Am 9. Juni 2022 übernimmt die Schweiz einen nichtständigen Sitz im mächtigsten Gremium der UNO in New York, welches laut UN-Charta die Hauptverantwortung für den Weltfrieden trägt. Ihm gehören als ständige Mitglieder mit Veto-Recht China, Frankreich, Großbritannien, Russland und die USA an. 1965 ist das Gremium von 11 auf 15 Mitglieder erhöht worden.
Mit 187 von 192 Stimmen wird die Schweiz ehrenvoll gewählt, ausgerechnet für die absehbar schwierigen Jahre 2023 und 2024. Das verpflichtet. Was aber kann die kleine Schweiz in der großen Welt ausrichten? Kann sie dem Druck der Großmächte USA und Russland standhalten? Das wird sich schon bald zeigen, etwa wenn die Hilfslieferungen für das syrische Idlib auf der Tagesordnung stehen.
Die eidgenössische Regierung hat dazu in Abstimmung mit dem Parlament einen eigenen Prinzipienkatalog entwickelt. Er umfasst folgende Punkte:
- nachhaltiger Frieden,
- Schutz der Zivilbevölkerung,
- Klimawandel und neue Sicherheitsfragen sowie
- die Effizienz des Sicherheitsrates (SZ, 7./8. Januar 2023).
Die neue Schweizer UNO-Botschafterin Pascale Baeriswyl geht seit Herbst letzten Jahres bei der UNO in New York sozusagen in die Lehre. Die Schweiz ist erst seit 2002 Mitglied, allerdings als einziges Land der Welt durch eine Volksabstimmung nach Art.141, 1986 scheiterte diese noch mit mehr als 75% Nein-Stimmen und der Mehrheit der Stände (Kantone), am nötigen und anspruchsvollen Doppel-Mehr.
Die Neutralität ist eine hoch angesehene staatspolitische Maxime des Kleinstaates, mit der man die eigene Souveränität bewahren konnte. „Dafür bezahlte sie bis 1989 den Preis einer möglichst autonomen Landesverteidigung“, so der Militärexperte Georg Häsler (NZZ, 7.1. 2023).
Mit rund 150 000 aktiven Soldaten hat sie international gesehen eine vergleichsweise große und gut ausgebildete Armee, was von ausländischen Militärattachés regelmäßig bestätigt wird, obwohl hier immer noch auch ein Mythos mitschwingt. Das sind umgerechnet auf tausend Einwohner 15 Soldaten, in Deutschland sind es zwei.
Die Situation hat sich inzwischen verändert: „Die Neutralität hat aufgrund der geostrategisch veränderten Lage ihre dissuasive Schutzwirkung weitgehend verloren“ (EMD 1992). Trotzdem dreht sich die politische Diskussion um die Neutralität seit dem 2. Weltkrieg lediglich im Kreis. Häsler stellt zutreffend fest:
„Im Rückblick wirkt die Armee 95 wie ein sicherheitspolitischer EWR. Ein Wartesaal. Alle Optionen sollten offenbleiben. An diesem Schwebezustand hat sich kaum etwas geändert.“ Im Vergleich zu Irland und Österreich legt die Schweiz ihre Neutralität strikter aus: sie ist weder Mitglied der Nato noch der EU.
Nach dem blamablen Lavieren des Bundesrates sowohl beim Rahmenabkommen mit der EU wie anfänglich 2022 bei den europäischen Sanktionen gegen Russland fragt man sich, ob die schweizerische Außenpolitik überhaupt über die Kompetenz, Professionalität und das nötige Tempo der Abstimmung (von der Innenpolitik her ist man sich an Langsamkeit gewöhnt, weil viele Akteure mitreden) verfügt, um den Aufgaben im Sicherheitsrat gewachsen zu sein.
Fast schon befremdlich wirkte es, als die Schweiz auf der Liste Moskaus der unfreundlichen, ja „feindseligen“ Staaten auftauchte. Für die Schweizer Regierung waren das Mittragen der EU-Sanktionen gegen Russland allerdings ein ungewöhnlich großer Schritt, während die Verbundenheit der Bevölkerung mit dem ukrainischen Verteidigungskrieg tiefer geht.
Ähnlich tief wie beim finnischen Winterkrieg 1939, dem ungarischen Volksaufstand 1956, dem israelischen Sechstagekrieg 1967, dem Prager Frühling 1968 „Dubcek Svoboda!“, deren Ereignisse als prägende historische Erfahrungen durch Lehrer, Schulen und Eltern weitergegeben wurden.
Diese Traditionsvermittlung gelang. Die Schweizer Bürger sind in ihrer großen und breiten Mehrheit keine politischen Neutralier trotz Neutralität. Im Gegenteil. Dafür sind sie zu politisch. Ist „politisieren“ überhaupt ein korrektes hochdeutsches Verb?
