Der (mögliche) Integrator?

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Die zwei Kanzlerkandidaten der beiden Schwesterparteien stehen bereit: der eine, Laschet, permanent in Frage gestellt und bemüht, der andere, Söder, nonchalant und für Überraschungen gut: „Er will nicht Juniorpartner sein einer künftigen Regierungskoalition von Grün/Schwarz“, dann lieber Opposition. Söder hat noch eine lange politische Zukunft vor sich, Laschet hingegen das schwierige Regieren in Koalitionen vor sich, die erst noch gebildet werden müssen. 

Von Anfang an, auch im Wettbewerb um den Parteivorsitz der CDU mit Merz und Röttgen, verstand sich Laschet, der Ministerpräsident des bevölkerungsreichsten Bundeslandes NRW, der dort seit 2017 zusammen mit der FDP regiert, als Integrator. Integrationsminister war er schon 2005 bis 2010. Er wolle „zusammenführen“, nicht spalten, so sein Programm für die CDU. Ebenso lautete das berühmte Credo seines sozialdemokratischen Vorgängers im Amt, dem späteren Bundespräsidenten Johannes Rau. Laschet ist nicht derart bibelfest und protestantisch wie Rau, dafür etwas fröhlicher und katholischer. 

Aber auch der Karnevalist Laschet hatte Tränen in den Augen, als im Ruhrpott die letzte Steinkohle gefördert wurde. Bundespräsident Steinmeier war ebenfalls zugegen bei diesem historischen Augenblick in der Industrieregion, der nicht lange her ist. Heute soll sie exemplarisch zeigen, wie Deutschland als viertgrößte Industrienation der Welt eine klimaneutrale Industrienation bis 2045 werden kann und wie man Strukturwandel auch mit sozialem Wandel und Kulturwandel bewältigt. Ist sie noch immer oder wieder Taktgeber des gesellschaftlichen Fortschritts? Wenn man in Kategorien von europäischen Stadtregionen denken würde, dann ja.

Allein die erfolgreiche Integration einer Volkspartei, dieser „fortschrittlichsten Organisationsform politischer Willensbildung“ (Veen,1999), ist heute ein Kunststück für sich. Aber was leistet sie für den Fortschritt im Land? Das ist noch einmal eine zusätzliche Frage. Die ausführliche sozialdemokratische Fortschrittserzählung von Scholz haben wir am 9. Mai gehört, die von Laschet steht noch aus. Was hat die CDU ideenpolitisch noch zu bieten? Den ostdeutschen Landesverbänden, und nicht nur ihnen, gefiel Friedrich Merz besser, der eher polarisierte und so verlorene Wähler zurückholen wollte, wobei seine inhaltliche Programmatik keinesfalls reicher oder präziser war als das von Laschet bisher Gehörte. Sein Auftritt, seine Diktion und sein Gehabe waren dafür umso deutlicher anders. Vielen in der Regierungs-Partei ging und geht es offenbar mehr um Habitus, Macht, Mandate, Posten und Führungsstärke als um Inhalte und Philosophie. Laschet kann immerhin auf NRW zeigen. Dort in der Ruhrmetropole, der dichtbesiedelsten Region Europas, lässt sich Vieles sehen, was lehrreich ist: der Fortschritt und das Museum, beides neben- und ineinander. 

Die typische Szene mit Merz wiederholte sich 2021 noch einmal im Vergleich zum bayrischen Ministerpräsidenten Söder. Dieser gilt vielen in ganz Deutschland parteiunabhängig eher als der plebiszitäre Führer, der aus Krisen herausführen kann. Einen ‚kleinen Putsch‘ mit bezeichnenden Argumenten von ‚“anderer Demokratie'“ gegen die CDU-Gremien hat er schon veranstaltet. Ähnlich, wenngleich auf unterschiedliche Weise haben Sebastian Kurz die ÖVP (‚Liste Kurz‘) in Österreich, Macron (‚La République en marche‘) in Frankreich und Berlusconi (‚Forza Italia‘) zuvor ein traditionelles Parteiensystem in kürzester Zeit überraschend umgekrempelt. 

Die Wahl des Spitzenpersonals ist letztlich eine Machtfrage, erklärte sogar der ansonsten eher zurückhaltende Reiner Haseloff, der sich für Söder positionierte. Die ‚Sprache der Macht‘, ja worin besteht sie? Wie kann sie sich legitimieren? Die Macht der Medien und Umfragen sind heute mitentscheidend, das ist keine Frage mehr, sondern eine geradezu überwältigende Tatsache. Darf man deswegen Demokratie mit Demoskopie verwechseln? Und welche Demokratie spielt überhaupt noch eine Rolle, wenn es um die Führung, Charisma und Macht geht? Die autorisierte Biographie von Laschet trägt den sonderbaren Titel „Der Machtmenschliche“(2020). 

