Der 8. und 9. Mai

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Seit Beginn des Angriffskrieges von Putin auf die Ukraine werden in Deutschland sowjetische Ehrendenkmäler geschändet. Allein in Berlin registrierte die Polizei mehr als 20 Fälle. Darunter mehrmals Anschläge auf das größte Denkmal in Berlin-Treptow mit 7.000 Gräbern. 

In seinem Zentrum steht der haushohe imposante Sowjetsoldat mit dem Kind auf dem Arm und dem Schwert in der Hand, der den Sieg über die Nazidiktatur symbolisiert. Und die Skulptur „Mutter Heimat“ trauert um ihre vielen gefallenen Söhne. 24 Millionen sowjetische Bürger verloren im zweiten Weltkrieg ihr Leben, bedingt durch den Rassenwahn des nationalsozialistischen Deutschlands. 

Am 19./20. April 2022 trifft eine Flasche mit roter Farbe das sowjetische Ehrenmal auf dem Bassinplatz mitten in Potsdam. Im April 1945 gab es noch immer schwere Kämpfe mit einem fanatisierten Gegner, der nicht aufgeben wollte, so auch um Potsdam. Für die gefallenen, meist jungen Soldaten der Roten Armee wurde 1946 der Ehrenfriedhof eingerichtet. 

383 Armeeangehörige verschiedenster Nationalitäten – Weißrussen, Ukrainer, Russen, Letten, Litauer und Esten – fanden hier ihre letzte Ruhestätte, die seitdem von der Stadt, einschließlich der Umgebung mit Wiesen, Bäumen und Blumenbeeten, sorgsam gepflegt wird. Der stark frequentierte Friedhofsvorplatz, auf dem Weg von der Innenstadt zum Krankenhaus, wurde 2014 neugestaltet. 

Die niedrigen fünfeckigen Grabsteine mit kyrillischer Inschrift gehören Soldaten, die höheren trapezförmigen den Offizieren. Ein 14 Meter hoher Obelisk mit Plastiken der vier Waffengattungen steht im Mittelpunkt der Anlage hinter der großen katholischen Propsteikirche St. Peter und Paul (1867). Schon dieses Bild ist besonders und einzigartig, erst recht der Bassinplatz insgesamt, der heute eigentlich Platz der Toleranz heißen müsste. 

Er ist umrahmt vom berühmten Holländischen Viertel, dem sich inzwischen ein kleines neues holländisches Viertel hinzugefügt hat neben der Französischen Kirche, welche die Reformierten – historischer Widerpart der Katholiken gegenüber und zugleich Zufluchtsort der Hugenotten – ‚Tempel‘ nennen. Für sie waren selbst die Lutheraner noch zu katholisch. Friedrich ll. ließ 1752 die Flüchtlingskirche bauen. Dazwischen steht das verschachtelte DDR-moderne Gebäude des Klinikums Ernst von Bergmann. Verschiedene historische Zeitschichten liegen hier nebeneinander – gewürfelt, gemischt und keineswegs puristisch –, aber nicht nur das! 

Von der französischen Kirche mit ihrer unkonventionellen Kuppel aus gesehen, tobt links das jugendliche Leben auf den Aktionsflächen des Stadtjugendringes – Skaterplatz, Graffitiwände, Konzerte und Theater – auf ihrem „Bassi“. Und rechts ist der Marktplatz, der täglich, besonders an Samstagen gut besuchte Wochenmarkt, der zugleich ein Meinungsmarkt ist. Rundherum gibt es genug Sitzbänke zum Verweilen und Ausruhen. Hinter dem Skaterplatz liegt außerdem ein großen Parkplatz für Touristenbusse und Taxis mit einem italienischen Café und einer öffentlichen Toilette. 

Kurz: Es ist ein Ort historisch gewachsener lebendiger urbaner Toleranz, die von einer Vielfalt lebt, die nicht künstlich hergestellt ist. Man kann sie nur historisch erklären, und sie schafft zugleich ein Bewusstsein für unsere bescheidene historische Existenz. Es ist ein Bewusstsein davon, was zu unserer Geschichte, der man nicht ganz entkommt, gehört, und gleichzeitig das Erlebnis einer Lebendigkeit, die nicht in Geschichte aufgeht und immer wieder von vorne beginnt. 

