Die Geschichte klopft immer aufdringlicher an die Tür des kleinen Mannes: der sogenannte Ernstfall rückt näher. Krisen und Katastrophen kennen wir schon, ja sogar in Überdosis: die Multikrise. Auch der Ausnahmezustand ist wieder ausführlich thematisiert worden – während der Corona-Pandemie. Siehe Kleger Gedankensplitter II: Normalität und Ausnahmezustand 2022.
„Bild für Intellektuelle“ hat die Witterung bereits neu aufgenommen. „Der Spiegel“ titelt am 4. Juli 2025: „Die neue Kriegsangst“ mit dem Untertitel „Wie sich Deutsche auf den Ernstfall vorbereiten“. Auf dem Titelbild sieht man drei Drohnen, die heute das Gefechtsfeld bestimmen.
Etwa im Ukrainekrieg gegen Russland, der in diesem Sommer im 4. Jahr in einen Erschöpfungskrieg ohne absehbares Ende übergeht. Deutschland will den ukrainischen Abwehrkampf anhaltend mit Waffen unterstützen und ist inzwischen selbst zu einem Kriegsziel geworden.
Plötzlich ist das ernste Wort ‚Ernstfall‘ mitten in der Spaßgesellschaft angekommen und in aller Munde. Man übt ihn, nicht nur in der Ostsee an der Nordostflanke der Nato. Fernsehdokumentationen nehmen den Zuschauer mit auf die Fregatte oder im U-Boot auf Tauchfahrt. Die Wehrpflicht, die ausgesetzt worden ist, sie steht noch im Grundgesetz, soll wieder eingeführt werden.
Die ganze Gesellschaft wird einbezogen, denn es geht um zivile und militärische Verteidigung gegen eine neue Bedrohung: „Russland greift uns an“ (Kanzler Merz). Der hybride Krieg ist bereits im Gange.
Nach langer Vernachlässigung will man wieder die „stärkste konventionelle Armee in Europa werden“ (Merz). Das Geld dafür ist vorhanden, der Nato hat man vorbildlich geliefert.
Tatsächlich ist eine neue gewaltige Aufrüstung in Europa im Gange, um Frieden und Freiheit in Zukunft selbst verteidigen zu können. Die Kriegsfähigkeit soll dazu dienen, den Ernstfall, das heißt: den großen Krieg durch wirksame Abschreckung zu verhindern. Der Bellizismus kommt diesmal aus dem Osten. Es geht um Verteidigung: si vis pacem para bellum. Das ist weit mehr als eine bloße Diskursverschiebung im Politischen.
Beim Ernstfall als Ausnahmezustand mit zahlreichen antizipierten Katastrophen liegt der Fokus auf dem Militärischen. Wir gehen zunächst die Ideengeschichte des Ernstfalls in groben thematischen Linien durch, bevor wir wieder auf die aktuellen Referenzen zurückkommen, von denen auszugehen ist.
Eine differenzierte Betrachtung zur Vorbereitung auf den Ernstfall verlangt ein mehrdimensionales und keineswegs linear -kausales Verständnis Einfache Fortschrittsnarrative vom kriegerischen Volksheer zur professionellen Armee oder von heroischer Tapferkeit zur technokratischen Kriegsführung greifen zu kurz.
Vielmehr zeigt die Geschichte, dass es nicht den einen Erfolgsfaktor gibt, sondern ein Zusammenspiel aus gesellschaftlicher Verfasstheit, politischer Ordnung, ökonomischer Struktur, kulturellem Selbstbild und technologischer Entwicklung. Betrachten wir also einige historische Beispiele und ihre Lehren:
1. Sparta versus Athen versus Rom
Sparta ist das Extrembeispiel einer militarisierten Gesellschaft. Wehrhaftigkeit war kein Mittel zum Zweck, sondern identitätsstiftendes Element. Jeder männliche Bürger war Soldat. Diese Totalisierung garantierte kurzfristig hohe Abwehrkraft, führte aber langfristig zur gesellschaftlichen Erstarrung ohne Demokratie.