Der Verwaltungsjurist Wolfgang Schäuble, der immer irgendwie mitregiert hat, meinte als Erster, Deutschland müsse ‚die Sprache der Macht‘ wieder lernen. Wo fängt das an? Wahrscheinlich nicht erst bei der Außenpolitik. Die neuen Grünen sagen gegenwärtig euphorisch: beim Machen. ‚Führung‘ im Sinne von Hegemonie und Regieren, die über die Macht des Machens der Aktiven und Bewegten hinausgeht, war allerdings ein neues Wort für sie, das Annalena Baerbock zum ersten Mal in den Mund nahm bei der Vorstellung des neuen Grundsatzprogramms im Sommer 2020, um den Führungsanspruch der CDU herauszufordern. Das ist ihr gründlich gelungen, auch wenn sie das Kanzleramt im September 2021 verfehlen sollte. Die Leere der Macht und die Ängste der ‚ewigen‘ Kanzlerpartei, die zu viel nur verwaltet und hinausgezögert hat, sind für alle sichtbar geworden. Selbst Frau Merkel hat resigniert und greift mit keinem Wort mehr in den Wahlkampf ein, außer wenn es notwendig wird, Jens Spahn zu verteidigen. Schon ist vergessen, dass ihre eigene Nachfolge-Präferenz Annegret Kramp-Karrenbauer während ihrer kurzen Episode als CDU-Vorsitzende keinen Fuß auf den Boden bekam. Der „Machtverfall“, den Robin Alexander beschreibt (2021), ist durchaus auch hausgemacht. 

Inhaltlich glänzte nur Norbert Röttgen beim Wettbewerb um die Führung der CDU. Er war von Anfang an der intellektuelle Außenseiter, der im Verlauf der vielen Diskussionen aber deutlich gewann. Der profunde Außenpolitiker, der auch ansprach, wie sehr die deutsche Europapolitik etwa im Verhältnis zu Macrons Vorschlägen eingeschlafen war, belebte die Debatten auf eine erfrischend intelligente und zugleich ernsthafte Weise. Wenn Laschet allerdings Kanzler werden sollte, wird Röttgen nicht Außenminister werden können, ein Posten, der für Deutschland schon immer wichtig war und in Zukunft noch wichtiger werden wird. Das ist schade, zumal das nachrückende Politiker/Innen- Personal nicht in Sicht ist, ebenso wenig wie ein kraftvolles Team Laschet. 

Mit Spahn, der als Gesundheitsminister für zu viele Pannen und falsche Versprechen des Pandemiemanagements verantwortlich gemacht wird, wird es nicht mehr gehen. Und mit der Wirtschaftskompetenz von Merz? Auch da sind Zweifel angebracht, ob das für den Integrator Laschet nach der Corona-Krise von Nutzen wäre, da er für die notwendige Befriedung das Soziale und Ausgleichende in der sozialen Marktwirtschaft betonen muss. Allein schon diese Personalfragen machen es für den Integrator schwierig, in künftigen Koalitionsverhandlungen, wo er besonders vermittlungsstark auftreten muss, sollte er etwa – anders als Merkel – eine Jamaika-Koalition zustande bringen wollen. Die Wähler wählen inzwischen koalitionstaktisch, sie müssen ihm das zutrauen können, wenn sie seine Partei wählen, die 30 und mehr Prozent erreichen will. 

Wir können jetzt natürlich nicht wissen, wie stark Laschet als Kanzler auftreten wird. Zu hoffen ist aber, dass er das Image des Gute-Laune-und-mit allen-gut-können-Onkels noch los wird und tatsächlich zum Integrator wird. Aber, wer weiß es? Im US-Wahlkampf hat man sich auch lustig gemacht über „sleepy Joe“, und jetzt überrascht Biden das Land und die Welt. Freilich hat er eine tüchtige Mann/Frauschaft an seiner Seite und qualifiziertes Personal aus der Obama-Ära, das nicht zu übersehen ist. Erinnern wir uns zudem daran, wieviel Vorschusslorbeeren die „Birne“ (Kohl) und das „Mädchen von Kohl“ (Merkel) in Kreisen hatten, die sich intellektuell viel einbilden, aber sich kaum mit konkreter Politik beschäftigen. Kohl und Merkel haben indessen beide rekordverdächtige 16 Jahre regiert in schwierigen (Umbruchs-) Zeiten und sind in ihren Ämtern zu historischen Persönlichkeiten gewachsen, was der zivilen Bundesrepublik, so jedenfalls die vornehmliche Außenwahrnehmung, nicht geschadet hat, im Gegenteil. 

Die CDU ist nach der Merkel-Ära inhaltlich und personell entkernt: Merkel regierte und verhandelte oft geschickt, und ebenso regierte sie nicht, denn vieles ließ sie laufen oder verhielt sich bewusst indifferent: in der traditionellen Familienpolitik, bei der Gestaltung der Energiewende, der Reform der Bundeswehr und beim Umbau der Universitäten etwa. Ihre humanitäre Flüchtlingspolitik 2015 führte schließlich dazu, dass rechts von der CDU die AfD bei der Wahl 2017 zur stärksten Oppositionspartei wurde. Alexander Gauland, der 40 Jahre CDU-Mitglied war, und nicht nur er, ist überzeugt davon, dass die AfD positiv “ gewirkt hat“. Grün wirkt schon länger, AfD wirkt ebenfalls – wie lange noch und wie? 

