Die Entscheidungsschlacht

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Nach dem buchstäblich gewaltigen strategischen Fehlschlag auf Kiew muss die russische Großoffensive nach Ostern ein Erfolg werden. Der neue Kommandeur, der Armeegeneral Dwornikow verspricht seinem politischen Mentor Putin einen Erfolg bis zum 9. Mai, dem großen Tag des sowjetischen Sieges über Nazideutschland.

Die Donbass-Region soll militärisch und zivil „befreit“ werden und die Landverbindung zur Krim wiederhergestellt werden. Was dann folgt, weiß niemand. Es hängt vom Ausgang des Krieges ab, der noch immer einer Preiserhöhungsstrategie folgt. „Die Schlacht um den Donbass“ (Selenskyj) soll die Entscheidungsschlacht werden.

Was wir wieder sehen, wie schon vor Kiew, ist eine lange Frontlinie von mehr als 400 Kilometer Länge – von Charkiv über Mariupol bis in den Süden nach Cherson. Es ist keineswegs sicher, dass der schwerfällige Goliath mit seinen logistischen Problemen diesmal einfach gewinnt und durchmarschiert, oder ob nicht vielmehr der vermeintliche David standhält und zu Gegenschlägen fähig ist. Dafür wären die gepanzerten deutschen Marder, Füchse und Leoparden von Nutzen. Die Territorialgewinne entscheiden über die spätere Verhandlungsmasse.

Die Kampfmoral ist intakt, und die ukrainische Regierung fleht täglich um mehr und bessere Waffen. Die USA und die Nato liefern, eine schnelle Sache wird es dennoch nicht, Experten prognostizieren eher einen Zermürbungs- und Stellungskrieg, der lange dauern kann. Die Bodenoffensive wird jedenfalls seit Ostermontag den 18. April vorbereitet durch intensiven Beschuss der Städte mit Artillerie und Raketen. Nach dem orthodoxen Osterfest, das immer eine grosse alltägliche Bedeutung hat, soll sie erst richtig in Gang kommen. Nicht einmal der Osterfrieden indessen veranlasst unter den Christen eine Waffenruhe.

Seit Wochen verfolgen wir täglich die Entscheidungsschlacht im Kleinen um Mariupol, mittlerweile nur noch um das riesige Stahlwerk mit mehreren Untergeschossen, wo seit langem viele Zivilisten mit Familien und Kindern ausharren. Zahlreiche Evakuierungsbemühungen sind gescheitert. Hier kämpfen das Asow-Regiment, gewissermassen der Erzfeind der russischen Armee, und die ukrainische Marineinfanterie.

Deren Kommandeur Wolyna forderte am 20. April in einem dramatischen Appell bei CNN, die „Extraktion“ in einen Drittstaat, die völkerrechtliche Schutzverantwortung durch die USA, die Briten und die Türkei, die freilich wiederum militärisch organisiert werden muss – zu Luft oder über das Wasser. Russische Spezialeinheiten versuchten das unübersichtliche Gelände mit bunkerbrechenden Waffen zu stürmen. Auch Kadyrows tschetschenische Kämpfer sind vor Ort. Hier spielt sich eine Entscheidungsschlacht im wahrsten Sinne des Wortes ab. Es wird nicht die letzte sein.

Die Hafenstadt Mariupol, die einmal 440 000 Einwohner zählte, ist strategisch und symbolisch von grosser Bedeutung – für beide Seiten. Am 21. April spricht Verteidigungsminister Schoigu davon, „dass Mariupol erobert sei.“ Die ukrainische Seite widerspricht dieser Darstellung, und der Bürgermeister Bojtschenko meldet sich am 21.4. zu einer Pressekonferenz. Putin selber kommentiert erstmals das Kriegsgeschehen, während völlig unklar ist, was auf der Verhandlungsebene geschieht. Jeden Tag hört man etwas anderes.

Nur Drohung oder Bedrohung? Nicht zufällig testet Putin in diesen Tagen eine neue Interkontinentalrakete, die Satan 2 (nomen est omen), die mit zehn bis 15 Atomsprengköpfen bestückt werden kann und über eine Reichweite von 18 000 Kilometer verfügt. Sie kann jedes Ziel auf der Welt erreichen und jede Raketenabwehr durchbrechen. Sie sollte denjenigen, die mit „aggressiver Rhetorik“ gegen Russland vorgehen, zu denken geben (Putin). 

Er befördert die Angst bei denen, die nicht ohne Grund (nach Georgien kam die Ukraine) eine Ausweitung des Krieges befürchten. Auf der anderen Seite ist es „ein Geschenk an die Nato“, welche die nukleare Abschreckung zur Verteidigung neu organisieren muss. Putin hatte vor dem Krieg erklärt, dass die Nato wieder in die Grenzen von 1997 zurückkehren müsse.

Das Pentagon zeigt sich von Putins Atomkriegsdrohungen unbeeindruckt und reagiert routiniert. Es ist vorher informiert worden. Die Normen auf dieser Ebene funktionieren noch. Dass Russland eine Weltmacht ist, weiß man. Wird sie aber auch den konventionellen Krieg in der Ukraine gewinnen? Das ist weniger sicher. Darauf konzentriert sich Präsident Biden jetzt mit wirksamen Waffenlieferungen, darunter speziellen Drohnen, und der Ausbildung von militärischen Ausbildnern an schweren Waffen wie Panzerhaubitzen.

Das macht im Moment den Unterschied. Eine neue Situation entstünde, wenn der auf Sieg fixierte Putin auf dem Gefechtsfeld verlieren sollte, dann wäre am Ende des Tunnels der Einsatz taktischer Atomwaffen, die zielgerichtet sind, nicht ausgeschlossen. Mit der „Ethik des Äußersten“ rechnete der französische Philosoph André Glucksmann schon während des Tschetschenien-Krieges. Er ist ein Schüler von Raymond Aron (siehe Frieden und Krieg, 1962) und war in den 80er Jahren ein hörbarer Widerpart der deutschen Friedensbewegung. Diese Diskussionen, die aus dem Bewusstsein verschwunden sind, werden unter anderen Vorzeichen wieder lehrreich.

Nachdem schon die militärische Einheit, die mutmaßlich Kriegsverbrechen in Butscha begangen hat, von Putin bewusst mit dem Ehrentitel „Garde“ ausgezeichnet worden ist, wird noch deutlicher, dass im Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen die Propagandamaschine wieder auf Hochtouren läuft, und es muss tatsächlich zu denken geben, dass sie offenbar in der „größten Demokratie“ der Welt Indien den Informationskrieg gewinnt ( siehe NZZ, 19.4., S.4). Über die Platzierung von Fake News und massiv durch Meinungsäußerungen von Trollarmeen wird in sozialen Netzwerken die öffentliche Meinung systematisch beeinflusst, was umso leichter fällt, als Europa und USA hier nicht aktiv sind.

Bildnachweis: IMAGO / ITAR-TASS