Im Oktober geht die Angst vor einem Flächenbrand im Nahen Osten um, die Angst vor einer Ausweitung des Krieges nach den furchtbaren Terrorangriffen der Hamas am 7. Oktober auf Israel. Ein Mehrfrontenkrieg droht dem kleinen wehrfähigen demokratischen Land, das inmitten eines eigenen aufwühlenden Demokratiekonflikts war, bei dem sogar die unentbehrlichen Kampfpiloten in den Ausstand traten.
Israel und der Nahe Osten
Die Schutzmacht USA schicken zwei Flugzeugträger und 100 Flugzeuge in die Region, um den Iran und die Hisbollah abzuschrecken. Die Hisbollah, die den Südlibanon als Staat im Staate kontrolliert, verfügt über so viele Raketen, dass auch das einzigartige Abwehrsystem Iron Dome überlastet werden kann.
Die Schiiten-Miliz Hisbollah und Hamas, mit dem Mullah-Regime Iran im Hintergrund, verbindet das ausdrückliche Ziel, Israel als „Krebsgeschwür“ auslöschen zu wollen. Die Massaker am Samstag durch Hamas-Terroristen haben gezeigt, was das bedeutet in einem Land, das sich bisher auf seine Armee und seinen Geheimdienst sowie die schwer bewachten Grenzen verlassen konnte. Sie waren ein Schock für die Bevölkerung und die Welt, ein neues 9/11.
Der Islamische Staat (IS) hat dem Westen den Krieg erklärt, er hat militärisch mit amerikanischer Hilfe in Mossul und Raffa eine Niederlage erlitten. Die Hamas soll nun genauso militärisch zerstört werden. Sie hat Geiseln genommen und sich jahrelang auf den Krieg vorbereitet, unter anderem durch ein ausgedehntes Tunnelsystem bis zu 40 Meter Tiefe – eine Stadt unter Gaza-Stadt.
Den 7. Oktober würde sie immer wieder begehen. Eine Bodenoffensive soll dieser militärischen Infrastruktur, zusammen mit den Köpfen der Terror-Organisation ein Ende bereiten. Zweierlei steht schon fest: es wird keine Besatzung geben ebenso wie keine Hamas-Verwaltung mehr.
Die Zivilbevölkerung fordert man zum Verlassen des Gazastreifens auf, gleichzeitig wird sie von der Hamas daran gehindert, die sie als menschliche Schutzschilder benutzt. Das humanitäre Völkerrecht wird laut UN-Organisationen mit Füssen getreten. Hektische Diplomatie ist im Gange. Ägypten und Katar spielen dabei eine Schlüsselrolle.
Welche Militärschläge aus der Luft sind, noch angemessen? Die überlegene Luftwaffe ist einmal mehr Israels buchstäblich durchschlagende Kraft. Eine Feuerpause wird gefordert, was Israels Regierung aus militärischen Gründen als Kapitulation ablehnt.
Die EU streitet sich über humanitäre Feuerpausen oder eine Feuerpause im Singular, sprich Waffenstillstand. Das Problem ist nicht so sehr der „Okzidentalismus“, sondern die Uneinigkeit und faktische Schwäche Europas. Europa redet und redet, Russland liefert Waffen und China baut Infrastruktur. Das macht gegenwärtig den Unterschied in der Weltpolitik.
Derweil wird der UN-Sicherheitsrat – eine Friedensutopie im Niedergang- zur weltweiten Bühne der heftigen emotionalen Auseinandersetzung, in der die Rede des Generalsekretärs Guterres für Empörung sorgt und sich der israelische Botschafter Erdan den Judenstern anheftet, was auch innerisraelische Kritik hervorruft. Der Skandal ist indessen die UN-Resolution, in welcher der Terror der Hamas keine Erwähnung findet.
