Immer mehr ukrainische Soldaten entscheiden sich im dritten Kriegsjahr zur Desertion. Die ukrainische Armee leidet ohnehin schon seit je unter akutem Personalmangel, permanentem Munitionsmangel und kaum Rotation und Erholung. Vielmehr rückt derzeit die russische Militärwalze in der Ostukraine langsam, aber stetig vor unter schweren Verlusten.
Die militärischen Aussichten der Ukrainer an der Ostfront sind derzeit schlecht und von Einkesselungen und Rückzügen begleitet. Am heftigsten ist die Provinz Donezk umkämpft. Niemand möchte freiwillig dorthin, wo es nur noch rückwärts und nicht mehr vorwärtsgeht.
Das drückt auf die Moral der Truppe, sodass sich Soldaten vor allem aus Ermüdung entfernen. Inzwischen gibt es sogar ein Gesetz, Fahnenflüchtige nach einem erstmaligen Versuch wieder zurückzuholen, nachdem sie bisher streng bestraft worden sind. Man braucht jeden Einzelnen.
Es ist ein ganz anderer Verteidigungskrieg, den die ukrainischen Soldaten seit drei Jahren führen müssen, als der israelische existenzielle Verteidigungskrieg mit dominanter Luftwaffe, der wieder andere schwerwiegende Probleme, vor allem für die betroffene Zivilbevölkerung, aufwirft. Die Hölle des Krieges gilt hier für die Zivilbevölkerung und die Bodentruppen im Häuserkampf, den man lange hinauszögerte, da man weiß, dass er zwangsläufig eigene Opfer erfordert.
Kein Nato-Land würde den Krieg so beginnen wie die Ukraine, ohne Luftüberlegenheit und schwacher Luftverteidigung, die allerdings im Verlauf der Zeit durch westliche Unterstützung stärker geworden ist.
Dazu kommen für die ungeschützte Infanterie, die feindlichen Kampfhelikopter, die gefürchteten ‚Alligatoren‘, die riesigen verstreuten Minenfelder, die oft fehlende Artilleriemunition sowie der neuartige Drohnenkrieg, bei dem beide Seiten einander immer wieder technologisch und taktisch überraschen, auf Kosten der Soldaten in ihren Stellungen.
Der ehemalige Oberbefehlshaber Saluschnyj, der jetzt britischer Botschafter ist und für die Eskalationen von 2024 vom „Dritten Weltkrieg“ spricht, der begonnen hat (Ukrainski Prawda 4.12.), forderte schon 2023 , nach der gescheiterten Sommeroffensive, deutlich mehr Soldaten (200.000) und eine bessere Waffentechnologie für die Ukraine.
Entscheidend in einem Stellungs- und Abnützungskrieg bleibt die Moral der kämpfenden Soldaten. Um sie als Soldaten und Bürger sowie ihr Umfeld geht es in diesem Blog und ging es von Anfang an aus der Perspektive eines Verteidigungskrieges, der weiterhin geführt werden muss, gerade in dieser, einmal mehr, entscheidenden Phase
– gegen einen Feind, der an Material (7800 Panzer sind schon zerstört!)und Zahl der Kämpfer überlegen ist, der sich strategisch zu Beginn fürchterlich verkalkuliert hat (Regimewechsel) und sich seit Herbst 2022 (nach der Annexion der ukrainischen Gebiete)fanatisch festbeißt sowie weiterhin systematisch zerstört, dabei den Winter als Waffe einsetzend.
Die Fehler der Empfehlungen und Versprechungen von außen bezahlen die ukrainischen Infanteristen mit furchtbaren Verwundungen (Minen!), Erschöpfung und Tod auf dem Feld. Und die Heimat der Bevölkerung, die zum Teil gar nicht mehr zurückkehren will, in ihre zerstörten Dörfer, Städte und Betriebe, einschließlich des Energieversorgungsnetzes, das planmäßig zerstört wird (man kennt es ja aus der Sowjetzeit und lässt die Ukraine bewusst auf die Kernenergie ausweichen, deren Werke wiederum bis heute nicht in einer demilitarisierten Zone geschützt sind). All das bekommen die Soldaten gleichzeitig mit.
Unvorstellbares wurde Wirklichkeit, denken wir nur an den vorsätzlichen Bruch des Kachowka-Staudamms im Juni 2023 oder an die fortwährende Misshandlung von Kriegsgefangenen. Das absolute Verbot der Folter gilt in der Hölle des Krieges nicht. Die Berufung auf den Buchstaben des humanitären Völkerrechts gehört ins Wolkenkuckucksheim. Diese Entzivilisierung wird nie mehr gesühnt werden können.
