei es verschiedene praktische Ausführungsformen davon gibt. Herrschende Zeittrends sind indessen von historisch gut begründeten politischen Traditionen, die national, liberal und pragmatisch unterschiedlich interpretiert werden können, generell zu unterscheiden. Politische Theorie der Bürgerschaft und Demokratie ist darin involviert. Um diesen Realitätsbereich kommt man nicht herum.

Letzteres ist allerdings in den schnellen modernen Zeiten nicht immer leicht zu unterscheiden und zu erfassen, was zu den bekannten Orientierungsproblemen zwischen Trends und Traditionen führt. ‚Flexible Anpassung‘ ist dafür zu einem ebenso nichtssagenden wie verführerischen Konzept geworden. 

Es gehört mittlerweile zu den Volatilitäten gerade auch der demokratischen Politik, die sich in verschiedenen Ländern und auf allen Ebenen um entscheidende Mehrheiten bemühen muss. Die ursprüngliche Wehrpflicht, nach der ein französischer Bürger auch ein Soldat ist, stammt von der ‚Leveé de masse‘. Selbstverständlich gehört heute normativ ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung und Zivilschutz dazu – ein typischer Anwendungsfall des Verhältnisses von Solidarismus und Liberalismus mit seinem philosophischen Prinzip der größtmöglichen Freiheit des Einzelnen im konkreten Ernstfall.

Die Kiewer Regierung lässt keinen Zweifel daran, das gesamte Staatsgebiet bis zum Rückzug der russischen Truppen zurückerobern zu wollen, einschließlich der Krim; vorher gibt es definitiv keine Friedensverhandlungen. Erst jüngst lehnte Selenski den Vorschlag des brasilianischen Staatspräsidenten Lula ab , die Krim als Verhandlungsmasse zur politischen Disposition zu stellen. Umgekehrt ist für Putin die Anerkennung der eroberten Gebiete, die jetzt verfassungsmäßig zur russischen Föderation gehören, Vorbedingung für Friedensverhandlungen.

Die beiden entschlossenen Positionen sind konträr, und in der Folge wird weitergekämpft bis zur Niederlage oder zur Erschöpfung einer Partei. Putin will und kann als Autokrat nicht verlieren, die Ukrainer können und dürfen nicht verlieren. Sie rufen ihre Landsleute vielmehr dazu auf, die umkämpften Gebiete zu verlassen. Was würde also jetzt ein Waffenstillstand helfen? Wäre er nur eine taktische Finte? Auch die amerikanische Außenpolitik schließt zum jetzigen Zeitpunkt diesbezügliche Verhandlungen aus (Blinken).

Die Abnutzungskämpfe im Donbass haben zu schweren Verlusten an Menschen und Material auf beiden Seiten geführt. Die motivierten Menschen sind nicht leicht zu ersetzen bei einer Gegenoffensive, die nicht nur gut ausgebildete Soldaten erfordert, sondern noch mehr motivierte Soldaten, bei hohen Verlusten, mit denen bei solchen Aktionen von vornherein gerechnet wird. Am vorteilhaftesten ist eine Übermacht im jeweiligen Frontabschnitt, um wenigstens partielle Durchbrüche erzielen zu können. Solche Nadelstiche sind noch einmal etwas anderes, als raumgreifend die Halbinsel Krim zu erobern, die Russland „mit allen Mitteln“ verteidigen will.

Die ukrainischen Offensivfähigkeiten hängen entscheidend von den westlichen Waffenlieferungen ab, deren Unterschiedlichkeit weitere Probleme im Gefecht und Verbund der Waffen aufwerfen. Das ist seit langem bekannt. Der ukrainische Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj nannte im Dezember 2022: 300 Kampfpanzer, 700 Schützenpanzer, 500 Haubitzen (FAZ, 29. März 2023, S.3).

Polen ist bereit, zusätzlich seine MIG 29-Kampfflugzeuge zur Verfügung zu stellen, und die EU fährt in einer einzigartig abgestimmten Aktion ihre lange vernachlässigte Munitionsfabrikation wieder hoch, um überhaupt unterstützen zu können. Inzwischen müssen die Ukrainer, die ein akutes Munitionsproblem haben, sogar ihre Granaten rationieren.