Athen setzte dagegen auf bürgerliche Teilhabe auch beim Militär (Ruderer, Hopliten). Die Delischen Kriegsflotten waren Ausdruck einer strategisch denkenden Demokratie mit imperialem Ehrgeiz. Hier verband sich politische Freiheit mit Wehrwillen – ein interessantes, aber letztlich fragiles Gleichgewicht.
Rom entwickelte sich von der Bürgerwehr zur professionellen Armee. Die frühe Republik sah den Kriegsdienst als Ehrenpflicht der Bürger. Mit der Expansion wurde das Heer professionalisiert (Marianische Reform), was einerseits zu mehr Effizienz beitrug, andererseits die Bindung an den Staat schwächte – Klientelwesen und Bürgerkriege waren die Folge.
Was lehrt uns das: Kriegstüchtigkeit verlangt nicht nur militärische Mittel, sondern vor allem eine funktionierende Verbindung zwischen Militär und Gesellschaft, entweder über Identifikation, Partizipation oder bestimmte Legitimationsmuster.
2. Söldnerheere und ihre Ambivalenz
Machiavelli warnte eindringlich vor der Abhängigkeit von Söldnern: Sie kämpfen nicht aus Überzeugung, sondern gegen Bezahlung. In Krisen sind sie unzuverlässig und illoyal. Der Rückgriff auf Milizheere galt ihm als Ausdruck republikanischer Wehrfähigkeit und die militärische männliche Tugend als Inbegriff der Tugend einer Republik.
Karthago als Beispiel einer reichen, aber entmilitarisierten Handelsgesellschaft betrieb ein Outsourcing der Kriegsführung an Söldner (libysche Truppen), was langfristig gegenüber dem kriegssozialisierten Rom zum Nachteil wurde.
Im Mittelalter beanspruchte der Adel das Gewaltmonopol, aber Ritterheere waren teuer, langsam und unflexibel. Die Abwehr von Volksheeren (wie den Schweizer Gewalthaufen) zeigte, dass exklusive Wehrprivilegien militärisch nicht immer überlegen sind.
Die Lehre daraus ist: Söldnerstrukturen können militärisch effektiv sein, wenn sie gut geführt und diszipliniert sind (zum Beispiel Landsknechte oder Condottieri). Gesellschaftlich legitimierte Kriegsführung indes – demokratisch oder ideologisch abgestützt – ist nachhaltiger.
3. Technologischer Wandel und Ernstfallfähigkeit
Die Schweizer Bauernheere symbolisierten eine Revolution der Taktik: es waren Massen in Bewegung, mit Disziplin und Stoßkraft, den fremden Ritterheeren überlegen, wurden aber später von der Feuerkraft der Artillerie eingeholt wie in Marignano 1515.
Auch andere Beispiele demonstrieren deutlich: technologischer Wandel verschiebt die Gleichgewichte (Langbogen in Azincourt, später Schusswaffen und deren Entwicklung). Wer sich darauf nicht einstellt, verliert unabhängig von ‚Tugend‘ (virtù) und Opferbereitschaft, die wichtig bleibt.
Daraus folgt die Lehre, die in der heutigen schnellen Moderne umso mehr gilt: Ernstfallfähigkeit verlangt technologische Adaptivität. Selbst das tapferste Heer ist machtlos, wenn es veraltete Waffen oder veraltete Taktiken einsetzt.
Im waffentechnologischen Wettlauf mitzuhalten, ist heute das Hauptproblem. Es ist global und spielt sich vor allem zwischen den USA und China ab, zur See, in der Luft und im Weltraum. Je länger der Krieg in der Ukraine dauert, umso abhängiger wird Russland von China.
4. Soziale Mobilisierung und politische Ordnung
England im Hundertjährigen Krieg und später Preußen unter Friedrich Wilhelm l: Militärische Stärke entsteht auch durch Mobilisierung breiterer Schichten der Gesellschaft, sei es durch ökonomischen Druck, nationale Ideologie oder Pflichtgefühl. Napoleon und später die Weltkriege brachten das Konzept der Lévee en masse: totale Mobilisierung, die alle Lebensbereiche erfasst. Das führte zu nie dagewesener Kriegsfähigkeit und ebenso zu enormen gesellschaftlichen Verheerungen.