Laschet muss nun zuerst der eigenen Partei eine neue Richtung geben, bevor er regieren kann. Zunächst muss der „Massenselbstmord“ (NZZ, 26.4 2021) der Volkspartei abgewendet werden, deren Durchschnittsalter über 60 Jahren liegt, bevor Deutschland innen- und außenpolitisch zum Beispiel im transatlantischen Verhältnis zu neuen Ufern aufbrechen kann. Laschet braucht eine Partei wie Kohl eine brauchte mit Hilfe von Biedenkopf, Geissler, Vogel, Blüm u.a., bevor er als Kanzler wirken und wachsen konnte. Die versprochene ‚geistig-moralische Wende'(1982) hat er gleichwohl nicht zustande gebracht. Je liberaler Demokratie und Gesellschaft werden, desto schwieriger fällt es, die Freiheit zu regieren. Denn nicht nur, wer regiert, macht Politik. Dieser Megatrend der Liberalisierung hat sich vielfältig ausgewirkt. 

Die Pfähle des politischen Systems der staatlich finanzierten Parteiendemokratie in die Gesellschaft sind unübersehbar alt und morsch geworden, während sich die Gesellschaft dynamisch verändert. Die Parteibindungen spielen keine große Rolle mehr, das bisherige ‚politische System‘ bewegt sich auf wackligen Beinen. Wohin wandern die Identifikationen? Die Grünen erscheinen demgegenüber als junge neue ‚Volkspartei‘, die in der Politik aufnehmen will, was es in der aktiven (Zivil-)Gesellschaft schon gibt („Bereit, weil ihr es seid“, 11.6.2021). Für ein besseres demokratisches Regieren brauchen sie indes Bündnispartner auch unter den Parteien. Am schmerzhaftesten wiegt diesbezüglich der historische Absturz der SPD, deren Durchschnittsalter ebenfalls über 60 Jahren liegt. Sie wird sich möglicherweise in der Opposition mit neuen Gesichtern wieder erfinden müssen. 

In Sachsen und Sachsen-Anhalt muss die Partei mittlerweile sogar fürchten, nicht mehr zweistellig zu werden. Auch die Grünen werden im Osten nicht selbstverständlich zweistellig, sie sind hier noch längst keine Volkspartei und ersetzen nicht, was CDU, SPD und Linke in den letzten Jahren massiv an Stimmen verloren haben. Haseloff beschwert sich darüber, dass er den Kampf um die demokratische Mitte alleine führen muss. Der Ostbeauftragte Wanderwitz wiederum hat der CDU, die abgrenzen, aber nicht ausgrenzen will, was die große Zahl der AfD-Wähler und Nicht-Wähler betrifft, einen Bärendienst erwiesen, indem er sagte, „wir haben es mit Menschen zu tun, die teilweise diktatursozialisiert sind, dass sie auch nach dreißig Jahren nicht in der Demokratie angekommen sind.“ Eine demokratische Revolution gegen die SED-Diktatur wurde aber von Vielen, erstmalig in der deutschen Geschichte, zustande gebracht; die Mauer wurde vom Osten her zu Fall gebracht. Zahlreiche Bürger und Bürgerinnen haben heute tatsächlich den Bürgerglauben an die erfolgreiche Bundesrepublik verloren, aber aus Gründen, die mit der DDR nichts zu tun haben, etwa gemessen am Versprechen gleichwertiger Lebensverhältnisse oder der Chancengerechtigkeit. Sie sind auch im Wahlkampf vor Ort konkreter zu überprüfen und zu besprechen. 

Die demokratischen Parteien, insbesondere in Ostdeutschland, sind schwach, die Nicht-Wähler bilden die größte Gruppe, die Mitgliederzahlen haben sich seit 1990 halbiert, und die AfD hat ein Potential zwischen 20 und 30 Prozent. Was ist das Korrektiv dagegen? Eine Formel dafür gibt es nicht, nur eine beharrliche und vielfältige demokratische Praxis. Eine Demokratiepolitik, die diesen Namen verdienen würde, ist kein Thema des Wahlkampfes. Dafür haben die personell und sachlich überforderten Parteien ohnehin keine Zeit, die von neuen Arbeits- und Machtteilungen mit einer strukturierten Bürgerbeteiligung profitieren könnten. Räte gibt es inzwischen viele (‚Räterepublik‘!), die Kombination von Beratung und Entscheidung ist dagegen noch selten und ausbaufähig (kombinatorische Demokratie). 

Bürgerbeteiligung, wenn sie keine Nebensache bleibt, kann als Demokratiestärkung wirken. Zur Demokratiepolitik gehören außerdem ein Transparenzregister, das Demokratiefördergesetz und der Kampf um die Gemeinnützigkeit, was der aktiven Zivilgesellschaft helfen kann. Auf dieser ‚untersten‘ Ebene ist ein Handlungskonzept wie das ‚Tolerante Brandenburg‘ angesiedelt, welches seit 1998 existiert, das in die Fläche der Gemeinwesensarbeit geht und zugleich vom Bund unterstützt wird. 

