Die grüne Republik

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Die Grünen haben eine Woche nach den erfolgreichen Wahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz am 19. März ihr Wahlprogramm vorgestellt, das 134 Seiten umfasst. Mit ihm wollen sie eine neue Ära einleiten, nicht nur die Post-Merkel-Ära, sondern nicht weniger als die Ära einer grünen Republik.

Annalena Baerbock, die vermutliche und für eine feministische Partei logische Kanzlerkandidatin (zumal es nur Männer als Konkurrenten gibt) sprach als erste schon bei der Vorstellung des neuen Grundsatzprogramms im Sommer 2020 von einem „Führungsanspruch“ gegenüber der CDU. Die Grünen streben eine neue Hegemonie an, sie wollen mit der Macht etwas machen: „Die Politik soll über sich hinauswachsen“ (Baerbock).


Das erfordert freilich seinen Preis – ökonomisch, politisch und kulturell. Der strengere Klimaschutz mit sozialen Komponenten steht inhaltlich im Zentrum des neuen Programms. Die Grünen wollen (und müssen) auch in Europa vorne sein bei der 1,5 Grad-Bewegung. Das ist ihre historische Mission und das Momentum der grünen Partei, die 1980 mit 1,5% Wähleranteil begonnen hat und heute mit ca. 20% auf dem Sprung in die Regierung und möglicherweise sogar ins Kanzleramt ist.

„Klimagerechter Wohlstand“ lautet eine bezeichnende Überschrift, die verbreiteten Ängsten vor Wohlstandsverlusten von vornherein entgegenwirken soll. Denn mit Wohlstandsverlusten sind bei den Meisten Freiheitsverluste assoziiert, die für politische Instabilität sorgen können. Hier müssen die Grünen aufpassen, dass sie mit ihren Veränderungsbestrebungen nicht mehr Ängste erzeugen als die Bedrohungen unserer Lebensgrundlagen, die sie mit Eifer, Leidenschaft und Sachverstand bekämpfen. Für das vorrangige Ziel der Klimaneutralität soll richtigerweise der CO2-Preis erhöht werden, und der Kohleausstieg auf 2030 vorgezogen werden, obwohl mit der Lausitzregion 2038 verabredet worden ist. Letzteres birgt Konfliktstoff.

Ab 2030 sollen nur noch emissionsfreie Autos zugelassen werden. Für die grüne Bundesrepublik wird die Entwicklung der Autoindustrie mitentscheidend sein, an der 5 Millionen Arbeitsplätze hängen. Außerdem sollen die Solar- und Windkraftanlagen, was in Kommunen teilweise auf erheblichen Widerstand stößt, massiv ausgebaut werden. Ein zusätzlicher Schlüssel sind die energieeffizienten Neubauten und Sanierungen, was inzwischen in der Stadtplanung angekommen ist. Redlich ist die Aussage im Programm: „Wir können nicht versprechen, dass niemand durch Klimaschutz belastet wird.“

Die CO2- Einnahmen wollen die Grünen in ein „Energiegeld“ für alle Bürger umwandeln. Die sozialökologische Wende wird den Staat viel kosten: 50 Milliarden sollen in den Ausbau der Bahn, schnelles Internet, klimaneutrale Infrastruktur, E-Ladesäulen u.a. fließen. Im Zweifel sind die Grünen für den starken Staat, was eine Koalition mit der SPD nahelegt. Die Besserverdienenden (100 000 und mehr) sollen durch einen höheren Spitzensteuersatz bezahlen, und eine Vermögenssteuer (ab 2 Millionen) ist für Bildungsinvestitionen in den Ländern vorgesehen.

Bei der Sozialpolitik gibt es tatsächlich große Überschneidungen mit dem linken Wahlprogramm der SPD: Mindestlohn 12 Euro, Kindergrundsicherung, Weiterbildung als Grundrecht, Absetzung von Hartz lV, zusätzlicher sozialer Wohnungsbau, Mietendeckel u.a. Die Grünen wollen damit in die Breite der Gesellschaft gehen, sie verstehen sich nicht mehr nur als Ökopartei, obwohl die Klimapolitik die erste Priorität hat und nur begrenzt verhandelbar ist. Sie wollen die Ökologie mit der Erneuerung einer nachhaltigen Wirtschaft verbinden und streben deshalb erstmals das Wirtschaftsministerium an.

Neben dem anspruchsvollen Umbau der Wirtschaft in Richtung Klimaneutralität steht ebenso ein anderes und besseres Regieren im Vordergrund. Das frappierende Organisations- und Verwaltungsversagen in jüngster Zeit ist anzugehen. Dabei geht es nicht nur um zum Teil erhebliche und elementare Rückstände bei der Digitalisierung, sondern auch um strukturelle Probleme der Koordination und Kompetenzverteilung.

Zudem fehlt Personal bei der Justiz und der Polizei, so dass besorgte Staatsanwälte und Richter bereits fragen, ob “ wir Rechtsstaat noch können“. Trotz Gesundheitsnotstand und Klimapolitik sollten die Grünen die innere Sicherheit nicht vernachlässigen. Sie gehört gleichermaßen zur Staatsreform – nach NSU und Fall Amri.

Die Grünen wollen das bessere Regieren mit einem Ministerium für Fragen und Probleme der Einwanderungsgesellschaft verbinden, das aus dem Innenministerium ausgegliedert werden soll. Die rechtlichen Unterschiede zwischen Staatsbürgern und Einwohnern werden eingeebnet durch ein kommunales Wahlrecht für Ausländer, was eine alte Forderung ist, sowie durch ein Bleiberecht für bisher lediglich Geduldete (nach 5 Jahren) und ein möglicher Spurwechsel für gut Integrierte im Arbeitsmarkt. Das ist menschlich und nützlich zugleich. Außerdem gilt ein Abschiebestopp für die Kriegsgebiete in Afghanistan und Syrien.

