Am 19.10. sprechen Militärexperten wieder einmal von einer neuen Phase des Krieges: Es geht um die südukrainische Stadt Cherson mit ehemals ca. 290.000 Einwohnern.
Die Hafenstadt war einmal ein Stützpunkt der Schwarzmeerflotte. Als erste ukrainische Stadt ist sie von den Russen eingenommen worden, sie bildet den Landzugang zur Krim sowie einen Zugang zum Schwarzen Meer. Die Regionalhauptstadt ist mithin von großer strategischer und symbolischer Bedeutung. Die ukrainische Armee hat starke Kräfte zusammengezogen, um sie zurückzuerobern. Für den Sieger von Cherson öffnet sich der Weg nach Mykolajiw, das 2017 einmal 480 000 Einwohner hatte (gegenwärtig sind es noch ca. 200 000) und der Millionenstadt Odessa.
Zum ersten Mal gibt der russische Militärbefehlshaber, der neue Armeegeneral Surowikin, öffentlich Schwierigkeiten zu. Russland evakuiert zehntausende Zivilisten aus Cherson, wohl um primär den Nachschub für die eigene Truppen zu sichern (wird aus der Festung Cherson wieder ein Grosny, Aleppo oder Mariupol?), nachdem wichtige Brücken von der ukrainischen Armee mit amerikanischen Himars-Raketen zerstört worden sind.
Gleichzeitig ruft Putin am 19. Oktober das Kriegsrecht in den annektierten Gebieten aus, was Konsequenzen für Militär und Bevölkerung hat. Man muss dazu sagen, dass die Region um Cherson (die Oblast) militärisch nie vollständig kontrolliert worden ist. Sie ist trotzdem in russischen Grenzen eingegliedert worden. Der Partisanenkrieg wird hier weitergehen. Mit der Annexion dieser Gebiete hat sich Putin in eine riskante, man könnte sogar sagen: ausweglose Situation manövriert.
Wieder spricht man von einer Entscheidungsschlacht im Ukraine-Krieg: Beide Seiten ziehen zehntausende Soldaten zusammen und konzentrieren sich taktisch auf die bevorstehenden Wochen. Der Krieg tritt einmal mehr in eine heiße Phase, während man in Europa den hybriden Krieg und die weitere Unterstützung für die Ukraine diskutiert. Der erste Satz des neuen ukrainischen Botschafters in Berlin Olexi Makajew an die Adresse Deutschlands lautete wie immer, dass sie schnell mehr schwere Waffen brauchen. Moderne Verteidigungs- und Angriffswaffen sind gleichermaßen überlebensnotwendig geworden.
Lettlands Verteidigungsminister Artis Pabriks wählt die Worte sorgfältig: „Russland muss verlieren lernen“. Das Wort „Kapitulation“ vermeidet er. “ Aber es geht um den Sieg (den militärischen Sieg gegen die ‚Spezialoperation‘ in der Ukraine, H.K.). Sie müssen verlieren. Tatsächlich wäre es für dIe Russen psychologisch gesund, den Krieg endlich zu verlieren. Sie sind nie auf die Idee gekommen, dass sie irgendjemandem etwas Unrechtes angetan haben. Man lernt nicht aus Siegen, man lernt aus Niederlagen so, wie die deutsche Gesellschaft es auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs getan hat“ (FAZ, 20.10., S.2).
Nun folgt ein großes Aber: „aber mehr und mehr fragen, ob die Deutschen verlässliche Partner sind. Wäre die deutsche Gesellschaft bereit, ihr Leben für unsere Freiheit zu geben? Wenn ich sehe, wie Deutschland, aber auch Frankreich und andere Länder die Ukraine anfangs unterstützt haben, habe ich da meine Zweifel“ (Pabriks, a.a.O.).
Soll Deutschland „führen“? „Wir befinden uns im Krieg. Und da muss das größte Land führen“ (Pabriks, a.a.O.). Auch hier sind die Worte abzuwägen. Verantwortung und die daraus ableitbaren verbindlichen Verpflichtungen sind wichtiger und bedenkenswerter als „Führung“. Deutschland kann und soll nicht von heute auf morgen die ‚Zivilmacht‘ (Maull) mit einer ‚Militärmacht‘ vertauschen, die sie nicht ist. Bluffen können andere.
