Der Mann mit der Kettensäge

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Der zweite Mann des Jahres 2024 neben und weit nach Trump ist ebenfalls ein ‚Böser‘, der sogar mit laufender Kettensäge auftritt, der argentinische Präsident Xavier Milei seit dem 10. Dezember 2023.

Der Ökonom, 1970 geboren, Enkel italienischer Einwanderer, hat sogar einen akademischen Hintergrund. Ein Arbeiter ist er nicht, schon gar nicht ein Waldarbeiter. Er räumt auf mit 20 Jahren Peronismus, und das will er mit einer gründlichen Disruption tun, die den Staat zerlegt. Populär ist dieser Populismus nicht, seine Partei „La libertad Avanza“ stellt eine Minderheit der Abgeordneten und Senatoren im Kongress.

Das hat so sehr imponiert, dass sogar deutsche Liberale, die seit Jahrzehnten von schlankem Staat und Bürokratieabbau bloß reden (obwohl es vermessen immer mehr wird an Stellen im öffentlichen Bereich, an regulierender Eingriffstiefe und unübersichtlicher Verrechtlichung) inzwischen eine „Prise Milei“ empfehlen (Lindner). Freilich ist dies ein Milei oder Musk, die einander kennen, ohne deren persönliche Radikalität und Wagemut, die wiederum einer neuen internationalen Rechten Schwung geben. Auf die Schwungräder und ihre einzelnen Elemente kommen wir zurück.

Das liberale (Wirtschafts-) Programm hieß einmal in den 70er und 80er Jahren „Weniger Staat – mehr Freiheit“, daraus ist faktisch ‚weniger Freiheit und Selbstverantwortung und mehr Staat‘ geworden. Steuersenkungspartei ist man freilich geblieben (mehr Netto vom Brutto), Klientelpartei für die Selbstständigen und Leistungswilligen ebenso und an der verfassungsmäßigen Schuldenbremse hält man in Deutschland bis heute eisern fest. Populisten im negativen Sinne sind jeweils nur die anderen, die weit mehr Stimmen erreichen und europaweit unaufhörlich wachsen und dabei sogar in Regierungen kommen.

Die Diskussion, die der Mann mit der Kettensäge angestoßen hat, geht freilich über eine Partei und den Rechtspopulismus hinaus, sie betrifft den Liberalismus generell und international. Und ist darüber hinaus wirtschafts- und staatstheoretisch aufschlussreich. Der wirksame Hintergrund ist die politische Philosophie. Dort kennt man seit je verschiedene Facetten des Liberalismus und seiner Kritik.

Facetten des Liberalismus

Auch der Liberalismus, bei dem (die freilich mehrdeutige) Freiheit im Zentrum steht (und nicht Gleichheit, Gerechtigkeit oder Tradition), hat ein Menschenbild (wie optimistisch immer), das sanktionsfähige Regeln im gesellschaftlichen Miteinander (Legalität) vorsieht und mindestens einen starken (das heißt: durchsetzungsfähigen) „minimal state“ Hobbesscher oder Lockescher Prägung.

Letzteres bleibt indes auch nur ein unterbestimmtes Schlagwort, abgesehen davon, dass es unterschiedliche Minimalstaatstheorien gibt ( Nozick 1974, Rothbard 1962, 1973, 1982, Sorman 1985 u.a.). Der Mann mit der Kettensäge befeuert diese Diskussion aufs Neue angesichts heutiger Herausforderungen. Die Lösungskonzepte sind freilich nicht einfach von Argentinien nach Europa oder von Land zu Land zu übertragen; die Theorien, die dahinterstehen, dagegen sind allgemeinerer Natur und in ihrer ansteckenden Dynamik nicht zu unterschätzen, zumal sie in ein linkes Theorievakuum treffen.

Ausgangspunkt sind sicherlich die ökonomischen Theorien August von Hayeks (1899-1992), dessen akademische Lehrstationen Wien, Chicago und Freiburg im Breisgau waren, wo er unübersehbar seine Spuren hinterlassen hat. Er hat auch großen politischen Einfluss genommen, etwa auf die neoliberale Revolution von Margaret Thatcher in Großbritannien Ende der 70er Jahre und die Libertarians in den USA.

Dabei geht es um den Gegensatz von Marktwirtschaft ohne Adjektiv gegen den keynesianisch geprägten Wohlfahrtsstaat. ‚Sozial‘ war für Hayek, den Sozialphilosophen, ein „Wieselwort“, mit dem alle möglichen Ansprüche an den Staat begründet werden konnten, um ihn auszusaugen und die Wirtschaft zu lähmen.