Lehre: dafür müssen Demokratien ganz besonders legitimatorisch aufrüsten. Wie machen sie das heute im Rahmen ziviler Belastbarkeit freier Bürger?
Zum Begriff der ‚postheroischen Gesellschaft‘
Herfried Münkler versteht unter ‚postheroisch‘ Gesellschaften, die Krieg nicht mehr als ehrenhafte Pflicht sehen, sondern als Störung des normalen komfortablen Lebens, auf das der kleine Mann ein „Recht auf Glück“ hat. Der Tod des Soldaten wird nicht als Opfer für das Gemeinwesen (siehe auch Perikles berühmte ‚Gefallenen Rede‘ in Thukydides), sondern als tragischer Verlust gesehen.
In postheroischen Gesellschaften (z.B. Westeuropas) wird Krieg delegiert: an Spezialkräfte, Drohnen, Auslandspartner, Geheimdienste). Die politische Elite scheut sich vor militärischem Risiko, auch aus Angst vor der medialen Rückkopplung.
Israel, das seit je um seine Existenz kämpft, wäre hier ein Gegenbeispiel: technologisch hochentwickelt bei der Flugwaffe und der Luftabwehr und mit starkem Konsens zur Wehrpflicht und klarer Feindbildlogik – also gerade nicht postheroisch.
Die Lehre, die darin steckt, ist: Das Mindset ist entscheidend. Er hängt indes nicht nur von der Kultur ab, sondern mehr noch von der geopolitischen Lage und der realen Bedrohungserfahrung bzw. Wahrnehmung. ‚Postheroisch‘ ist wie jedes – ‚post‘ kein Zwangsläufigkeit, sondern eine Option.
Der Begriff ‚ postheroisch‘ unterstellt eine lineare historische Entwicklung, so als ob Gesellschaften notwendigerweise aus dem Heroischen herauswachsen würden. Das ist empirisch nicht haltbar. Manche Gesellschaften oszillieren dazwischen. Statt von postheroisch, sollte man besser von ‚wehrabgewandten‘ und ‚risikoaversen‘ Gesellschaften sprechen mit geringer kollektiver Konfliktverarbeitungskompetenz. Das wäre präziser und ohne teleologischen Beiklang. Daran lässt sich arbeiten.
Schluss: Was macht Gesellschaften ernstfallfähig?
Mehrere Faktoren müssen zusammenwirken:
- institutionelle Klarheit: wer entscheidet über Krieg und Frieden? Wer trägt die Verantwortung
- Legitimation und Akzeptanz: Gibt es ein akzeptiertes Narrativ für militärisches Engagement?
- technologische und taktische Anpassungsfähigkeit: veraltete Strukturen führen in die Niederlage, zivile und militärische Verteidigung ist ein längerfristiges Projekt.
- Verbindung zwischen Militär und Gesellschaft: sei es durch Wehrpflicht, Milizsysteme und /oder zivilmilitärische Kooperation.
- kulturelles Mindset: Akzeptanz des Risikos und des Ernstfalls, keine Infantilisierung des Politischen.
- geopolitischer Druck : reale Bedrohung von außen zwingt zur Verteidigungsfähigkeit im breiten Sinne, Sicherheit muss nicht nur gewünscht, sondern auch gelebt werden.
Insgesamt lässt sich sagen: Ernstfallfähigkeit ist keine Eigenschaft, sondern ein Zustand, der gesellschaftlich hergestellt werden muss – durch politische Entscheidungen, kulturelle Prägung, institutionelle Ordnung und konkrete Bedrohungslagen.
Ein Rückgriff aus der Geschichte hilft, Muster und Fehlentwicklungen zu erkennen, ersetzt aber bei weitem nicht die nüchterne Gegenwartsanalyse.
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