Viele hoffen, dass die AfD ihren Zenit überschritten hat. An der Spitze haben sie personell immer weiter an Profil und Persönlichkeiten verloren, niemand scheint mehr präsentabel außer Meuthen. Und ihre Themen: starker Zuzug von Migranten, innere Sicherheit, politischer Islamismus – was wiegen sie noch? Profitieren sie von den Fehlern des Pandemiemanagements und der Mobilisierung gegen die „Corona-Diktatur“? Andererseits gewinnen sie gerade in Ostdeutschland in der Kommunalpolitik, insbesondere in ländlichen Gemeinden, und bei den unter 30-Jährigen, die nicht „diktatursozialisiert“ sind, wo sie in Sachsen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt stärkste Partei sind, an Boden, was eine viel zu wenig beachtete und unterschätzte Entwicklung ist (siehe: Zeitbombe AfD, www.tagesschau.de). Viel hängt davon ab, was an ‚jungen Patrioten‘ nachkommt; niemand weiß es. Gibt es wieder einen Kampf der Jugendkulturen? Sollte plötzlich ein Jörg Haider auftauchen, für den in den 80er Jahren der Begriff ‚Rechtspopulist‘ geprägt worden ist, wäre ganz Deutschland sofort wieder in heller Aufregung. 

Auch das Thema Europapolitik könnte der EU-kritischen AfD schon bald wieder in die Hände spielen. Hier hängt natürlich viel von Entwicklungen anderswo ab, etwa in Frankreich, wo im April 2022 wichtige Wahlen anstehen. Die AfD könnte dann möglicherweise einen bürgerlichen Nationalkonservativismus, was Meuthen vorschwebt, wieder erfolgreicher vom Rechtsradikalismus trennen, der bei der NPD und diversen Kleinstparteien bleiben würde. Die inneren Machtkämpfe sind nicht zu übersehen. Das sind freilich nur Szenarien, die möglich, aber nicht notwendig sind. Sie dienen bestenfalls dazu, die genaue Wahrnehmung nicht zu vernachlässigen und politisches Denken nicht einschlafen zu lassen. Man kann es sich durch bloße Etikettierungen auch zu einfach machen; der Verfassungsschutz kann und soll solche grundlegenden politischen Fragen jedenfalls nicht allein lösen. 

Für Laschets CDU ist die Abgrenzung von der AfD existenziell, welche die bürgerliche CDU vor allem im Osten zersetzen und ersetzen will. Ihre Gründer und wichtigsten Personen kommen zwar aus dem Westen, strategisches Ziel ist aber der Osten („wo die Deutschen noch unter sich sind“), wo man stärkste Partei werden möchte, um so die ganze Bundesrepublik destabilisieren zu können. Die Person Maaßen gibt – nach den Vorfällen in Chemnitz 2018 – einmal mehr viel zu reden, nachdem schon Nahles mit dem Bruch der Koalition gedroht hatte, falls er als Verfassungsschutzpräsident nicht zurücktritt. Er, dem man AfD- Nähe vorwirft, kandidiert in Thüringen für die CDU, der er sich unmissverständlich zurechnet (NZZ, 21.5.2021)., 

Hätte Laschet das verhindern sollen oder können? Derweil verteidigt dieser Maaßen öffentlich gegen ungerechtfertigte Antisemitismus-Vorwürfe. Den neuen Vorsitzenden der WerteUnion Max Otte, so wurde gefordert, sollte Laschet ebenfalls wegen geistiger AfD-Nähe, er war immerhin Mitglied von deren Stiftung, aus der Partei ausschließen, was er ausdrücklich nicht getan hat. Die kleine konservative WerteUnion kann Laschet aber nicht einfach beiseiteschieben, als ob sie – was nur formell stimmt – mit der Union nichts zu tun hätte, womit er sich ins eigene Fleisch schneidet, nachdem die CDU selber nicht mehr weiß, was ein vernünftiger Konservativismus ist. Es wäre eine Gelegenheit zwischen konservativen Demokraten, die von Merkel enttäuscht sind, und rechten Radikalen, die zur AfD gehören, zu unterscheiden. 

Politisch intellektuelle Reflexionen gibt es jedoch kaum, die Parteien scheinen ohne sie auszukommen. Brauchen die Parteien tatsächlich nur „Bild“, „Bams“ und „Glotze“ (Schröder) zum Regieren, und heute die starke Präsenz in den neuen sozialen Medien (Facebook, Instagram und Twitter)? Was ist der Preis dieser Art der Kommunikation und ihres Managements, welches aufgrund der vielen verbalen ‚Schnellschüsse‘ dauernd Kommunikationsdesaster auszubügeln hat? Im Spiegel des ‚Spiegel‘: „Die Schnelllebigkeit des Diskurses, die Schwankung der Stimmungen und Zustimmungswerte in der deutschen Politik ist atemberaubend“ (11.6. 2021). Und das Niveau des Diskurses ist oft unterirdisch (‚derailing‘). 