Die richtige verteidigungspolitische Wende ist vielmehr zügig mit der eigenen skeptischen Bevölkerung und Schritt für Schritt in Abstimmung mit den USA und allen europäischen Partnern sichtbar umzusetzen. Die Achse Deutschland-Frankreich darf dabei weder zu stark noch zu schwach werden, was freilich in der EU eine schwierige Balance mit großem Kommunikationsaufwand bedeutet. Die gegenwärtigen Verstimmungen gerade in Militärfragen, die zur Verschiebung der Regierungskonsultationen geführt haben, sind nicht hilfreich.
Führende Militärköpfe denken derweil schon jetzt an den nächsten Sommer und die Schlachten auf der Krim (General Hodgsen), während für die ukrainischen Städte effektive Luftabwehrsysteme gegenwärtig immer wichtiger werden, um der Terrorisierung der eigenen Bevölkerung begegnen zu können. Für den Praktiker und Theoretiker Ben Hodgsen ist Krieg ein Test des Willens und der Logistik, während er die Kampfmoral der Russen als schlecht einschätzt und sie bekanntermaßen bei den langen Frontlinien nicht zufällig große Nachschubprobleme haben. Auf der Krim könnte sich das wieder ändern, und eine weitere militärische Eskalation ist zu erwarten, auf die man sich einstellen muss.
Auf die Unterbrechung der Nachschubwege im Hinterland setzten bisher die Ukrainer erfolgreich in ihrem großen Land, das sie bestens kennen. Sie sind besser und beweglicher im Verbund der Kräfte und in kleineren Einheiten, die auf der Ebene der Unteroffiziere mehr Spielraum haben im krassen Unterschied zu den zentralen und hierarchischen Befehlsketten der russischen Armee, die technisch nicht mehr modern und taktisch nicht mehr flexibel genug ist.
Putin setzt auf die Verlängerung des Krieges, die Zermürbung der Bevölkerung und die nachlassende Unterstützung durch den Westen. Die Angriffe richten sich gezielt auf die Energieversorgung in der ganzen Ukraine kurz vor dem Winter. Die Ukrainer kommen mit den Reparaturen nicht mehr nach. Die Verleihung des Sacharow-Preises an das „ukrainische Volk“ durch das EU-Parlament in Straßburg ist mehr als passend, es war von Anfang an ein Widerstand gegen die Barbarei (siehe den Blog vom 5. März).
Für Europa hat Deutschland die Initiative für einen gemeinsamen Schutzschirm mit 12 anderen Ländern ergriffen, und die Nato übt den Atomkrieg. Beides sind deutliche Zeichen an Russland.
Am Warschauer Sicherheitsforum spricht man über die „Angst vor der Atommacht“ und über die „Entdämonisierung der Atomwaffen“, so Georg Häsler (NZZ, 18.10., S.6). Siehe dazu auch die „Szenarien für den Ernstfall“ von Richard K. Betts, der Mitglied des Rats für nationale Sicherheit der USA war (NZZ, 19.10., S.16). Bürger/innen sind als mündige Erwachsene darüber aufzuklären. Der ehemalige polnische Außenminister Jacek Czaputowicz (2018-20) fordert Deutschland auf, „seine Sonderrolle aufzugeben“ (NZZ, 18.10., S.13).
Gerechter Friede im Völkerrecht
Das Völkerrecht ist maßgeblich. Danach sind die Grenzen der Ukraine diejenigen vor der Invasion, einschließlich des Donbass und der Krim, es sei denn die Ukraine stimme der Veränderung ihrer Grenzen aus freien Stücken zu. Alles weitere sind Themen einer friedensuchenden Realpolitik, die politisch eigenständig und schwierig werden in Bezug auf Fragen von Sicherheitsgarantien, Reparationen und Kriegsverbrechen. Darüber zerbrechen sich schon jetzt die Völkerrechtler die Köpfe. Ein gerechter Friede darf nicht wieder zum Vorwand für einen neuen Krieg werden.
Das Wunder im Sinne von Hannah Arendts Philosophie des Handelns (siehe den Blog vom 18. Oktober) besteht in der Standhaftigkeit der Ukraine. Während viele wehrfähige Russen das Land verlassen, obwohl sie es lieben, waren und sind die Ukrainer zu allem bereit. Sie zeigen Opferbereitschaft für ihre Familien und die Heimat. In dieser Opferbereitschaft wahrer Patrioten, wenn sie notwendig wird, ist die wesentliche Bedingung einer Bürger/innen-Nation zu sehen, die sich in Zukunft durch weitere demokratische Lösungen behaupten muss. In diesem Sinne wohnen wir der Geburt einer neuen europäischen Nation bei.
Fotonachweis: IMAGO / ITAR-TASS