Sein Libertarianismus kritisiert den Kollektivismus in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik.
Methodisch stand das Informations- bzw. das Wissensproblem im Zentrum und inhaltlich ein individueller Freiheitsbegriff als Abwesenheit von Zwang (siehe dazu die Werke ‚Der Weg zur Knechtschaft‘ 1944, ‚Verfassung der Freiheit‘ 1960). Man kann von einer Nomokratie sprechen. Freiheit und Marktwirtschaft sind die zentralen Bezugspunkte seiner politischen Philosophie, nicht so sehr die liberale Demokratie, um deren kontroverse Verteidigung es heute geht.

Innerhalb des Liberalismus stellt sich Hayek auf die individualistische amerikanische Seite gegen die deutsche Seite der ’sozialen Marktwirtschaft‘ (Rüstow, Röpke, Müller-Armack). Ohne hier auf die Hayekianer und die unterschiedlichen ökonomischen Schulen im Einzelnen einzugehen, springen wir gleich zu Federico Sturzenegger, dem Ökonomen, der für den neuen Propheten Milei den Staat zerlegt (NZZ, 18.12.24, S.4). Milei hegt als libertärer Ökonom „unendliche Verachtung für den Staat „.

Es ist wenig bekannt, „wie langfristig und akribisch die Deregulierung in Buenos Aires vorbereitet wurde und wie radikal und diszipliniert sie jetzt umgesetzt wird. Wie eine Maschine produziert Sturzeneggers Team täglich neue Gesetzesänderungen, die mit der Veröffentlichung im Gesetzesblatt in Kraft treten“ (a.a.O.).

Die Staatsausgaben sind um ein Viertel gekürzt worden. Das Duo Sturzenegger/ Milei erreichte die wichtigsten Kürzungen „durch den Stopp aller öffentlichen Bauten, das Einfrieren der Transfers an die Provinzen und die Streichung von Subventionen für Strom, Erdgas und Transport. Auch die verzögerte Anpassung der Renten an die Inflation war wichtig“(a.a.O.).

Nun wird eine zweite Phase der Staatsreformen angekündigt: 40 000 Beamte sollen Prüfungen ablegen, was vor kurzem noch undenkbar war, doch die Gewerkschaften halten sich zurück, da sich die öffentliche Meinung gegen sie wenden könnte (a.a.O.). Vom Staat hätten sich Partikularinteressen von Unternehmern, Gewerkschaften und Politikern Privilegien verschafft, um auf diese Weise Ressourcen des Staates abzuschöpfen.

Das ist die klassische These vom Staat als Beute der Parteien und Interessenorganisationen, anfangs lediglich vor allem gegen die Gewerkschaften gerichtet, inzwischen gegen die Organisationsgesellschaft insgesamt, die demokratischen Parteien an der Regierung und ihr expansives Politikverständnis ausgeweitet. Die Staatsfeinde von heute, die ein Sammelsurium unterschiedlicher Bewegungen auf sich ziehen, sind aktuell andere als früher. Man muss sie und ihre Gründe differenziert wahrnehmen, um sich politisch mit ihnen auseinandersetzen zu können.

Für Sturzenegger, der inzwischen Minister ist, und Milei ist Deregulierung eine Mission geworden, wobei für Milei außerdem die Hassrede als Stilmittel gegen Eliten und andere Politiker kennzeichnend ist. Das verbindet ihn mit der provokativen Radikalität von Trump und Musk, die heute twittermäßig schnell und ultrakurz kundgegeben werden kann – das unüberbietbare Sprachrohr mächtiger Kleingeister.

Musk, der Technomane, denkt in Kategorien technischer Disruption und Startups. Der reichste Mann der Welt unterstützt inzwischen auch, mit wenig politischer Urteilskraft („Nur die AfD wird Deutschland retten“), rechtspopulistische Bewegungen in Europa wie zuvor Steve Bannon, der politische Krieger, der Trump für die erste Amtszeit entscheidend half, auf ideologische Weise.