Lediglich 14 Mitgliedstaaten stimmten gegen die Resolution, die eine Feuerpause von Israel fordert, um den Menschen in Gaza zu helfen; Deutschland enthält sich der Stimme. Israel spricht von einer „Schande“, die „Hamas freut sich“. Die zahlreichen Uno-Resolutionen gegen Israel sorgen inzwischen zählbar für ein krasses Ungleichgewicht im Verhältnis zu den „Schurkenstaaten“ der Welt. Iran übernimmt im November sogar den Vorsitz des Sozialforums im Menschenrechtsrat der Uno in Genf. Es hat gegenüber den USA einen diplomatischen Sieg errungen.
„Verhältnismäßigkeit“ selbst in Extremsituationen wird von außen schnell gefordert, auf Verbote und berechtigte Konventionen wird hingewiesen, wie schon bei den zahlreichen Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung sowie dem Einsatz von Streumunition und der Reichweite von Marschflugkörpern im Ukraine-Krieg. Auch der „Krieg kennt Regeln“ (Guterres), das stimmt. Tatsache ist aber auch, dass extreme Situationen besondere Reaktionen verlangen, wenn es um Existenz- und Überlebenskämpfe geht.
Das ist beim gegenwärtigen Ukraine-Krieg und dem Palästina-Konflikt schon seit langem der Fall. Von ‚Genozid‘ und ‚Kriegsverbrechen‘ wird allenthalben gesprochen. „Es ist kein Konflikt, es ist ein Genozid“, liest man auf Transparenten. Die Durchsetzungsmacht des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag (ICC), der Ermittlungen aufnimmt, ist demgegenüber beschränkt.
Die Situation im kleinen Gaza-Streifen wird vor der erwarteten Bodenoffensive im dichtbesiedelten Gebiet immer dramatischer für die Zivilbevölkerung. Es ist eine Hölle auf Erden. Präsident Biden fordert ebenso wie UN-Generalsekretär Guterres anfangs November eine humanitäre Waffenruhe. Der Zorn der Muslime in den Nachbarländern wird angesichts der Bilder aus Gaza immer grösser. 100 Tausende gehen in Teheran, Ankara und Beirut auf die Straßen.
Droht ein Flächenbrand im Nahen Osten, ein Aufstand auch gegen die eigenen Regierungen ? Die Amerikaner erinnern sich an den Tag, als in Teheran 1979 ihr Botschaftspersonal von fanatisierten Studenten 444 Tage lang als Geiseln genommen wurde. Und genauso an die zerstörten Kampfhelikopter in der Wüste 1980 bei der Befreiungsaktion Eagle Claw, die Jimmy Carters Menschenrechtspolitik den Garaus machte und den Weg für Reagans Politik ebnete.
Die Hamas drängt heute die Hisbollah, vom Libanon aus, eine zweite Front zu eröffnen. Mit Spannung erwartet man deshalb am 3. November die Rede ihres geistlich-politischen Führers Nasrallah, der die Massaker der Hamas verherrlicht und die USA als „Teufel“ bezeichnet, aber keine Kriegserklärung ausspricht und vieles offenlässt: „Alle Szenarien sind möglich“.
Die USA warnt die Hisbollah und den Iran vor Aggressionen. Anfangs November wird ein atomwaffenfähiges U-Boot der Ohio-Klasse ins Rote Meer geschickt. Normalerweise wird der Standort solcher hypermoderner Kampfkolosse, die sowohl Interkontinentalraketen wie Marschflugkörper abschießen können, nicht bekanntgegeben. Die amerikanische Abschreckung funktioniert.
Für Israel und den Westen ist die USA, dessen Außenminister Blinken sich nicht zufällig auch am 3. November in Israel aufhält, der Friedensgarant, wie schon 1973 im Jom-Kippur-Krieg als eine ähnlich bedrohliche Situation für Israel bestand. Selbst der damalige Verteidigungsminister Moshe Dayan, gewiss ein erfahrener Militär, war in Panik.
Blinken, der in Pendel-Diplomatie zwischen den arabischen Parteien ständig unterwegs ist, sieht die Zwei-Staaten-Lösung noch immer als Weg für einen dauerhaften Frieden. Ein formaler Frieden ist indessen nicht schon „dauerhaft“ und schon gar nicht „ewig“ (wie Kant 1795 ironisch titelte). Auch hier muss man sich als politischer Realist vor Illusionen hüten.