Die Politik wird so zu großen Teilen ein Illusionstheater. Ihre Glaubwürdigkeit bleibt bei diesem medialen Überbietungswettbewerb und Schaulaufen ebenso auf der Strecke wie das kollektive Gedächtnis und die verbindliche Orientierung im Grundsätzlichen. Stattdessen muss von den Politiker/Innen her kompensatorisch ständig und inflationär an das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger appelliert werden, was fürwahr eine dünne und wankelmütige Basis ist, die sich schnell verbraucht. Das Gegengift wäre eine verbesserte politische Kommunikation als verbesserte Demokratie, für die man sich Zeit nimmt. 

Laschet kann die aufreibenden Einzelkämpfe wegen Maaßen und Otte hinter sich lassen, wenn die CDU von Haseloff am 6. Juni mit über 30% deutlich vor der AfD liegt. Er selbst hat mehr als genug zu tun in relativ kurzer Zeit, denn er muss nun endlich ein überzeugendes Wahlprogramm vorlegen und dringliche inhaltliche Fragen beantworten, um seine Richtlinienkompetenz zu beweisen. Allein ein gemeinsamer symbolischer Auftritt mit Söder genügt dafür nicht. Die anderen Parteien haben vorgelegt, und die Wähler wollen wissen, wie Laschet sich die Nach-Merkel- Ära vorstellt – in der Partei, für das Land und für Europa. Die Union scheint von der Zahl und Tiefe dieser Fragen überfordert. Laschet hat bisher noch kaum eigene Akzente setzen können außer mit der Bergmannsplakette seines Vaters bei der überraschenden Bewerbungsrede für den CDU-Vorsitz am 16. Januar 2021. 

Das Adenauer-Haus rettet sich stattdessen mit polemischen Unterstellungen gegen die Gefahren eines Linksbündnisses, das nur schwerlich, wenn überhaupt zustandekommen wird. Die Union wird aber genauso absehbar und vorwiegend für ältere Wähler mit dieser Masche des Lagerwahlkampfes noch einmal punkten. Derweil bleiben zu viele Fragen, auch außenpolitische etwa im Verhältnis zur Ostukraine und Russland, unbeantwortet wegen des fehlenden Programms und fehlender Talente, die Zeit und Raum brauchen, um zu reifen. Von Veränderungsenergie ist bei Laschet bei allen internen und von außen aufgezwungenen Abwehrkämpfen, die ihn absorbieren, wenig zu sehen, derweil die anderen Parteien Zukunftsmissionen erarbeitet haben und leidenschaftlich diskutieren. 

Personen spielen in der Politik und für Parteien (wie auch für Bewegungen) eine entscheidende Rolle. Die Medien personalisieren erst recht, sie geben den Parteien und Bewegungen ihre Gesichter. In Brandenburg war bei den Landtagswahlen nur Woidke als Politiker überall bekannt, genauso Haseloff in Sachsen-Anhalt. Die Talk-Show-Formate als kleine Politikarenen verstärken diese Tendenz und schaffen vereinfachte Öffentlichkeiten. Auch diese Sendungen werden vermessen und stehen in Konkurrenz um die Quote zueinander wie im extremen Leistungssport, der die problematischen Vorbilder dafür liefert. Alle wollen in die Championsleague, aber alle schaffen es nicht. Solchen Gesetzmäßigkeiten unterliegt auch die heutige Politik, wenn es um die Spitze geht. Politik als Beruf setzt ein Naturell voraus, dies alles noch sportlich nehmen zu können, selbst wenn es in Politainment und Unfairness abgleitet. Die Kanzlerkandidatin der Grünen erlebt dies gerade, nachdem sie zuvor von den Medien „gehyped“ worden ist. 

Dennoch oder vielmehr gerade deswegen kann man nach den Wahlen in Ostdeutschland (und anderswo) nicht mehr so einfach mit den immer gleichen beschwichtigenden Formeln zur Tagesordnung übergehen, als ob es immer so weitergehen wird, und die bestehende Parteiendemokratie auf einem festen Fundament stünde. Wir haben oben dazu schon einige Stichworte genannt. Solange die AfD eine stabile Regierungsbildung nicht verhindern kann, muss man andererseits aber auch zur neuen und schwierigen Tagesordnung zum Beispiel einer Kenia-Koalition wie in Brandenburg, Sachsen oder Sachsen-Anhalt, sei es mit SPD-, sei es mit CDU-Führung übergehen können. Die 5 Jahre Kenia-Koalition von Haseloff war ein Balance-Akt (siehe nur den Fall Möritz) und ein Erfolg, den SPD und Grüne mitgetragen haben. 