Die Stadt Potsdam, die erstmals ein Konzept zur Erinnerungskultur in einem offenen Verfahren 2012 bis 2014 erarbeitet hat, lädt am 8. Mai zur Gedenkveranstaltung anlässlich des 77. Jahrestags der Befreiung vom Nationalsozialismus und des Endes des zweiten Weltkriegs in Europa ein. Der Oberbürgermeister wird eine Rede halten und im Anschluss daran werden Kränze und Blumen auf dem Friedhof niedergelegt. In der Einladung heißt es:“ Mit Ihrer Teilnahme an der Gedenkveranstaltung halten Sie die Erinnerung an diese wichtige Zäsur der europäischen Geschichte in Erinnerung und setzen ein Zeichen für Frieden und Verständigung.“ 

Der Oberbürgermeister Mike Schubert (Jahrgang 1973) hat aus der Geschichte gelernt. Potsdam ist voller schwieriger Geschichte und ein Labor aktiver Erinnerungskultur, die zur politischen Bildung beiträgt. Neben dem 8. Mai sind der 27. Januar (Holocaust) und der 14. April (Bombardierung) weitere öffentliche Gedenktage. Das neue Toleranzedikt 2008 versteht sich als Stadtgespräch, das anlassbezogen – offen und unabgeschlossen – fortgeführt wird. 

Auch der liebevoll „Bassi“ genannte Platz ist nicht frei von den üblichen Nutzerkonflikten verschiedener Gruppen um Raum, Schmutz und Lärm. Sie gehören seit jeher zur Koexistenzphilosophie einer lebendigen Stadt. Kleinliche (Nachbarschafts-) Konflikte keimen nicht nur hier immer wieder auf um Abfälle, Scherben und Schmierereien bis hin zu Vandalismus, bei denen oft ein Mindestmaß an Rücksicht verletzt wird. Demokratische Toleranz schließt Konflikte ein und nicht aus. 

Der 8. und 9. Mai stellt die Erinnerungskultur der Stadt wegen des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges von Putin auf die Probe. Nachdem der Ehrenfriedhof beschmiert worden ist, äußerte sich der Oberbürgermeister wie folgt: “ Die gefallenen Soldaten haben unser ehrendes Andenken für immer verdient. Wer Ehrengräber für die Befreiung vom Faschismus schändet und damit eine Botschaft im aktuellen Krieg setzen will, der missbraucht den Krieg in der Ukraine und begeht neben Vandalismus eine durch nichts zu rechtfertigende Geschichtsklitterung“ (20. April). Das tolerante Potsdam hat keinen Platz für Russophobie, es hat viel Platz für die Solidarität mit der Ukraine.

Auch die Geschichtswerkstatt Rotes Nowawes lädt am 8. Mai zu einer Gedenkveranstaltung ein. Sie erinnert zugleich an den 115. Geburtstag von Walter Klausch. Er gehörte als Antifaschist und Kommunist zu den ersten NS-Todesopfern im heutigen Babelsberg, das im KZ Oranienburg ermordet wurde. Am 19. Mai finden zudem die Stolpersteinverlegungen zusammen mit der Geschichtswerkstatt, Schülerinnen und Schülern sowie der Stadt statt. Solche Projekte im Zusammenhang mit einer authentischen Erinnerungskultur machen Sinn und wirken nachhaltig. 

Kurz nach Beginn von Putins Angriffskrieg erhielt die russisch-orthodoxe Kirche Drohbriefe, worauf die Stadt sofort reagierte und zu einem Gespräch zwischen den Religionsgemeinschaften einlud. Die Toleranz hat es seit jeher schwer gegen die Sündenbock-Theorie, welche in diesem Fall Russen in Sippenhaft nimmt. Der zweite Weltkrieg und der Ukrainekrieg sind zwei verschiedene Kriege. Die verständliche Wut auf Putin, sein System und seine Armee, die ein großes Eskalationspotential haben, darf sich nicht fremdenfeindlich gegen ethnische Russen generell richten. 

Es ist etwas anderes, wenn am 27. April in Kiew das größte Denkmal abgerissen wird, genauer: die imposante Skulptur der Völkerfreundschaft, der Bogen bleibt und wird umbenannt: vom „Bogen der Völkerfreundschaft“ zum Bogen der „Freiheit des ukrainischen Volkes“. Wir sind keine Gefangene der Geschichte, sondern leben jetzt unsere singuläre Lebenszeit in der Gegenwart. Jede Zeit hat ihre Denkmäler, an denen man sich reiben kann und die man gelegentlich aufgrund neuen Wissens auch neu kommentieren muss. 

