Die Geschichte klopft an die Tür des kleinen Mannes 

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„Die Zeichen stehen auf Krieg“, schreibt der Redaktor und Militärexperte, Oberst der Schweizer Armee, Georg Häsler (NZZ, 17. März, S.13). 

Die kleine Schweiz ist politisch in einer ähnlichen Situation wie das große Deutschland, denn der neue Bundesrat, in dem der Zuger Martin Pfister gerade die Walliserin Viola Amherd als Verteidigungsminister abgelöst hat, muss sich mit einer nur allzu bekannten ungeliebten Priorität befassen: der Finanzierung einer glaubwürdigen Armee.

Häsler spricht von einer „fokussierten Aufrüstung“ trotz Neutralität und Schuldenbremse. Dafür müsse sich jetzt der neue Bundesrat, eigentlich ein kollegiales Gremium, „zusammenraufen“ ähnlich wie in der Zwischenkriegszeit im sogenannten „Burgfrieden“ zwischen den Bürgerlichen und den Sozialdemokraten, die gerade in Militärfragen weit auseinanderlagen. Die Gräben in der (Klassen-)Gesellschaft waren tiefer als die Spaltungen heute.

Für einen neuen militärpolitischen Kompromiss sollen heute und jetzt alle über ihren Schatten springen: „die Neutralisten und die Pazifisten“ (a.a.O.). 

Dann folgt Häslers treffende These: „Die Schweiz kann sich mit ihrer Realitätsverweigerung weder selbständig verteidigen noch ein Minimum an Solidarität mit den liberalen Demokratien Europas zeigen.“

Dazu gehört als gemeinsamer Nenner, was noch kein großer Wurf ist, zumindest das Folgende:
1. die Kriegsgefahr als Bedrohung benennen; 
2. eine aktive Rolle in der europäischen Sicherheitspolitik spielen; 
3. die Nato als operative Klammer der Selbstbehauptung begreifen. 

Das ist die Überzeugung von Häsler wie vom Autor dieses Blogs, der sie teilt. In der schweizerischen Diskussion unter den Parteien wie in der Bevölkerung ist sie allerdings alles andere als selbstverständlich. Umstritten ist sie seit je.

Der eidgenössische Sonderfall – umstritten und bewundert, ja mythisiert – umfasste eine eigenständige militärische Landesverteidigung mit hohen Kosten, einschließlich teurer Kampfflugzeuge von der Mirage 1961 bis zum F-35 heute, und den Verzicht auf militärische Bündnisse. 

Trotz aller alten und verbreiteten militärischen Miliztraditionen schloss die offizielle Regierungspolitik der Schweiz den Krieg als Denkmöglichkeit bis vor drei Jahren aus. „Der militärische Aufwuchs“ begann nur „zögerlich“ wie überall in Europa.

Da ist die Schweiz kein Ausnahmefall, obwohl ein kriegerischer Konflikt in Europa in den nächsten Jahren „ein wahrscheinliches Szenario geworden ist“ (Häsler a.a.O.). Hinzugekommen ist die neue Hektik um den amerikanischen Rückzug aus Europa. 

Siehe für Deutschland und Europa der Militärexperte Carlo Masala: „Wenn der Bündnisfall scheitert: ist die Nato faktisch entkernt“, in: Frankfurter Rundschau, 17. März .

Für die Schweiz Oberst Häsler: Fällt die Ukraine an Russland und wechseln Ungarn und die Slowakei das geopolitische Lager, dann „öffnet sich östlich der Landesgrenze der praktisch ungeschützte Tirol-Korridor.“

Trotz Eigenständigkeit ist die Schweiz auch auf eine militärische Kooperation mit ihren Nachbarn angewiesen: „Die Abwehr von ballistischen Lenkwaffen ist im Alleingang schlicht unmöglich“, wie das Beispiel Israel lehrt. 

Politisch hat es die direktdemokratische Schweiz gegenwärtig vor allem mit dem Spardruck und dem Abstimmungskampf über die Neutralitätsinitiative der SVP zu tun. 