Die unverzichtbare Nation
Präsident Biden spricht gegenüber Israel und der Ukraine von der USA als „unverzichtbarer Nation“, wobei er die gemeinsamen Werte betont. Ein solcher Wertebogen ermöglicht Gespräche und Unterstützung, er räumt aber deshalb noch lange nicht, die Schwierigkeiten der politischen Problemlösung aus dem Weg. Daraus können wiederum gravierende Differenzen und Unfrieden entstehen, etwa bei der politischen Neuordnung nach dem Irakkrieg geschehen oder, noch bevorstehend, nach dem Gazakrieg.
Die amerikanisch-atlantische Zivilreligion ist global und universal in ihrem Anspruch genauso wie der globale Krieg und die militärische Präsenz allerorten, die ihm entspricht.
„Amerika war und ist vor allem eine Idee – und zwar nach wie vor die wirkungsmächtigste politische und kulturelle Idee unserer Zeit“ (Brühwiler, NZZ, 3.11.23, S.9).
John Rawls ‚Theorie der Gerechtigkeit‘ (1971), der ebenfalls typisch amerikanisch von der Fairness trotz ‚Gewinnern‘ und ‚Verlierern‘ in der (sportlich aufgefassten) Konkurrenzgesellschaft (Marxisten würden von Klassengesellschaft sprechen) ausgeht, erwähnt die Zivilreligion mit keinem Wort.
Die Fairnesstheorie setzt auf den rationalen Konsens. Ein Vorteil der Zivilreligion ist dagegen die rhetorische Erzeugung von Emotionen in der Ansprache an die Nation, die an Bindungen appelliert, die alle bei größtmöglicher Verschiedenheit des demokratischen Individualismus verbinden. Diese politischen Emotionen, die ihre prägende Geschichte haben, sind nicht Vernunft allein.
„American Leadership is what holds the World together“(Biden) – das ist allerdings noch mehr als der alte Satz der amerikanischen Außenministerin Madeleine Albright, die aus Prag stammte, von der „indispensable nation“. Wie realistisch ist dieser Führungsanspruch?
Oder anders gefragt: Welche realistische Politik folgt daraus? Diese Frage muss sich vor allem die Führungsnation USA selber stellen, die sich derzeit im Wahlkampf befindet, der 2024 eine neue Ausgangslage schaffen wird. Bis vor kurzem gab es den Konsens in der amerikanischen Führungsschicht, dass die USA die liberale Weltordnung verteidigen. Dass dieser Konsens noch besteht, ist freilich mit einem Fragezeichen zu versehen. Mit Bangen sieht man vor allem von Europa aus in die USA. Zudem löst das Budget-Defizit Sorgen aus, ob die immensen Ausgaben für die Streitkräfte überhaupt noch zu stemmen sind.
Vielfrontenkrieg
Auch den USA droht im Nahost-Konflikt eine Überforderung der eigenen Logistik bei einem Mehrfrontenkrieg: im Gaza-Streifen, an der Grenze zum Libanon und zu Syrien und im Westjordanland. Die Drohnenangriffe auf US- Stützpunkte im Irak und Syrien von Verbündeten des Iran sind bedrohlich.
Als Bin Laden den 11. September 2001 verursachte, haben das lediglich 3 von 53 muslimischen Ländern gutgeheißen. Sie waren gespalten. Heute stehen alle muslimischen Länder hinter Palästina, unabhängig von islamistischem Terror oder nicht. „Die Hamas hat dem Westen eine Falle gestellt“ (de Villepin).
Der ehemalige französische Premierminister, gebürtige Marokkaner und Nahost-Experte de Villepin führt in einem bemerkenswerten Interview in France TV dazu aus, das der Westen und Europa dieses Ereignis begreifen müssen, sonst seien sie als nächste an der Reihe. Zuerst Europa mit allen Migranten, die instrumentalisiert werden.