Auch in Russland sind Mobilisierungen nicht populär. Man versucht es mit Geld und versprochenen Sozialleistungen, die über dem russischen Durchschnitt liegen, vorwiegend hinter dem Ural und immer mehr mit Ahnungslosen aus allen möglichen Ländern. Ein heimatverbundener Kampf ist das nicht, auch wenn die Soldaten und ihre Familien als Helden des Vaterlandes angesprochen werden. Die Soldaten wissen häufig nicht, was sie erwartet, wer abhauen kann, desertiert aus guten Gründen und kann nur hoffen, in anderen Ländern Aufnahme zu finden.
Von Januar bis Oktober 2024 hat die Staatsanwaltschaft in der Ukraine 60.000 Verfahren für Soldaten wegen unerlaubten Verlassens ihrer Truppen eingeleitet. Es drohen Gefängnisstrafen bis zu 12 Jahren. Nicht alle werden aufgespürt.
Ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung kennt die Ukraine nicht, zudem gilt das Kriegsrecht. Seit Langem versucht die Ukraine, im In- wie Ausland unter den Geflüchteten für die Mobilisierung von Soldaten zu werben, mit wenig Erfolg.
Die Mobilisierung bleibt innenpolitisch verständlicherweise ein kontroverses und überaus heikles Thema. Das Rekrutierungsalter wurde schon einmal von 27 auf 25 Jahre gesenkt, dem jüngsten amerikanischen Vorschlag für eine nochmalige Absenkung auf 18 Jahre konnte die Regierung nicht folgen. Sie will lieber mehr Waffen als junge Soldaten mit schneller Ausbildung, die „verheizt“ werden.
Die steigende Zahl der Deserteure fällt zusammen mit der prekären Situation an der Front, die bröckelt. Rückzüge und Einkesselungen drohen, Rotation gibt es kaum. Viele sind über 40-jährig, ein Alter, in dem man in anderen Armeen schon nicht mehr zum Aktivdienst gehört.
Mourir pour le Donbass? Zur Geschichte dieser besonderen industriellen Weltregion, von Stalin und Hitler begehrt, mit ihren riesigen Kohlevorkommen, Minen und Stahlfabriken siehe „Der lange Abschied vom Donbass“ (Ivo Mjinssen, NZZ, 5. Dezember, S.3).
Die Orangene Revolution 2004 (Janukowitsch) und der Euromaidan 2013 haben mit ihr zu tun. Das Land musste immer um seine Einheit kämpfen. Nach den langen und schweren Kämpfen um Awdijiwka und Wuhledar droht es seinen Ostteil zu verlieren. In diese Hölle des Krieges will niemand gehen. Putins Ziel ist es, die Ukraine als Nation zu zerstören. So weit ist es noch nicht, aber der Blutzoll dieser Nationwerdung ist hoch.
Ein Widerstandsrecht im präzisen Sinne von Recht gibt es im Leviathan-Staat nicht (Hobbes, Leviathan, oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, 1651), der Gehorsam verlangt, wofür er Schutz bietet. Seine absolute Souveränität sichert im „Krieg aller gegen alle“ den Schutz des Lebens, indem er ihm die Todesfurcht nimmt. Diesen Schutz nehmen auch Bürger als Soldaten in Anspruch, sie sind keine Sklaven und kein Kanonenfutter.
Zerfällt dieser elementare Lebensschutz, der in besseren Zeiten auch Wohlergehen (‚comfort‘, der sich steigern lässt) bedeutet, zerfällt die Legitimität des Staates und seines ‚ethischen Legalismus‘, den er beansprucht. Auctoritas non veritas facit legem (Hobbes), lautet der berühmt-berüchtigte Satz, der selten zur Gänze verstanden wird. Vorschnell wittert man ‚autoritären Legalismus‘.
Dabei geht es um den Unterschied zwischen Gesetzesgeltung und der Geltung von Lehren (doctrinae). Um die Wahrheit der letzteren wurden und werden blutige (religiöse) Bürgerkriege geführt und erklärt heute der ‚Islamische Staat‘ dem Westen den Krieg. Um sie zu verhindern, wird das legitime Gewaltmonopol des Staates installiert, welches um des primären Rechtsfriedens willen irresistibel durchsetzungsfähig sein muss.
Recht ist im Unterschied zu Moral an seine Durchsetzbarkeit gekoppelt. Darum geht es auch in der demokratischen Politik, die freilich ihre eigenen Verfahren und Zeit hat. Ein Beschluss ist mehr als ein Entschluss.