Die USA bewilligt als wichtigster Verbündeter weitere Hilfen in Milliarden-Höhe, während Selenski seinen engsten Verbündeten Polen besucht, das bedingungslos auch mit dem Herzen im Krieg und seinen alltäglichen Erfordernissen ist. Gleichzeitig tagen die Nato-Außenminister, um den Nato-Gipfel im Juli vorzubereiten, der einen dauerhaften und gerechten Frieden mit konkreten Sicherheitsgarantien vorbereiten soll. Bei der Nato geht es um die dringende Erhöhung der Verteidigungsausgaben, die osteuropäische Länder als bedingungslose Unterstützer verdoppeln wollen, während Länder wie Deutschland, Kanada und Italien nicht einmal das schon lange diskutierte 2%-Ziel einhalten können.

Ob die zugesagten Waffen rechtzeitig kommen, ist fraglich, ebenso problematisch sind die Munitionsbestände und ihre Produktion sowie die Reichweite der Raketen. Dazu kommen die Witterungsbedingungen, die feste Böden für die Kettenfahrzeuge erfordern. Die geplante Gegenoffensive ist also von mehreren Bedingungen und Faktoren abhängig, die zusammenspielen müssen. Vermutet wird, dass die erwartete Offensive in Saporischschja beginnt und in Richtung Süden zielt nach Melitopol, das jetzt schon bezeichnenderweise unter Beschuss steht, um schließlich die Landbrücke zur Krim zu kappen.

Dazu kommt ein Gegner, der durch mehrere Verteidigungslinien vor allem gegen Panzer vorbereitet ist, aber ebenso Munitions- und Logistikprobleme hat. Über seine genauen Stärken ist wenig bekannt und wird viel spekuliert. Die Überschätzung wie die Unterschätzung sind deshalb gleichermaßen eine Gefahr. 

Die Aufmerksamkeit auf die sogenannten Wagner-Söldner des russischen Kriegsunternehmers Prigoschin und seines groß inszenierten Kampfes um Bachmut hat von der realen Verfassung der regulären russischen Armee abgelenkt. Die Ende Januar gestartete Winteroffensive scheint indessen insgesamt trotz kleinen Geländegewinnen gescheitert zu sein, hat aber die ukrainischen Verteidiger enorm viel gekostet. 

Auch die beabsichtigte komplette Zerstörung des ukrainischen Energiesystems hat zwar viele Schäden zugefügt und die Bevölkerung terrorisiert, ist aber dank des großartigen Einsatzes ziviler Handwerker nicht gelungen. Auch im harten Winter hat die Ukraine dem anhaltenden Zerstörungskrieg standgehalten.

Der ETH-Militärökonom Keupp wagt die Prognose (am 3.4.), dass Russland im Oktober den Krieg auch aufgrund des enormen Munitionsverbrauchs verloren haben wird. Wir erinnern uns an viele frühere Prognosen von Militärexperten, die weit daneben lagen. Darunter auch die Hoffnung von optimistischen Nato-Generälen, dass die Ukraine im Sommer die Krim wieder zurückerobert haben wird. Das ist mehr eine Hoffnung als eine Prognose.

Angesichts dieser langwierigen misslichen Umstände wundert es nicht, dass es wieder ein ‚Manifest für den Frieden‘ gibt, diesmal „aus der Mitte der Gesellschaft“ im Geiste Willy Brandts mit vielen älteren verdienten Sozialdemokraten; das Durchschnittsalter der rund 200 Personen liegt schätzungsweise über 70. Sein Sohn Peter Brandt, inzwischen selbst emeritierter Historiker, ist Erstunterzeichner. Von ihm geht die Initiative aus.

Diesmal geht es nicht gegen Waffenlieferungen wie beim Aufruf von Sarah Wagenknecht und Alice Schwarzer im Februar, den Viele in Deutschland teilen, sondern um eine diplomatische Initiative, die Bundeskanzler Scholz gemeinsam mit China, Brasilien und Indonesien herbeiführen soll. Die älteren Genossen haben dabei selbst viel aufzuarbeiten und zu reflektieren, siehe nur das Buch von Reinhard Bingener und Markus Wehner „Die Moskau Connection“ (2023). Auch über die Klimastiftung MV von Ministerpräsidentin Manuela Schwesig wird es noch viel zu reden geben.

Anette Kurschus, die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands, predigt an Ostern, dass man „Verhandlungen herbeiverhandeln soll“. Diplomatie und Waffenlieferungen Schließen sich in der Tat nicht aus. Vielfach wird aber noch immer die Subjekthaftigkeit der Ukraine, der genozidale Charakter des Krieges und Putins Desinteresse an Verhandlungen
verkannt. Doch der ersehnte Friede wird nicht einkehren, wenn nur große Länder (wie früher Deutschland und Russland) miteinander sprechen. Diese Lektion sollte man gelernt haben.