Regierungskonsense sind selbstverständlich und selbst Minderheitsregierungen sind keine Anomalie mehr, sie gehören in Europa mittlerweile zur demokratischen Regierungskunst, etwa in den skandinavischen Ländern. Diese Erfahrungen bereichern die politische Verantwortungskultur, die fragil und gefährdet ist. Ostdeutschland ist dafür ein Labor geworden. Regierungskrisen werden freilich unter diesen Bedingungen selbst in Deutschland, dem Land erfahrener und gewünschter Stabilität, nicht ausbleiben. Das ist absehbar und noch keine Gefährdung der Demokratie, solange andere Bedingungen intakt sind, wozu folgende Ebenen oder Dimensionen des Politischen gehören: 

– demokratische Parteien und Bewegungen, erfahrene Demokratie 

– demokratische Regierungskunst/Regierungskonsense 

-Verfassungsnormen/Wertekonsens/Verfassungsgerichte 

-staatspolitische Verantwortung/begriffene Demokratie 

Der letzte Punkt ist erklärungsbedürftig. Er hat mit historischen Erfahrungen zu tun, aus denen man gelernt hat, dass verantwortungsvolle Politik in Parteipolitik nicht aufgeht. So ein Beispiel hat sich 2017 ereignet, als das Jamaika-Experiment (Schwarz-grün-gelb) scheiterte, obwohl es laut Umfragen eine Mehrheit der Bevölkerung begrüßt hätte. In dieser Situation bestellte Bundespräsident Steinmeier, selber schon gescheiterter Kanzlerkandidat, den gescheiterten Kanzlerkandidaten und 100% Vorsitzenden der SPD Martin Schulz zu einem Gespräch ein und überzeugte (oder überredete?) ihn zur ungeliebten großen Koalition mit der CDU unter Merkel. Die staatstragende SPD nahm dies gegen verständliche Widerstände aus den eigenen Reihen in Kauf, obwohl sie wusste, dass sie mit jedem Erfolg oder Misserfolg der Regierung Merkel weiter an Zustimmung verlieren würde. So ist es gekommen, war deshalb die große Koalition ein Fehler? 

Die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt am 6. Juni ist zum letzten Test vor der Bundestagswahl ausgerufen worden. Verschiedene Umfragen sahen ein knappes Rennen zwischen CDU und AfD voraus. Zugleich sollte es die letzte Hürde für Laschet als Kanzlerkandidat sein und seine „Brandmauer gegen Rechts“. Hätte Haseloff verloren, hätte wohl auch Laschet endgültig verloren. Die Sorge darüber, dass die AfD tatsächlich stärkste Partei werden könnte, bescherte Reiner Haseloff jedoch einen fulminanten Sieg (37% mit vielen Zuzügern aus der Gruppe der Nicht-Wähler), der allerdings nichts mit der Bundespartei und Laschet zu tun hatte, sondern allein seiner Mischung von Milde und Standvermögen, populär und nicht populistisch, zugerechnet werden muss, so wie zuvor Woidke in Brandenburg, Kretschmer in Sachsen, Ramelow in Thüringen, aber auch Dreyer in Rheinland-Pfalz und Kretschmann in Baden-Württemberg, die es verstanden haben, auf die Wähler einzugehen. 

Sie alle vertreten als Integratoren eine glaubwürdige und erfolgreiche Politik für ihr Land, das sie auffällig in den Vordergrund stellen. Sie sind damit auch nahe bei den Leuten. Die hauptsächliche Identifikationslinie verläuft in Deutschland über die Regionen bzw. über die Länder und ihre Ministerpräsidenten, die auch im Bund sichtbar mitregieren: In den letzten 11 Landtagswahlen ist kein Ministerpräsident abgewählt worden! Nach den Wahlen mit einer Beteiligung von 61,6% gibt es jetzt nur noch zwei Volksparteien in Sachsen-Anhalt. Die mehr als 20% für die AfD sind noch immer erschreckend. ‚Die Linke‘, die als einstige ostdeutsche Volkspartei PDS als „Kümmerer“ galt und vor allem bei den jungen, mehrheitlich männlichen Leuten von der AfD als Themenpartei, die sich kümmert, abgelöst worden ist, hat am meisten verloren (mehr als 5%, in Brandenburg waren es 10%). Das ist niederschmetternd. 

Für die SPD ist das Wahlresultat unter 10% nicht nur eine Niederlage, sondern geradezu eine Katastrophe. Die demokratische pragmatische Linke hat doppelt verloren, sie sollte sich dringend eine neue gemeinsame Strategie überlegen. Die Grünen wiederum legen zu, aber lange nicht so viel, wie sie erwartet hatten; sie liegen mit der FDP etwa gleichauf knapp über 5%. Für die Liberalen, die nach zehn Jahren wieder in den Magdeburger Landtag einziehen können, ist das ein Erfolg, für die Grünen eine Enttäuschung, aber keine Niederlage. 

Nach den ARD-Analysen wählen diejenigen, die sich selber als sozial schwach oder unsicher einschätzen eher AfD als links. Die AfD ist die Arbeiterpartei, und es ist leider ein falsches Vorurteil, dass die SPD noch immer mit sozialer Gerechtigkeit identifiziert, wird trotz Kurzarbeitergeld und Mindestlohn. Sie kommt nicht an, obwohl sie mit Scholz und dem Wahlprogramm als Erste auf dem Platz war. Für den Marathon-Mann ist „“immer noch alles drin“ (10.6.). Scholz wird zunehmend angriffiger gegenüber der CDU, die er in die Opposition schicken möchte, damit sie sich endlich „vom Zugriff der Lobbyisten befreit“; selbst den Standort Deutschland sieht er unter ihrer Führung als gefährdet. 