Es gibt dann nur noch Gewalt gegen Gewalt, und die Extreme werden wachsen. Der Schlüsselsatz im langen Interview lautet: “ Die palästinensische Sache war eine säkulare und politische Sache. Mit der Hamas wird sie eine islamistische Sache. Diese Sache ist absolut und erlaubt keine Verhandlungen.“ Seit dem 7. Oktober sind mehr als 1000 antisemitische Straftaten in Frankreich gezählt worden.
Mit welch gravierenden Gegensätzen heute umzugehen ist, zeigt sich in diesem Land schon seit vielen Jahren mit großer Heftigkeit, welches die größte jüdische Gemeinde (600 000) und die meisten Muslime Europas (6 Millionen) beherbergt. Hier gibt es in großen Teilen der linken Bewegungen die Haltung des „“Islamo -Gauchisme“ in unterschiedlichen Fanatisierungsgraden.
Dabei handelt es sich um eine Fusion von traditionell sozialistischem Gedankengut mit dem Islamismus, der als eine Ideologie der „Opfer des westlichen Kolonialismus“ gedeutet wird. Ich kann mich noch an die Bilder von Sartre mit Ayatollah Chomeini, dem geistlich-politischen Führer der iranischen Revolution, 1978 in Paris erinnern. Besser mit Sartre irren, als mit Aron recht behalten, dachten damals viele Intellektuelle.
Inzwischen hat auch der türkische Präsident Erdogan die normalisierten Beziehungen zu Israel abgebrochen. Er bezeichnet die Hamas als eine „Befreiungsorganisation“ und prangert die „Kriegsverbrechen“ Israels an. Er profiliert damit die Türkei als Nato-Land neben dem Iran als führende Macht der arabischen Länder. Schon früher war die Hamas ein gern gesehener Gast bei Erdogans Partei der AKP. Die politische Weltfremdheit in Deutschland auch in Religionsfragen mit seiner großen Zahl von Einwanderern aus der Türkei verblüfft.
Verteidigungsfähig, nicht kriegsfähig
Die Frage, welche Sicherheitspolitik realistisch ist, müssen sich auch alle europäischen Länder stellen, zumal die politische Entwicklung in den USA, Russland und China unbekannt und offen ist . Vielfrontenkriege kann niemand gewinnen, auch die USA nicht. Europa muss sich darauf vorbereiten, dass die USA ihr Engagement zurückfahren wird, ob mit oder ohne Trump. Polen investiert schon jetzt massiv in die eigene Verteidigung, finanziell, militärisch und mental (trotz vertrautem Schulterschluss mit den USA).
Finnland bewacht seine lange Grenze zu Russland, einschließlich Zivilschutz für die Bevölkerung. Andere Staaten erledigen ihre Hausaufgaben nicht in gleicher Weise. Militärisch „verteidigungsfähig“ müssen sie werden, nicht „kriegsfähig“. Ersteres gehört zur wehrfähigen Zivilität. Wehrfähige Bürger sind keine Bellizisten, sondern Republikaner. Das wäre ein erster nationaler Schritt, die transnationale Abstimmung mit der gestärkten Nato ist der zweite.
Die ‚individualistischen Bürger‘ möchten möglichst ‚wenig Soldat‘ sein. Weitere Kriegsrhetorik ist deshalb überflüssig, und eine reine Berufsarmee zu vermeiden. Der Kontakt zu den Leuten, im Sinne von Volk (people), gehört vielmehr zum Militär in Demokratien, die je eigene Lösungen finden müssen. Allerdings darf man Aufrüstung auch nicht mit Ausrüstung verwechseln (Merkel).
EU-Europa indes, das perspektivisch, einschließlich der Ukraine, auf 36(!) Staaten wachsen will, ist nicht die Welt. Schon vor dem russischen Angriffskrieg, hatte sich die amerikanische Interessen- und Außenpolitik in den Pazifik verlagert. Der amerikanische Verteidigungsminister Rumsfeld sprach bei der „Koalition der Willigen“ sogar vom „alten“ pazifistischen, in den Illusionen des ‚ewigen Friedens‘ befangenen und vom neuen osteuropäischen Europa (Havel).