Eine Mehrheit der politischen Schweizer glaubte wohl immer, dass sich die Schweiz selber verteidigen kann. Mit diesem Glauben ist man aufgewachsen, es war Tradition. Aber auch Traditionen verändern sich.

Für die Aktivdienstgeneration des 1. und 2. Weltkrieges galt das ohnehin. Der stachlige Igel ist ein Bild dafür geworden, und die Réduit-Schweiz, zu der General Guisan auf dem Rütli am 25. Juli 1940 aufrief, zum Widerstands-Mythos, der sich in der Nachkriegsschweiz verfestigt hatte. 

In den 60er Jahren begannen als Generationenkonflikt die ersten kritischen Debatten über die Armee, die in den 80er Jahren mit den breiten Diskussionen um die Armeeabschaffungsinitiative der GSoA (Gruppe der Schweiz ohne Armee) ihren Höhepunkt erreichte.

Die Mythen der alten Eidgenossen, zum Beispiel die Schlacht am Morgarten 1315, spielten dabei auch eine Rolle. Ich erinnere mich noch an unseren sehr guten aufgeklärten Geschichtslehrer, Oberst im Generalstab und Mitglied der Korea-Friedensmission, der bildlich in das lockere Nagelfluh-Gestein griff und dieses auf die Habsburger Ritter schmiss, die versuchten, in die (Inner-)Schweiz einzudringen. 

Die Ritter in ihren Rüstungen sind dann im Zugersee gelandet. So ist es erzählt worden. Als ich 2015 die 700-Jahrfeier der Schlacht besuchte, sagte man mir, sie hätte gar nicht stattgefunden.

Diese heroische(n) Geschichte(n) unserer Erinnerungskultur dauerte von Winkelried bis zur Niederlage in Marignano 1515. Sie wurde immer wieder erzählt, auch für die moderne Milizarmee, die 1817 gegründet wurde und etwas anderes war.

Diese Armee blieb für die politische Identität der Schweiz und die Aktivdienstgeneration so wichtig, dass die Gruppe Schweiz ohne Armee GSoA, 1982 gegründet, die international unter Friedensforschern große Beachtung fand, einen Tabubruch bildete. 

Sie war erfolgreich, obwohl sie 1989 mit ihrer Volksinitiative scheiterte. Bei einer Stimmbeteiligung von mehr als 69 % stimmten ihr mehr als 35 % zu. Der allzu sicheren Selbstgewissheit fragwürdiger eidgenössischer Militärtraditionen
wurde damit ein Dämpfer erteilt.

Dieses Resultat und das Ende der Sowjetunion 1991 beeinflussten sodann wichtige Reformen der Armee.

Seitdem hat sich das Verhältnis zur Armee geändert. Es ist nüchterner und realistischer geworden. In meiner Schulzeit in den 60er und 70er Jahren war der Umgang mit Dienstverweigerern aus Gewissensgründen vor Militärgerichten ein Skandal. 

Inzwischen ist der Zivildienst so wichtig geworden wie die Armee, das ist ein großer Fortschritt. Er gehört zur Verteidigungsfähigkeit von heute, wie die Ausbildung an wirksamen Waffen. Der Verteidigungsbegriff ist breit zu fassen und hat verschiedene zivile und militärische Komponenten. 

Die Ausrüstung der Soldaten muss genauso gut und auf dem neuesten Stand sein wie der Schutz der Bevölkerung. Sie muss wissen, wo sie professionellen Schutz finden kann, wenn die Sirenen ertönen. Der Katastrophenschutz und die Kliniken sind nicht nur für den Krieg auszubauen.

Das alles kostet nicht nur viel Geld, sondern auch viel zivile Zeit und bürgerschaftliches Engagement. Das ist der Preis der Freiheit, der nicht zum autoritären Zwang werden darf. Das ist schwierig und nicht durchweg angenehm. Es ist auch der demokratischen Schweiz nur mit zahlreichen persönlichen Reibungen und politischen Konflikten gelungen. 