Der Krieg in der Ukraine ist in vollem Gange, die Diplomatie nunmehr ebenfalls, naturgemäß mehr hinter den Kulissen als offen sowie von verschiedenen Seiten aus, allerdings eher undurchsichtig und von zahlreichen Desinformationskampagnen begleitet. Der amerikanische Außenminister Blinken deutete an, dass man über die Grenzen der Ukraine verhandeln könne, wenn es die Ukraine wolle. Dahinter kann natürlich mehr vermutet werden. 

Die dafür eingerichteten Thinktanks arbeiten mit verschiedenen Szenarien und Lösungsvorschlägen. Von solchen professionellen Ratschlägen gibt es bei aller Ratlosigkeit mehr als genug. Und selbstverständlich wird das schwierige Thema in der ukrainischen Regierung und ihrem Umkreis selbst umstritten sein, wenngleich Selenski bekräftigt, „die Befreiung der Krim sei alternativlos“. „Dort herrscht unter russischer Flagge das Böse“ (8.4.). Selbst an Ostern, deren Hoffnung „eine Zivilisation ist, die auf Liebe gegründet ist“ (Franziskus), bleibt es normal und richtig, den Feind, der einen vernichten will, als böse zu bezeichnen.

Die Ukraine hat seit Butscha, erst recht seit der Annexion der vier Gebiete im September 2022, Verhandlungslösungen mit Putin und dem ‚Terrorstaat‘ abgelehnt, außer wenn es um Gefangenenaustausch und das Getreideabkommen ging. Sie verlangt auch eine Reform des UN- Sicherheitsrates, in dem seit April Russland turnusgemäß wieder den Vorsitz innehat. Der Auftritt der russischen Kinderrechtsbeauftragten, Frau Lwowa-Belowa, die seit Mitte März mit internationalem Haftbefehl, ebenso wie Putin, gesucht wird, sorgte dort für Empörung selbst unter gemäßigten Diplomaten. 

Das höchste internationale Gremium wird so, einmal mehr (Powell), zum Podium im Informationskrieg um Doppelmoral und die neuen Weltordnung – mit der Welt als verdutztem Zuschauer. Der Krieg hat weltpolitische Dimensionen erreicht, ohne dass man wüsste, wie entschieden werde könnte, wie es weitergeht. Wir stehen nicht nur im brutalen realen Krieg tagtäglich vor einem Patt, sondern derzeit auch weltpolitisch – mit ungewissem Ausgang. Der alles absorbierende amerikanische Wahlkampf für 2024 kommt inzwischen langsam auf Touren: Trump wirft Präsident Biden vor, die Nation in einen Atomkrieg zu führen.

Anfangs April befinden sich die EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen und der französische Staatspräsident Macron, der es innenpolitisch mit nicht weniger als einem Generalstreik zu tun hat, auf Staatsbesuch in China. Nachdem der Besuch von Xi in Moskau nicht die erhofften Fortschritte brachte, will Macron erneut darauf drängen, dass China Einfluss auf Putin nimmt. 

Von der Leyen warnt China, das zur „mächtigsten Nation der Welt“ werden möchte, außerdem vor Waffenlieferungen an Russland. China ist an guten wirtschaftlichen Beziehungen zu Europa interessiert, während es gleichzeitig brenzlige Militärmanöver vor Taiwan abhält. So funktioniert heute Weltpolitik, die uns einlullt und zugleich den internationalen Frieden gefährdet.

Lawrow spricht anlässlich seines Türkei-Besuchs (7.4.) von Friedensverhandlungen mit der Ukraine nur im „Zuge einer neuen Weltordnung, die nicht mehr unter der US-Herrschaft“ stehe. Was heißt das genau? Die russischen Interessen seien zu berücksichtigen. Was ist damit gemeint? In welchem Paralleluniversum lebt die russische Außenpolitik?

Lawrow droht auch mit dem Scheitern des Getreideabkommens im Mai, das unter Vermittlung der Türkei und der Uno zustande gekommen ist. Die Türkei fürchtet eine weitere Verschärfung des Krieges während der kommenden Monate. Folgt nach der achtmonatigen Zermürbungsschlacht im Donbass mit Bachmut als Symbol nun die Entscheidungsschlacht um die Krim?

Bildnachweis: IMAGO / YAY Images