Für die CDU ist die letzte Wahl vor der Bundestagswahl ein großer Erfolg, sie hat nun mehrere Regierungsoptionen und kann die unbequemen Grünen gegen die FDP austauschen. Wir wissen, dass dies auch die Lieblingsoption von Laschet für den Bund ist. Das Wahlprogramm der CDU/CSU steht am Wahlabend des 6. Juni jedoch noch immer aus. Es soll laut Ziemiak „sehr konkret“ werden und gemeinsam von Laschet und Söder vorgestellt werden. Dann erst beginnt für die Regierungspartei die heiße Phase des Bundestagswahlkampfs. Wie sieht ihre Fortschrittserzählung nach den herben Rückschlägen in diesem Jahr aus? Welche Hoffnungen kann sie machen? Die Union weiß jetzt wieder nach den Wahlen von Sachsen-Anhalt, dass sie nur gemeinsam und geschlossen erfolgreich sein kann – mit Laschet und Söder. Die Grünen hat sie im Rennen um die Kanzlerschaft noch nicht geschlagen. Diese gehen mit ihrem Wahlprogrammparteitag am 11./12./13. Juni noch einmal in die Offensive und bestärken ihren Gestaltungsanspruch. 3280 Änderungsanträge mussten bearbeitet werden. 

Endlich wird am 21. Juni, kurz vor den Sommerferien, das gemeinsame Wahlprogramm von CDU/CSU präsentiert. Es trägt den Titel „Für Stabilität und Erneuerung“ ,139 Seiten, an denen bis zuletzt gefeilt wurde. Es ist schwarz mit einem grünen Anstrich. Die zentrale Botschaft lautet: „Keine Steuererhöhungen“. Laschet baut auf Merkel auf und gibt ein Modernisierungsversprechen. Nicht überraschend geht es im ersten Kapitel um die Klimapolitik, heißt: CO2-Emissionshandel, Innovationen und Technologien. Das wegweisende Verfassungsgerichtsurteil vom 29. April das junge Leute aus der Umweltbewegung (BUND, Greenpeace, Fridays for future) noch vor den Wahlen angestrengt hatten (siehe den Blog ‚Die Rechte künftiger Generationen‘), verpflichtet alle Parteien, die regieren wollen. Die ehrgeizigen deutschen und europäischen Ziele sind vorgegeben und mit einem Zeitindex versehen. 

Die Wege und Instrumente dahin sind freilich umstritten. Nun wird von den Parteien, die sich plötzlich alle als verlässliche Klimaparteien gerieren, vor allem die unterschiedliche Herangehensweise betont. Und natürlich geht es dabei auch um den Standort Deutschland! Die sozialökologische Marktwirtschaft, wie sie die Grünen fordern, soll ihn für die Märkte der Zukunft verbessern. Ein Pakt mit der Industrie ist dafür ebenso notwendig wie früher die Bündnisse für Arbeit. Die Sicherheiten und Unsicherheiten in diesem Wandel beschäftigen viele Menschen. Der soziale Ausgleich bleibt ein Problem. Klimagerechter Wohlstand heißt das allgemeine und wohl auch verallgemeinerbare Ziel. 

Prognostizierte Wohlstandsverluste werden zu neuen Konflikten führen. Wirtschaftsverbände und die wirtschaftsnahe Union fürchten zudem Verluste der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Die Union als Volkspartei will mit Erleichterungen für Autofahrer, Pendler, Ältere sowie kleine und mittelständische Unternehmen, die das Rückgrat der deutschen Wirtschaft bilden, punkten nach dem Motto „Wahlen werden in der Mitte gewonnen“. Steuererleichterungen gibt es für Familien und Unternehmen. Der Zugang zur Verwaltung soll aufgrund des Digitalisierungsschubes vereinfacht werden, und für jedes neue Gesetz müssen fortan zwei alte entfallen. Damit soll nun endlich mit dem Bürokratieabbau ernst gemacht werden, nachdem man jahrzehntelang davon geredet hat. Sogar von einer „staatlichen Entfesselungspolitik“- das überraschendste Wort! – ist die Rede, womit auch beschleunigte Genehmigungsverfahren gemeint sind. Außerdem wird der Traum vom Eigenheim ausdrücklich bestärkt – Laschets ‚Aufstiegsgesellschaft‘. Rente mit 67 und Schuldenbremse sollen bleiben, ohne dass die schwierigen Fragen der Finanzierung geklärt sind. Bei der inneren Sicherheit spricht die Union erwartbar eine besonders scharfe Sprache, in diesem Kapitel läuft die Ordnungspartei detailreich zur Höchstform auf und dürfte die „schweigende Mitte“ (Tobias Hans) erreichen. 

Seit dem Juni wird Laschet als Kanzlerkandidat neu aufgebaut und von „Bild“ professionell so ins Bild gesetzt, dass er als künftiger Kanzler die Fragen beantwortet. Vieles deutet auf eine Regierungskoalition Schwarz-Grün hin, da beide Parteien manches offenlassen. Ausgemacht ist dies jedoch Ende Juni noch nicht. Dem Wahlprogramm der CDU/CSU fehlt das Zeitkritische und Innovative. Nicht nur der ‚ Grünen Jugend‘, die den Aufbruch der grünen Partei beseelt hat, ist dies insgesamt zu wenig Aufbruch, sie wird sich gegen ein solches Bündnis aussprechen. Nötige jugendliche Wechselstimmung konkurriert in der Bevölkerung mit dem verständlichen Wunsch nach alt-neuer Normalität. 