Es ist kein Wunder, dass besonders aggressiv für die Meinungsfreiheit gekämpft wird. Sie wird selbst zum konfrontativen Argument einer neuen rechten Bewegung, die heterogen und disparat ist (Hayekianer, Straussianer, Anarcholibertäre, konservative Kommunitaristen, religiöse Rechte u.a.), aber durch charismatische Anführer, die sie zusammenhalten, schnell national, in einem „Land im Niedergang“, politisch überwältigend werden kann. Die Politik ist ein unreines Terrain.

Umso mehr kommt es auf Unterscheidungen und Relationen an. Politisches Denken ist nicht relativ, aber relational. Bei aller Polemik, die der Politik eigen ist, dürfen die Relationen in den Urteilen nicht verloren gehen, zum Beispiel „Nur die AfD kann Deutschland retten“ (aber er kennt doch Deutschland!) oder „Die USA ist die kriegerischste Nation der Weltgeschichte (aber er kennt doch die deutsche und europäische Geschichte!). Niemand ist davor gefeit.

Ein beispielloser Medienkrieg der Neuen Zeit um Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Lüge und Hybris ist international in vollem Gange. Es ist ein Machtkampf zugleich um die Parteien, die Presse und die Justiz. Die Grenzen zwischen realem und hybridem Krieg verwischen sich.

Eine neue internationale Rechte

Milei, der einstige Einzelgänger und Außenseiter, hat heute viele Freunde. Donald Trump hat er bereits vor seiner Wahl bei einer Veranstaltung der Conservative Political Action Conference (CPAC) kennengelernt. Dieses Jahr war er schon viermal dort eingeladen (FAZ, 10. Dez., S.20). Die strikte Ablehnung des Sozialismus ist ihnen gemeinsam, die libertäre Theorie nicht. Protektionismus ist dort gerade angesagt.

Präsident elect Trump hat Elon Musk, seinen neuen Superstar, gewohnt vollmundig für ein modernes „Manhatten Project“ beauftragt. Damit meint er drastische Kürzungen (auch von Stellen und Behörden) für einen effizienten Staat. Dem drögen verwaltungswissenschaftlichen Anliegen des Bürokratieabbaus, von dem in Deutschland unaufhörlich die Rede ist, wollen die beiden erfolgreichen Unternehmer Musk und Ramaswamy neuen Drive geben und Taten folgen lassen. 

Zwei Billionen Dollar, das sind ein Drittel der gesamten Staatsausgaben, sollen dafür eingespart und die Regierungsarbeit effizienter gestaltet werden. Am 4. Juli 2026, genau zum 250. Geburtstag der USA, wollen die beiden Trumpberater ihre Arbeit beenden (siehe SZ, 7./8.Dez., S.2). Fruchtbare Kontakte mit Milei und Sturzenegger gibt es bereits, Mileis Pläne finden inzwischen weltweit Beachtung.

Kürzlich hat er in Rom, wo er mit Meloni und den ‚Fratelli‘ zusammenkam, die ihm im Schnellverfahren die italienische Staatsbürgerschaft verliehen (andere müssen länger warten!), einen Zehn-Punkte-Plan vorgestellt, der konservative und rechte Bewegungen international vereinigen soll. Er umfasst folgende Kernelemente (siehe auf Deutsch Junge Freiheit, 16.12.):

  1. Verteidigung der individuellen Freiheit
  2. Schutz des Privateigentums als Säule der Gesellschaft
  3. Freie Marktwirtschaft ohne staatliche Eingriffe
  4. Begrenzte Regierung, die sich auf die Kernaufgaben des Staates konzentriert, wozu sicherlich die innere und äußere Sicherheit gehören (seit Jean Bodin begrifflich-analytisch mit dem neuzeitlichen Staatsbegriff der souveränen Gewalt verbunden, Sechs Bücher über die Republik 1576, Ergänzung H.K.)
  5. Rechtssicherheit/ Rule of Law
  6. Trennung von Staat und Wirtschaft
  7. Ablehnung des Sozialismus
  8. Förderung traditioneller Werte
  9. Nationale Souveränität
  10. Kultureller Kampf gegen den Kollektivismus

Freiheit durch Einbindung, Subsidiarität und Staatsferne

Das normative Vakuum, das heute in Europa und USA der ‚klassische‘ Liberalismus erzeugt, wird mit traditionellen Werten gefüllt. Der autoritäre Korporatismus plus Militär und Kirche, der früher für konservative Programme in Lateinamerika typisch war, fehlt bei Milei ebenso wie Spielarten des europäischen Korporatismus als Verbändedemokratie. Der Staat spielt keine Rolle mehr, weder autoritär noch kooperativ.