Der 9. Mai ist der wichtigste nationale Feiertag Russlands. Er gilt als Tag des Sieges im „Großen Vaterländischen Krieg“ (1941-1945) gegen den Hitlerfaschismus: „Ewiger Ruhm der im Kampf für Freiheit und Unabhängigkeit unserer Heimat gefallenen sowjetischen Helden“ heißt es auf kyrillisch und deutsch im Potsdamer Ehrenfriedhof. Am 9. Mai um 00.16 deutscher Ortszeit wurde in Berlin-Karlshorst die letzte Unterschrift unter die „bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht „gesetzt. 

Breschnew hatte die große Militärparade zum Tag des Sieges 1965 eingeführt, um der ganzen Welt auf dem Roten Platz zu demonstrieren, dass die Sowjetunion eine Weltmacht ist. Der Sieg über Hitler und die Atomtechnik (seit 1949) hatten sie zu einer solchen gemacht, und der Marxismus-Leninismus, den Stalin erfunden hatte, diente als Legitimationsideologie. Putin setzt diese Breschnew-Tradition postsowjetisch fort: Wir sind wieder wer, wir können es wiederholen – „moschem powtorit!“ Der Sieg ist noch nicht zu Ende, heißt die zweideutige Botschaft. 

Putin bezeichnet den Zusammenbruch des Sowjetimperiums als “ größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Seit 1991 sucht Russland seinen eigenen Weg. Dann der politische Überraschungscoup an Silvester 1999: 2000 beerbt der unbekannte KGB- Oberstleutnant Putin den kranken Staatspräsidenten Jelzin, dem er und seiner Gefolgschaft Immunität gewährt. Er gilt anfangs als populärer Hoffnungsträger der Modernisierung nach innen, aber auch für Modernisierungspartnerschaften mit dem Westen. Gleich nach Amtsantritt ehrt er die kämpfenden Soldaten in Tschetschenien, er bleibt ein politischer Krieger. 

Russland sollte zum „gemeinsamen Haus Europa“ gehören, von dem Gorbatschow 1990 hoffnungsvoll gesprochen hatte. Um eine lange Geschichte von Gorbatschows Perestroika zu Orwells Totalitarismus unter Putin ultrakurz zu machen: 2007 bei der Sicherheitskonferenz in München sah und hörte man plötzlich einen anderen enttäuschten, wütenden und aggressiven Putin, der am 25. September 2001 auf deutsch noch eine eindrucksvolle Rede im Bundestag über das Ende des Kalten Krieges gehalten hatte. 

„Er beklagte, dass Russland, anders als früher die Sowjetunion, nicht mehr respektiert werde“ und dass der Westen, die Versprechen, die Nato nicht weiter auszudehnen, gebrochen habe (Kononow). Clinton und Obama müssen seinen Status als „Regionalmacht“ eingestuft haben, die zweite große Kränkung nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. 

Sukzessive entstehen nun die Versatzstücke des Putinismus als „Verschwörungstheorie“ (Nikolai Kononow, NZZ, 2.5., S.8), in dessen Zentrum die Idee eines einzigartigen Russlands als „heiliger Nation“ steht. Hier liegt der Antrieb des für uns rätselhaften großrussischen Nationalismus, der sich so gänzlich von Europa entfernt. 

Was er nicht versteht, ist der Wert von Bündnissen, den Staaten um ihrer Werte willen (soft power) freiwillig eingehen (vom Bund zum Bündnis, von der atlantischen zur transatlantischen Zivilreligion). Präsident Biden hat in Polen von der Bündnisverpflichtung als einer „heiligen Verpflichtung“ gesprochen. Siehe auch den Blog vom 27. März. 

Als Putins wichtigster Vordenker gilt der faschistische Philosoph Iwan Jljin (1883-1954), siehe dazu auch den Blog vom 24. März. Alte sowjetische Sehnsüchte fließen zudem in den Putinismus ebenso ein wie der zivilisatorische Einfluss der orthodoxen Kirche mit ihren Ressentiments gegenüber dem liberalen dekadenten Westen. 

Der antisowjetische Widerstand in der Ukraine wird außerdem mit Hitlers Nationalsozialismus verknüpft. Als Brückenfigur dient der Kollaborateur Stepan Bandera: Ukrainer sind „Banderianer“ oder einfach „Nazis“, was für Außenstehende verwirrend und nur schwer nachvollziehbar ist – kämpft nun plötzlich Faschismus gegen Faschismus? Die analytisch interessante Frage in diesem Zusammenhang lautet: Was für ein neuer Faschismus ist der Putinismus? 

Am 1. Mai 2022 tragen selbst die Gewerkschaften in ganz Russland das Transparent vor sich her „Gegen Nazismus“. Das war schon die für alle deutlich lesbare Hauptparole von Putins Auftritt im Moskauer Olympiastadion am 18. März. Im italienischen Fernsehen spricht Außenminister Lawrow am 1. Mai erneut davon, dass Russland in der Ukraine gegen Nazis kämpfe. Was heute alles „Nazi“ heisst? „Was hat Russland aus dem 2. Weltkrieg gelernt?“ fragt Selenskyji zurecht. 