Der völkerrechtswidrige Irakkrieg mit seinen verheerenden Folgen war indes kein gerechter Krieg, und die Begründung des ehemaligen Generals und amerikanischen Außenministers Powell blieb eine bis heute unvergessene schlechte Szene im UN- Sicherheitsrat ebenso wie der moralische Eifer des britischen Premierminister Blair, der sich blamierte. Alle Veto-Mächte haben bis heute zum Niedergang und zur Dysfunktionalität des obersten Hüters der globalen Sicherheit beigetragen.
Nordkorea droht gegenwärtig, den amerikanischen Flugzeugträger in Südkorea zu versenken. Es hat Russland mehr Waffen geliefert, als man bisher wusste, und dafür Know-how in Raketentechnik erhalten. Der „gefährliche Moment“ rückt nun näher: „Nordkorea droht USA mit einem nuklearen Präventivschlag“ ( Kölner Stadt-Anzeiger, 23. 10.). Es gibt sie also wirklich die „Achse des Bösen“, von welcher der ungeliebte Bush junior sprach.
Ukraine-Krieg
Der Ukraine-Krieg wird derweil im Aufmerksamkeitsschatten des wieder aufgeflammten Nahost-Konflikts mit derselben Brutalität von Russland fortgeführt. Um die ostukrainische Stadt Adijiwka droht jetzt, wo russische Kräfte mit einer Wucht angreifen, wie seit Jahresbeginn nicht mehr, eine ähnliche Schlacht wie seit Monaten um Bachmut an der 1000 Kilometer langen Front. Das ist eine furchtbare infanteristische Front – eine weitere Hölle auf Erden -, welche an die Abnützungskämpfe im 1. Weltkrieg erinnert in Kombination mit dem heutigen ‚Star Wars‘, sprich: dem modernen Drohnenkrieg. Letztere greifen lautlos an.
Die Schlammperiode hat begonnen, und ein weiterer harter Winter steht bevor. Bröckelt die westliche Unterstützung, worauf Putin setzt, der verkündete, dass „Russland auf dem Schlachtfeld unbesiegbar“ ist? Kann die Ukraine den Krieg gewinnen? Oder droht ein Patt, das in Verhandlungen mündet? Die USA hat sich auch hier gemäß dem Israel-Modell zur Schutzmacht, statt einer Nato-Mitgliedschaft, erklärt, so jedenfalls Bidens Plan bei der Nato-Tagung in Vilnius.
Der ukrainische Oberbefehlshaber Saluschni räumt in einem Interview ( Economist, 3. November) ein, dass der tiefe Durchbruch durch die massiven russischen Verteidigungslinien nicht gelungen sei, und er äußert die Sorge, dass es zu einem Stellungskrieg kommen werde, der für die Ukraine bedrohlich sei angesichts der überlegenen Ressourcen der Russen.
Aus mehreren Gründen ist der Krieg festgefahren. Die russische Luftüberlegenheit und die fehlenden Technologien, den Minengürtel zu überwinden, sind schon oft, auch in unseren Blogs, genannt worden. Hinzukommt zunehmend auch der schwierige Aufbau eigener Truppen. Saluschnis Bilanz ist ehrlich, nüchtern und ernüchternd.
Einmal mehr heißt es, dass die Zeit nicht auf der Seite der Ukraine steht, die seit mehr als 20 Monaten in einem aufreibenden Verteidigungskampf steht. Sie hat viel militärische Unterstützung bekommen, um sich im Krieg zu behaupten, was niemand vorausgesagt hätte, aber zu wenig, um ihn zu gewinnen.
Politik und Militär sind zwei Welten, die auch den nötigen Glauben und den starken Willen mitbestimmen, ohne die nichts geht. In der Welt des globalen Krieges gehen Politik und Militär eine gewagte und stets problematische Fusion ein. Selenski widerspricht Saluschni: “ Es gibt keine Pattsituation“ (Kiew, 4. November).
Das Dreieck der Atommächte
Kriege und kein Ende, und Kriege überall, sogar die manifeste Gefahr des Atomkrieges, der wieder geübt wird – gleichzeitig in Russland, den USA und Europa. Atomwaffentests werden durchgeführt. Die Duma hat den Atomaffensperrvertrag eben gekündigt, den die USA nie ratifiziert haben, und China als „Entwicklungsland“ akzeptiert keine Obergrenzen.