Interpretiert man Mileis Programm wohlwollend und nimmt man seine auch in Rom unterstrichene Betonung traditioneller Werte ernst, primär sind es Familienwerte, so könnte man von einem rechten kulturellen Kommunitarismus sprechen, in welchem der Staat keine wesentliche Rolle mehr spielt.

Der Staat soll nicht Bindungen regulieren, sondern lediglich die Freiheit garantieren, sie bewahren zu können. Allerdings zeigt sich hier eine Zwiespältigkeit, denn es offenbart sich eine enorme Spannung zwischen libertärer Wirtschaftslogik und konservativer Wertebindung, die schon Marx analysiert hatte.

Denn der Markt zersetzt durch Ökonomisierung und kulturelle Individualisierung gerade die Bindungen, welche für Neokonservative aller Spielarten grundlegend sind. Da hilft auch das funktionale Argument, dass wir ohne Traditionen nicht handlungsfähig sind, nicht weiter. Es überbrückt lediglich in der Theorie, aber nicht in der Lebenswelt.

Der Wohlfahrtsstaat und seine expansive Politik macht dagegen Bindungen funktional obsolet (durch Verrechtlichung) und schwächt gleichzeitig Verpflichtungen. Er muss sie organisieren (die Sozialdemokraten „als Spezialisten des Zusammenhalts“) und/oder moralisch an sie appellieren, indem er auf Zusammenhalt, Gemeinsinn und Bürgertugenden setzt. Dies ist mehr eine Rhetorik der Haltung als gesellschaftliche Realität.

Positiv gesprochen handelt es sich um ein konstruktives Zusammenspiel zwischen Staat und Zivilgesellschaft, kritisch kann man sagen: es sei Werte-Nostalgie. ‚Die Linke‘, was immer heute darunter verstanden wird, ist neuerdings mit ihren LBTQI- Ideen und ihrem ‚ Wokeismus‘, ebenfalls nicht in der Lage, eine glaubwürdige soziale Norm zu etablieren.

Ebenso trifft es zu, dass die Steigerung des staatlichen Dirigismus (auch unter grünen Vorzeichen) die Marktwirtschaft zunehmend aushöhlt. Insgesamt bleibt dann nur wenig Spielraum für den ‚klassischen‘ Liberalismus, es sei denn als individuelle ‚Zwischenrufer‘ und parteiliche ‚Steigbügelhalter‘ für fragile Regierungskoalitionen als Zweckbündnisse.

Für die theoretische Diskussion muss man auch wieder an 1920er Jahre anknüpfen. Das war eine Zeit grundsätzlicher Reflexionen über die Grenzen des Liberalismus, welcher zumindest als politisches Ideal das 19. Jahrhundert mitbestimmt hatte. Die rechten und linken Ideen haben sich vielfältig vor dem Hintergrund der großen Krise des Liberalismus entwickelt. Nach dem Krieg gegen den Nationalsozialismus und dem Kalten Krieg gegen die Sowjetunion war er vor allem negativ als antitotalitärer Konsens bestimmt.

Leo Strauss zum Beispiel (1899-1973), der heute in den USA postliberal über einzelne Rezipienten wie Peter Thiel und deren Schüler wie den künftigen Vizepräsidenten Vance wieder politisch relevant wird, gehörte auch zu den Kritikern des Liberalismus. Er vertritt eine ganz eigene Art (esoterischer) politischer Philosophie, die auf die Exegese von klassischen Texten baut (Spinoza, Hobbes, Machiavelli, Naturrecht und Geschichte, Rousseau, Sokrates u.a.).

Schluss

Ob man heute auf diesem Weg oder anders wieder ein orientierendes Grundgerüst (einschließlich Wirtschafts- und Staatstheorie, stark und schlank!) finden kann, lassen wir hier offen.
Wie überhaupt sowohl der französische Republikanismus wie die deutsche Christdemokratie und die europäische Sozialdemokratie größere ideologische Komplexe sind als der klassische oder libertäre Liberalismus.


Sie gilt es, bei uns in den aktuellen Wahlkämpfen konkret zu analysieren und zu kritisieren.
Bei den Begriffsbesetzungen (Staatsbegriff), den Deutungsmustern (Niedergang?, Verfassungspositionen) und realen Machtpositionen sind Verschiebungen zu beobachten, genau zu benennen und kritisch zu hinterfragen.

Bildnachweis: IMAGO / SOPA Images