Der Islam soll als gleichberechtigte Religionsgemeinschaft behandelt, und die Imam-Ausbildung in Deutschland durchgeführt werden. Hier bleiben die Grünen ihrer einwanderungsfreundlichen menschenrechtlichen und toleranten Politik treu und entwickeln sie weiter, ohne opportunistisch auf Wählerstimmen zu schielen. Genauso wie der durchgängige Klimafolgen-Check und der ebenfalls durchgängige Gleichstellungs-Check sind dies Spezifika grüner Politik, die sie gegenüber anderen Parteien auszeichnen.

Von der populismusanfälligen direkten Demokratie haben sich die Grünen nach dem Brexit-Schock im neuen Grundsatzprogramm zugunsten losbasierter Bürgerräte verabschiedet. Im neuen Wahlprogramm gibt es dafür auf Bundesebene nunmehr den „Partizipationsrat“ in Analogie zum Ethikrat. Er soll vornehmlich aus Vertretern der postmigrantischen Zivilgesellschaft und Vertretern der Wissenschaft bestehen.

Damit setzt sich der Trend der neuen Räterepublik fort, die Demokratie als deliberative Demokratie zu verstehen. Auf diesem Weg wollen die ohnehin maßgeblichen Entscheider zu besser vorbereiteten Entscheidungen kommen. Nichts fürchten Politiker mehr als Fehlentscheidungen, und nichts ist schwerer als verantwortete Entscheidung. Die wissenschaftliche Politikberatung ist zwar immer wichtiger und einflussreicher geworden, aber sie regiert nicht. Besseres Regieren ist zudem demokratisches Regieren, das mehr bedeutet als professionalisierte Bürgerbeteiligung, die von oben eingerichtet wird.

Die Grünen wollen und müssen für ihre ehrgeizigen Ziele alle mitnehmen, beim besseren technokratischen Regieren geht es aber primär um bessere Regierungskunst und nicht um mehr Demokratie. Dennoch sollte wenigstens bei den wichtigsten, alle betreffenden Vorhaben mit großen Konsequenzen die direkte Demokratie der Bürgerinnen und Bürger gewagt werden, was immer mit großem Aufwand verbunden ist. Die gesellschaftlichen Mehrheiten sind oft weiter als die politischen. Regierungsunfähig wird man mit der direkten Demokratie nicht, obwohl sie sowohl für die Regierenden als auch die Bürger anstrengend ist. Wenn man in die Breite gehen will, ist diese Schulung nötig.

Man wundert sich, wie detailliert das umfangreiche Umbauprogramm geworden ist. Es handelt sich um 39 Themen von A bis W, von Arbeit bis Wohnen, sogar die Cannabis-Stände sind dabei. Das ist nicht nur „too much“, sondern auch riskant und bietet viele Angriffspunkte. Die CDU/CSU kann daran wieder genesen. Die Grünen indes können sich nur noch selber ein Bein stellen, denn auch ihre Bäume wachsen nicht in den Himmel.

Ein wichtiger Teil der vorgeschlagenen Maßnahmen steht unter Finanzierungsvorbehalt; dazu kommt, dass es für die besonders ehrgeizigen, etwa steuerpolitischen Ziele eine Mehrheit in der EU braucht, die für die Grünen ebenso ein wichtiger Akteur geworden ist wie die Nato, wobei sie sich gegen 2% Verteidigungsausgaben aussprechen, was außenpolitisch nicht zuverlässig ist, was sie wiederum mit der SPD gemein haben. Die verfassungsmäßige Reform der Schuldenbremse, um die vorgesehenen enormen Ausgaben überhaupt tätigen zu können, benötigt zudem obligatorischerweise eine 2/3-Mehrheit im Bundestag und im Bundesrat.

Neben den zahlreichen Angriffsflächen kommen mithin große Unsicherheiten dazu. Selbst die innere Geschlossenheit der Partei, die bisher einen Großteil ihres Erfolges ausmachte, ist gerade auf dem Zenit nicht selbstverständlich. Oftmals beginnt dann die Krise. Beim konkreten Regieren und Koalieren kann es nicht nur zu Spaltungen in Grüne, linke Grüne und Grünliberale, sondern auch zu Entfremdungen zwischen der Partei und den Bewegungen, die sie unterstützen (zum Beispiel Fridays for Future) kommen. Die Bündnispartei ist dann nicht mehr zugleich Protestpartei, sondern lediglich eine konventionelle Regierungspartei. Wir wollen hier aber nicht den Teufel an die Wand malen.

Die Grünen treten mit frischer Überzeugungskraft und wichtigen Vorschlägen auf. Sie wollen regieren, um ihre Ziele durchzusetzen. Das lässt sich nicht in Abrede stellen, und sie haben in den letzten Jahren selbst in schwierigen Koalitionen – zumindest auf kommunaler- und Landesebene – bewiesen, dass sie das können. Allein durch ihren Wahlkampf verabreichen sie der “ müde gewordenen Gesellschaft eine Vitaminspritze“ (Habeck) und beleben damit die Demokratie, von der verbal soviel die Rede ist. Sie sind nicht nur jung geblieben, sondern auch klüger und radikalpragmatisch – im Sinne von radikal und pragmatisch – geworden.

Es wird diesmal ein echter inhaltlicher Richtungswahlkampf und nicht bloß ein deklarierter. Ich bin gespannt, wie die scheinbar ambitionslose CDU darauf reagieren wird.

Bild von Manfred Richter auf Pixabay