Die (Rechts-)Gehorsamspflicht des Bürgers ist selbst bei Hobbes jedoch nicht unbedingt, was er im 21. Kapitel seines Leviathan unter dem bezeichnenden Titel „Von der Freiheit des Untertanen“ ausführt. Die Sphäre der ‚fides‘ (Glaube im Unterschied zur ‚confessio‘, das, was öffentlich zu bekennen ist) und die Sphäre der Selbsterhaltung, insbesondere die körperliche Unversehrtheit, sind dem bürgerlichen Gesetz grundsätzlich entzogen:
„Wenn deshalb ein Souverän wenn auch rechtmäßig verurteilten Menschen befiehlt, sich selbst zu töten, zu verletzen oder zu verstümmeln, Angreifern keinen Widerstand zu leisten oder auf Nahrung, Luft, Arznei oder andere lebensnotwendige Dinge zu verzichten, so hat dieser Mensch doch die Freiheit, den Gehorsam zu verweigern“(S.168, Ausgabe Ffm. 1988/1966).
Die Unterscheidung zwischen fides und confessio bildet das Einfallstor für die Geschichte des bürgerlichen Liberalismus und zugleich des permanenten und systematisch (nicht bloß punktuell) schwierigen Konflikts zwischen Politik und Recht, die einander brauchen, denn strukturell läuft die Politik über den (Rechts-) Staat, was zur Verrechtlichung als Signum der Moderne führt.
Die Lehre des englischen Staatsphilosophen Thomas Hobbes (1588-1679), der, was man merkt, auch Mathematiker war, ist bis heute brisant und lehrreich zugleich, und zwar für den starken Einzelnen wie den starken Staat als Sicherheitsstaat. Sie ist freilich nichts für den saturierten Wohlfahrtsstaatsbürger und sein bequemes Denken, wie es sich in unseren goldenen Jahren ausgebreitet hat.
Bei Hobbes steht die Einheit des Staates, der Staat als Person im Zentrum, was ein wirksames Widerstandsrecht ausschließt. Obwohl jedem Einzelnen aufgrund der modernen Selbsterhaltungslehre, der Hobbes folgt, ein Recht auf Widerstand zusteht, falls er sich an Leib und Leben bedroht fühlt (was subversiv und brisant ist), schließt die Mächtigkeit des starken Staates zumindest potenziell aus, dass er es auch tatsächlich wahrnehmen kann (das ist die staats- und demokratietheoretische Seite).
Hobbes Rettung der Bürgerschaft ohne Rückfall in den Bürgerkrieg, so könnte man zugespitzt formulieren, ist die Durchsetzung seines (problematischen) Staatsverständnisses. Es kommt mithin gleichermaßen auf die Entwicklung (heute) des liberalen Staates wie der Demokratie der Bürger als Kampf um Rechte (über Hobbes hinaus) an.
In einem liberalen Staat gibt es das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen. Die Grundrechte der Bürger gegen den Staat sollten verfassungsmäßig die Hauptrolle spielen. Im Krisen- und Verteidigungsfall steigt freilich der moralisch-politische Druck des Patriotismus, und es werden militärische Fähigkeiten von Bürgern als ‚Krieger‘ gefragt, die sich nicht von heute auf morgen aufbauen lassen.
Sie müssen vielmehr trainiert und gepflegt werden. Zur Verteidigungsfähigkeit gehören aber zunehmend auch vielfältige zivile Fähigkeiten im technischen und medizinischen Bereich. Der Zivilschutz ist in unserer Zeit der (Natur-)Katastrophen immer wichtiger geworden.
Es gibt mithin Optionen auch jenseits des Militärischen für Menschen, die nicht mit Waffen kämpfen wollen oder können. Darüber hinaus ist heute in Europa die Interoperationalität innerhalb eines wehrfähigen Bündnisses, sprich Nato, welches abschreckungsfähig ist, entscheidend.
Das bedeutet, dass die europäischen Nationen stark und Europa insgesamt an der Seite der USA angesichts der imperialen russischen Bedrohung, die von Nordkorea, China und Iran Rückendeckung erhält, bleiben müssen.
Außenminister Lawrow warnt, dass Russland „jedes Mittel“ zu seiner Verteidigung einsetzen werde (6.12.). Das Signal mit der Oreschnik-Rakete sollte deshalb der Westen ernst nehmen. Eine „strategische Niederlage“ werde Russland nicht hinnehmen, zugleich wolle man Missverständnisse mit den USA vermeiden. Das erinnert an die Warnschüsse zur Zeit des Kalten Krieges.
Währenddessen verhandeln wichtige Berater aus den USA und der Ukraine. Die Lage spitzt sich zu: Waffenstillstand und Krieg sind gleichermaßen möglich.
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