International privilegierter Verhandlungs- und Vermittlungsort ist die Schweiz seit 2022 auch nicht mehr. Genf, das protestantische Rom, hat wohl mit dem Spitzentreffen Biden und Putin am 16. Juni 2021 das letzte Summit dieser Art erlebt. Inzwischen haben die Türkei und Ankara diese Rolle übernommen. Die Neutralität jedoch auf diese ‚Guten Dienste‘ zu reduzieren, wäre ohnehin zu wenig.
Auch ein strengeres Vorgehen gegen die russischen Oligarchen, die sich in der Schweiz, vor allem im Kanton Zug und St.Moritz wohlfühlen, wurde zurecht angemahnt. Bisher sind lediglich 7,5 Milliarden Franken an Vermögenswerten beschlagnahmt worden, im Vergleich zu geschätzten bis zu 200 Milliarden (laut Bankiervereinigung). Zur Galerie der Oligarchen siehe genauer die Recherchen von www.publiceye.ch.
Die grundsätzliche Frage bleibt, wie kann die Schweiz Teil der freien Welt sein, die weder besonders demokratisch noch durchgängig vorbildlich ist, und durch neue Kooperationen eine Front gegen die Autokratien und Diktaturen bilden, und dabei gleichzeitig souverän und neutral bleiben. Geht das überhaupt, und wie?
Die Souveränität ist dabei der Begriffselefant im Raum, mit dem man den politischen Kampf um die Begriffe aufnehmen muss. Sie ist wissenschaftlich und politisch mit guten Gründen umstritten: siehe Cottier/Holenstein, Die Souveränität der Schweiz in Europa, Mythen, Realitäten und Wandel, Bern 2021. Man kann sie im verteidigungspolitischen Nato-Rahmen wie im europapolitischen Rahmen der EU gesondert diskutieren.
Selbst der Sitz im Sicherheitsrat bedeutet für die Superpatrioten der Schweizerischen Volkspartei (SVP), die besonders gerne politisieren und damit die erfolgreichsten Direktdemokraten in Europa geworden sind, einen Verrat an der integralen Neutralität, die sie in der Verfassung als „immerwährend“ verankern wollen.
Artikel 54a will der Schweiz die Mitgliedschaft in Verteidigungsbündnissen und das Ergreifen von Sanktionen weitgehend verbieten. Friedensfördernde Einsätze der Armee könnte das Parlament jedoch weiterhin bewilligen.
Dazu hat die SVP am 8.11. 2022 eine ‚Neutralitätsinitiative‘ gestartet, die bis zum 8. Mai 2024 100 000 Unterschriften sammeln muss. Die Initiative ist aussichtsreich. Der 82jährige Christoph Blocher, Jurist, Unternehmer, Oberst im Militär und ehemaliger Bundesrat ist noch einmal in den Ring gestiegen.
Er sieht sich noch immer, wie schon bei der Abwehr des EWR als „Kolonialvertrag“ am 6. Dezember 1992, im Abwehrkampf gegen die EU, die er als Bedrohung der Demokratie selbstbestimmter Bürger wahrnimmt. Als parteiunabhängige Plattform diente damals die Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (AUNS), heute heißt die Nachfolgerin schlicht „Pro Schweiz“.
Symbol der Initiative ist die bewaffnete Schweiz mit einer Friedenstaube. Wie groß jedoch sind die brückenbauenden Fähigkeiten der Schweiz im 21. Jahrhundert noch? Wie sieht die konstruktive Antwort auf den verengten Patriotismus der SVP aus?
Mit der Initiative kommt immerhin Bewegung in die ansonsten immergleiche festgefahrene Nicht-Debatte über die schweizerische Neutralität, die sich in der Zukunft bis hin zu einer möglichen Mitgliedschaft in der EU ausweiten kann. Die Wirkung der direkten Demokratie kann auch indirekt und zeitlich gestreckt groß sein.
Die Lage hat sich seit dem 24.Februar 2022 geopolitisch und europapolitisch entscheidend verändert. Die Politik muss darauf reagieren, dabei geht es nicht um Ewigkeitswerte. Auch die Neutralität ist wie Unabhängigkeit und Souveränität ein historisch-politischer Begriff, der sich ändert, nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in der Zukunft.
Gerade der gegenwärtig sich akut wandelnde sicherheitspolitische Kontext bietet die Chance, Neutralität auf der Höhe unserer Zeit und ihren Herausforderungen zu definieren (Häsler a.a.O., dem ich hier folge). Dabei geht es zunächst um eine Annäherung an die Nato.