Der freiwillige Militärdienst ist einer von Bürgern und Bürgerinnen in Uniform und Kampfanzug. Man muss sich auch im Militär nicht alles gefallen lassen. Der mündige Bürger muss nicht abtrainiert werden, sondern kann sogar noch an Selbstbewusstsein gewinnen.

Der Dienst sollte nicht an einem Stück in Kasernen und mit zu viel Drill stattfinden, sondern nach der Grundausbildung in Wiederholungs- und Ergänzungskursen bis zum 40. Altersjahr, mit häufigen Unterbrechungen zum Zivilen hin.

Geh hin, wenn du dich physisch fit und psychisch belastbar fühlst. Du lernst andere Leute kennen, mit denen du sonst nicht zusammenkommst. Unnötige Mutproben und Mobbing darf es dabei ebenso wenig geben wie Kollektivstrafen, Gammelei und Langeweile.

Die Geschichte“ im großen Singular, die große Geschichte, hat an die Tür geklopft (Klingbeil).
„Historische Zeiten verlangen historische Entscheidungen“, heißt es. Mit der großen Geschichte sind Putin und Trump gemeint, die wir schon etwas länger kennen. 

Die objektive Lage hat sich aber in kürzester Zeit, binnen Wochen, „drastisch“ verändert: „Wir sind im Krieg“ (Merz). Diese veränderte Lage bezieht sich zum einen auf den amerikanischen Rückzug aus Europa und zum anderen auf die Kriegsgefahr aus Russland. 

Auch für die neutrale Schweiz, die seit Beginn des Ukraine-Krieges für Russland nicht mehr neutral ist (nicht umsonst ist sie als Konferenzort durch Saudi-Arabien ersetzt worden), stellt sich die Frage: Kleinstaat – was nun?

Als Schweizer heißt, das übersetzt: doppelt kleiner Mann – was nun? Politisch und militärisch.

Realistischerweise hängt viel von Annahmen ab, die nicht sicher, sondern höchstens plausibel oder unplausibel sind, wie meistens in der Politik. Worauf baue ich also?
– Erstens darauf, dass sich die USA nicht aus der Nato verabschieden wird, und
– Zweitens darauf, dass ein russischer Angriff auf einen Nato-Staat eher unwahrscheinlich ist, zumal die Armee in einem schlechten Zustand ist.

Beides sind problematische Annahmen, die mit Gründen bestritten werden können. Freilich habe ich auch für meine Annahmen Gründe, die ich hier nicht noch einmal ausführlich darlegen will, da sie aus den Blogs der letzten Jahre hervorgehen.

Ich möchte aber nicht zu schwarzmalen, da es niemandem hilft, weder der Ukraine noch den baltischen Staaten noch Polen und schon gar nicht der nötigen Verteidigungsfähigkeit, die keine Hektik und Panik verträgt. Die Devise muss sein, das Beste zu hoffen und sich auf das Schlimmste vorzubereiten, denn dieses braucht ohnehin Zeit, Überlegung und Organisation.

Der kleine Mann lebt in den Geschichten seiner Lebenswelt. Diese hat ihre eigene Zeit und andere Strukturen als die Weltzeit. In der modernen Welt inflationärer Kommunikation und überwältigender Informationsflut kann der Einzelne sein Leben nur „erzählend bestehen“ (Peter Bichsel).

Das ist sein Bewusstsein und seine Identität in Geschichten, die mit der großen Geschichte zu tun haben, aber darin nicht aufgehen.

Jeder/jede hat vielmehr das Recht, seine eigene Geschichte zu erzählen, haben wir im neuen Potsdamer Toleranzedikt 2008 geschrieben. Jedes Individuum braucht deshalb einen Anwalt/ Fürsprecher, der ihn verteidigt. Die Zerstörung des Individuums ist das Programm der Feinde der offenen und freien Gesellschaft.

Bildnachweis: IMAGO / Depositphotos