Die politische Ohnmacht gegenüber diesem Atomdreieck steigt angesichts ohnehin schwer kontrollierbarer Entwicklungen. Nordkorea zündelt derweil mit einer Interkontinentalrakete, und selbst der zurückhaltende deutsche Verteidigungsminister Pistorius fordert einen Mentalitätswechsel: „Deutschland muss wieder kriegsfähig werden“. Die Worte werden immer grösser.
Wir würden den Krieg gerne als etwas Sekundäres und Abgeleitetes begreifen und zum Beispiel auf Ungerechtigkeit zurückführen. Verschwindet diese, so verschwindet auch der Krieg, so unsere naive Hoffnung. Stattdessen müssen wir wieder von der „Rückkehr des Bösen “ sprechen (Selenski tut es, Biden tut es, und im Nahostkonflikt tun es beide Seiten, sogar vom Teufel wird gesprochen). Und Barbaren werden „eliminiert“, nicht getötet. Es ist schwierig, angesichts dieser Barbarei und der Brutalisierung der Auseinandersetzungen noch ein moralisches Gleichgewicht zu finden und zu erhalten.
Biden mobilisiert die amerikanische Zivilreligion, die christlich-transkonfessionell und nicht antimuslimisch sowie universal-menschenrechtlich orientiert ist. Sie allein vermag die nötigen Allianzen gegen das radikal Böse zu schmieden, weswegen die UNO nach dem 2. Weltkrieg gegründet worden ist. Man lese nur noch einmal die Präambel zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948), wo von den „Akten der Barbarei“ und vom „Glauben an die grundlegenden Menschenrechten“ die Rede ist.
Diese Weltordnung scheint heute zerbrochen. Aus der Mehrfachkrise ist der globale Krieg, der alles buchstäblich in Mit-Leidenschaft zieht, geworden. Explodierende Verteidigungshaushalte und eine dominierende Sicherheitspolitik, die in alle Bereiche vordringt, machen dies spürbar. Kriege setzen gegenwärtig die Prioritäten und nicht die Friedensethik.
In der Welt des globalen Krieges liegen die menschheitlichen Ambitionen und die Aufmerksamkeit bei den Waffentechnologien im weitesten Sinne. So entsteht ein schwer durchschaubarer Komplex mit Forschung, Technik, Rüstung und Politik, der außer Kontrolle ist. Dennoch gibt es auch hier keine Zwangsläufigkeiten, bei allen berechtigten Befürchtungen des Exterminismus.
Alles hat seine Zeit. Zuerst muss man in Existenz- und Überlebenskämpfen reagieren können. Wir leben in Europa seit dem 24. Februar 2022 in einer solchen Zeit des Krieges sowie der offenen und schleichenden Re-Militarisierung. Das ist bei grundsätzlichen Überlegungen zu Klugheit, Moral und Recht zu berücksichtigen, die nicht naiv und unpolitisch werden dürfen.
Glaubwürdige Friedensethik
Die Friedensutopien sind gescheitert, was nicht heißt, dass Frieden kein politisches Ziel mehr ist, und die menschliche Friedenssehnsucht versiegt, im Gegenteil. Sie wächst wieder und immer wieder auffällig-unauffällig von unten und im Kleinen. Man darf sich nur nicht von Chauvinismus übertrumpfen lassen und resignieren. Überraschungen sind möglich, weil das Personal der Weltgeschichte nicht unsterblich ist.
Die Verführung zum Fatalismus ist in dieser Weltlage gleichwohl groß. Wenn Polen heute mit seinen Bürgern vier neue Panzerdivisionen aufstellt, so geht es darum, den Frieden zu sichern, und nicht Krieg zu führen. Das ist die raison d’être des neuzeitlichen Staates, und wir sollten uns als Teil des Staates verstehen und die Staatsaufgaben, auch der inneren und äußeren Sicherheit neu definieren.