Finnland und Schweden haben vorgemacht, was die verteidigungspolitische Zeitenwende bedeutet (siehe den Blog vom 15. Mai 2022). Unter Druck kommen vor allem Länder, die nur egoistisch für sich schauen. Die skandinavischen Länder brauchen diesbezüglich keinen Nachhilfeunterricht. Für die neutrale Schweiz indessen ist in einem ersten Schritt eine neue Transparenz gegenüber seinen Nachbarn und Partnern erforderlich: „Die Zeit der stillen Kooperation ist vorbei“.
Wie kann also der Beitrag zur europäischen Sicherheit aussehen? Diese Frage stellen sich momentan alle Länder mit Dringlichkeit? Auch die kleine Schweiz kann ihr nicht ausweichen, militärpolitisch nicht und darum in der Folge auch politisch und europapolitisch nicht.
„Den militärischen Schutz des Kontinents bezahlen heute im Wesentlichen die US-Steuerzahler: mit Waffenlieferungen an die Ukraine, aber auch mit Bodentruppen in Osteuropa, einem Flugzeugträger und dem pausenlosen Einsatz der Luftwaffe“ (Häsler).
„Zusammen mit Deutschland und Österreich gehört die Schweiz zu den großen Profiteuren der amerikanischen Sicherheitsanstrengungen in Europa „. Dem würde wohl auch General Vad, der langjährige Berater von Kanzlerin Merkel, zustimmen. Frankreich dagegen geht seit je immer einen eigenen Weg in der Außenpolitik ungeachtet der europäischen Integration. Auch der jüngste Vorstoß, die Panzerlieferungen betreffend, war nicht mit Deutschland abgestimmt. Aber selbst die U-Boot gestützte Force de frappe, die erst kürzlich modernisiert worden ist, kann die ‚grande nation‘ nicht mehr alleine verteidigen.
Im 21. Jahrhundert ist die militärische Kooperation mit den Nachbarn der beste Schutz der eigenen Souveränität geworden, die nicht mehr rein territorial verstanden werden kann. Dies gilt natürlich auch für die Schweiz, welche zunächst die Zusammenarbeit mit der Nato verbessern muss. Interoperationalität lautet das Schlagwort dafür. „Friedenseinsätze mit militärischen Nischenprodukten wie im Kosovo reichen nicht mehr“ (Häsler).
Aktive Neutralität
Auch die „immerwährende Neutralität“ ist ein historisch-politischer Begriff. Maßgeblich sind für die Politik neue Umstände und Lagen, die eine dringende Antwort erfordern, die wiederum moralisch-politisch begründet werden muss. Das ist im Falle von Putins zerstörerischem Angriffskrieg gegen die Ukraine eindeutig der Fall, der zugleich neue große Fragen der europäischen Verteidigung und Solidarität aufwirft, denen sich die Schweiz nicht verschließen darf.
Sie ist vielmehr mittendrin und kann nicht abseits stehen. Sie muss sich am anspruchsvollen Marshallplan für den Wiederaufbau der Ukraine beteiligen und insbesondere laut und unüberhörbar in der UNO die Stimme für die kleinen Länder gegen imperiale Machtpolitik erheben: wie beispielsweise für Georgien, Moldawien, die baltischen Staaten und Taiwan, das buchstäblich jeden Tag durch China militärisch bedroht wird.
Als Nicht-EU-Land hat die Schweiz mit den Lugano-Prinzipien faktisch zudem eine Patenschaft für die europäische Beitrittsperspektive der großen Ukraine übernommen. Dem Tessiner Bundesrat Ignazio Cassis (EDA) war es zu verdanken, dass die Ukraine Recovery Conference am 4.und 5. Juli in Lugano stattfinden konnte (siehe den Blog vom 6.Juli 2022), an die wiederum die große Berliner Konferenz (25.10.22) anschloss.
Nicht nur mit technischen Geräten für die Minenräumung im „größten Minenfeld der Welt“ (Schmyhal), sondern in vielerlei Hinsicht kann sich die Schweiz wirtschaftlich, technisch und politisch nützlich machen. Dazu gehören transnationale Städtepartnerschaften von unten, in denen sich vermehrt Jugendliche einbringen sollten. Das gilt von überallher und in allen relevanten Hinsichten.
Dies wird auch für die politische Zukunft der Ukraine absehbar wichtig. Und so wie man sich in der Schweiz traditionell um das Schicksal von Tibet kümmerte, so sollte man sich zum Beispiel auch mit dem Schicksal der Kurden beschäftigen. Zu Themen wie Regionalismus, Föderalismus, Sprachenpolitik, direkte Demokratie und Gemeindeautonomie kann jedenfalls die politische Schweiz aus eigenen Erfahrungen gute Seminare anbieten. Bildung bedeutet für ein friedliches und nicht korruptes Miteinander insbesondere auch politische Bildung für alle.
Die kleine und große Welt können und müssen so vermittelt werden, wenn wieder eine vertrauenswürdige und zuverlässige Kultur der Kooperation entstehen soll, um dem Frieden eine Chance zu geben.
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