Nach der Annexion der Krim 2014 wird aus der Ukraine „Antirussland“. Aus dem Osten der Ukraine will man jetzt, einschließlich der strategisch wichtigen Cherson-Region, wo der Rubel und russische Pässe wieder eingeführt und an den Schulen russisch gesprochen werden soll, „Südrussland“ oder „Neurussland“ machen, womit die Verbindung zur Krim wiederhergestellt wäre. Es steht zu vermuten, dass Russland bei einem militärischen Sieg, diese Gebiete nicht mehr hergeben wird. Was mit Odessa geschehen wird, weiß im Moment niemand. Dafür müsste zuerst die Stadt Mykolajiw in russische Hände fallen. Der militärische Kampf ist noch lange nicht entschieden. So sehen es im Moment beide Seiten. 

Was bedeutet das alles für den 9. Mai, den Tag des Sieges? Nach Auffassung vieler Beobachter kommt die Donbass – Offensive kaum voran, bei hohen Verlusten auf beiden Seiten und wenig Geländegewinn. Der ukrainische Generalstab urteilt am 3. Mai siegeszuversichtlich und spricht davon, die Kapitulation Russlands militärisch herbeiführen zu können. Welchen Sieg wird also Putin am 9. Mai verkünden nach diesem sinnlosen zerstörerischen Krieg gegen die einheimische Bevölkerung, für den er die Verantwortung trägt? “ Auf der einen Seite kämpft eine Armee, auf der anderen ein Volk“ (Kermani). 

Eine russisch diktierte Koexistenz wird es nicht geben, vielmehr ist eine Kombination von militärischen und zivilen Widerständen zu erwarten, je näher manipulierte Referenden rücken. Sollte dies tatsächlich der weitere politische Weg Russlands sein, wird es keinen Friedensvertrag geben können, der nicht wieder Ausgangspunkt neuer kriegerischer Konflikte 
wird. 

Wie beurteilen Putin und sein Generalstab die momentane Situation? Was kann er noch bekommen? Setzt er auf einen langen Zermürbungskrieg? Befiehlt er die Teil- oder Generalmobilmachung, um eine nächste Stufe der Eskalation im Krieg einzuleiten? Das sind die Fragen am Vorabend der großen Militärparade in Moskau, die wieder neue Waffen zeigen wird.

Putin zieht am 9. Mai alle Register. Der Tag wurde vorbereitet wie ein Theater, mit Proben und Generalprobe. Es soll ein generationenübergreifendes Volksfest werden. 11.000 Soldaten der verschiedenen Waffengattungen marschieren über den Roten Platz. Die große Flugshow fällt wetterbedingt aus. Bereits am Vorabend gratulierte Putin den ostukrainischen Separatisten zum Tag des Sieges: „Wie 1945 wird der Sieg unser sein.“ Das historische Erbe und nicht die gegenwärtigen Realitäten und Widrigkeiten des Ukraine-Krieges stehen im Vordergrund.

Die mit Spannung erwartete große Rede enthielt nicht, was von den Kommentatoren im Vorfeld erwartet wurde. Sie wiederholte lediglich, weshalb sich der Aggressor der „Aggression aus dem Westen“ erwehren musste, um Russland zu verteidigen. Putin denkt in Blöcken und will auf der großen Bühne der Weltgeschichte stehen. Die souveräne Unabhängigkeit der Ukraine, die schon bald 20 % ihres Territoriums verloren hat, abgesehen von den immensen Schäden, gilt ihm nichts. Wie es weitergeht ist offen, ein Ausweg leider nicht in Sicht. 

Der 9. Mai ist auch, im völligen Aufmerksamkeitsschatten des Ukraine-Krieges, der Europa-Tag. 
Anlass des Europa-Tages ist der 72. Jahrestag der Schuman-Deklaration. Der vom christdemokratischen französischen Außenminister Robert Schuman am 9. Mai 1950 vorgelegte Plan sah vor, die französische und deutsche Kohle- und Stahlindustrie, Grundlage der Rüstungsindustrie, einer gemeinsamen europäischen Behörde zu unterstellen. Dies war der Beginn einer friedensfördernden transnationalen Politik.

Der Russland-Tag und der Europa-Tag könnten am 9. Mai 2022 nicht weiter auseinanderliegen.


Bildnachweis: Daniel Wetzel