Die Prätention auf die Kanzlerschaft und damit die Führung des Landes verwandelt zudem den bürgernahen föderalistischen und politisch bunten Staat sofort in eine Projektion der Größe als klimaneutrale Industrienation, die überall auf den ersten Plätzen – bei den Werften, den Autos und beim Stahl (Laschet) – sein muss oder weltpolitisch eine zentrale Rolle (Nato) spielen soll. Für letzteres muss Deutschland (!) , das wird nun das wichtigste vereinheitlichende Wort der Hegemonie (! ), erstmal seine Bundeswehr reformieren, wofür die CDU/CSU 16 Jahre lang die politische Verantwortung innehatte. Selbst das 2%-Ziel gegenüber der Nato wurde nicht eingehalten: die Musterschüler haben ihre Hausaufgaben nicht gemacht und das schon zur Obama-Zeit. Die großen strategischen Worte „des Westens“, die nun wieder aus geopolitischen Herausforderungen heraus mit China (Seidenstraße – systemischer Rivale oder Bedrohung?) und Russland (Nord Stream 2) unter deutlicher Führung der USA abgeleitet werden, wie werden sie politisch eingelöst werden? Neue Entspannungspolitik oder neue Konfrontation? Darauf muss nun der künftige Kanzler/In eine deutliche Antwort geben und nicht mehr der Ministerpräsident eines Bundeslandes. 

Und wer führt das Kohl/Merkelsche Erbe in der Europapolitik weiter? Merkel, die Eurobonds als rote Linie bezeichnet hatte, setzte im Sommer 2020 in der historischen Ausnahmesituation der Pandemie, die niemand verschuldet hatte, eine außergewöhnliche europäische Solidarität der gemeinsamen Schuldenaufnahme durch. Das enge Band zwischen Deutschland und Frankreich war und ist Motor dieser Europapolitik. Laschet ist Frankreich-Beauftragter der Bundesregierung, er bewundert den französischen Staatspräsidenten Macron, dessen Machtfülle freilich grösser ist als die eines deutschen Kanzlers. Das Projekt Währungsunion ist inhärent instabil, eine politische Union, die es stützen müsste, gibt es nicht. „Scheitert der Euro, scheitert Europa“ (Merkel). Soll es deshalb eine europäische Wirtschaftsregierung und einen gemeinsamen Finanzminister geben? Wie steht es mit der Souveränitätsteilung, der Subsidiarität und der Demokratie? Wie weit geht die Union mit der Unionisierung Europas? 

So oder so:
– die künftige Regierungskoalition steht aktuell vor mindestens drei Riesenaufgaben, die sie gleichzeitig ins Auge fassen muss: 
– die innere Befriedung und Versöhnung nach der Corona-Krise, für welche die Gesellschaft 
einen hohen Preis gezahlt hat. 
– Klimaneutralität: Verschärfung der Klimaziele bis 2030 und danach. 
– das solidarische und souveräne Europa. 

Dafür genügt ein Integrator nicht, auch nicht eine fortschrittliche Regierung allein. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Gesellschaft auch als aktive (Zivil-) Gesellschaft nach der Corona-Krise müde geworden ist. Wunder sind also keine zu erwarten, obwohl bereits von Wirtschaftswundern die Rede ist. Das alte Spiel beginnt wieder von vorne. Der Aktivismus der (Parteien-) Politik muss gleichzeitig gebündelter und gezielter werden und darf die zivilen Kräfte der Bürgergesellschaft nicht überfordern oder gar drangsalieren. Der Staat, große öffentliche Investitionen und die Verschuldung spielen faktisch für alle Parteien in und nach der Corona-Krise gleichfalls eine große Rolle, aber welche genau und mit welchen Perspektiven? Der redliche (ordoliberale) politische Diskurs in diesen Fragen, die finanzintensiv sind, und der richtige (nicht allzu präzeptorale) Ton und Umgang im breiten Miteinander müssen erst noch gefunden werden. 

Besseres Regieren bedeutet demokratisches Regieren, wobei nunmehr nicht nur mit der Zeit als knapper Ressource, sondern auch mit der Zeit als Frist (von der Wissenschaft und dem Recht her bestimmt) zurechtzukommen ist, was heikel ist. Das gilt vor allem für die Klimapolitik, die wegen der „unüberwindbaren Kipppunkte“ historisch im Vordergrund steht. Für die Riesenaufgaben, die nicht von heute auf morgen erledigt werden können, aber in diesem buchstäblich entscheidenden Jahrzehnt, den 20er Jahren des 21. Jahrhunderts, ohne Aufschiebung in die ungewisse Zukunft angegangen werden müssen, braucht es indessen weiterhin den aufgeklärten und beharrlichen Common sense von Vielen an vielen Orten, der sich nicht bornieren darf, aber auch nicht übersprungen werden sollte. 

Foto von Olaf Kosinsky – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=75230465