Die militärischen Mittel allein reichen dazu freilich nicht aus, auch im kalten (Weltanschauung-) Krieg wurde ebenso fast ständig verhandelt, und der Sozialstaat wurde im Systemkonflikt massiv ausgebaut. Frieden schaffen ohne Waffen genügt nicht. Mit Diktatoren muss man zudem verhandeln können. Politische Vermittler werden immer gebraucht, und die kluge Macht von Regierungen kann sich darin bewähren. Regierungen können aber auch versagen.
Ein glaubwürdige Friedensethik muss deshalb die Tatsache berücksichtigen, dass imperiale Diktaturen abgeschreckt werden müssen oder wenigstens der Preis einer Okkupation hochgeschraubt werden muss. Eine robuste Verteidigung kann abschrecken, was zur Verteidigungsfähigkeit eines Volkes gehört. Für das kleine demokratische Taiwan zum Beispiel, das sich die Freiheit selbst erkämpft hat, ist das übermächtige China kein attraktives Gegenmodell.
Die liberale Weltordnung ist für die heutige globale plurale Staatenwelt nicht mehr die dominierende Leitlinie. Wegen der Mehrfachkrise und des globalen Krieges sind die Staaten pragmatischer geworden und folgen zunehmend eigenen Interessen mit neuen vorteilsgeleiteten Kooperationen. Es bilden sich neue Bündnisse: der globale Süden gegen den Westen, China und Russland bilden eine strategische Partnerschaft und Europa sucht seinen Weg als geopolitischer Akteur. Es ist offen und schwer absehbar, was daraus wird. Die politische (Welt-) Komplexität hat sich jedenfalls enorm erhöht.
Realistische Auswege durch Krisenkommunikation?
So wirft Russland den USA vor, im pazifischen Raum eine neue Nato zu formieren. Es will den USA ebenbürtig sein in der internationalen Politik, so auch im UN-Sicherheitsrat. Erst wenn diese Balance wiederhergestellt ist, und der Westen dem großen Land keine „strategische Niederlage“ beibringen will, ist Putins Russland bereit zur „friedlichen Koexistenz“ zurückzukehren (so Verteidigungsminister Schoigu in China Ende Oktober). Oder wendet es sich davon ab, zusammen mit China, in strategischer Partnerschaft gegen den Hauptfeind USA?
Putin demonstrierte öfters die Einsatzbereitschaft seiner Atomstreitkräfte, die USA reagierte mit dem Test der ‚ Minutman lll‘. Jüngst startete das neue Atom-U-Boot mit dem bezeichnenden Namen ‚Imperator Alexander lll.‘ die neue Interkontinentalrakete Bulawa mit 8000 Kilometer Reichweite. Auf der Halbinsel Kamtschatka kam sie an.
Für die Strategie des Pentagon, die China als größte geopolitische Herausforderung sieht, ist es „sehr besorgniserregend“, dass China sein Plansoll beim Atomwaffenausbau übererfüllt (Spiegel 18.10.). Es rüstet schneller auf als gedacht. 2030 soll China mehr als 1000 Atomsprengköpfe besitzen, derzeit sind es 410, USA 3700, Russland 4500, laut Stockholmer Friedensforschungsinstitut.
Die riskanten Militärmanöver zu Wasser und in der Luft vor Taiwan nehmen zu. Das Pentagon hat viele Fälle von Nötigung publik gemacht. Umso wichtiger ist es, dass zwischen den USA und China auf der Ebene von Mitarbeitern der Außenministerien anfangs November wieder über Entspannung und Eskalation gesprochen wird (laut Wall Street Journal). Zumindest geht es darum, Missverständnisse zu vermeiden und wieder eine Krisenkommunikation zu erreichen (Merkur.de, 2.11.).
Diese wird im Atomdreieck schwieriger und zugleich noch wichtiger, um ein Wettrüsten zu verhindern. Dazu muss man wissen, was der andere denkt, um so aus der Welt des globalen Krieges herauszukommen. Gegenwärtig wird in dieser Welt, in der wir gefangen sind, nur gefährlich folgenreich unterstellt, dass der jeweils andere die globale Sicherheit gefährdet.
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