Der Deutsche Bundestag ist das größte demokratische Parlament der Welt. Er ist zu groß und muss kleiner werden. Aber wie?
736 Abgeordnete sind es derzeit, nach der dem alten Wahlrecht sind es 598. Die Ampelreform sieht 630 Sitze vor, davon 299 in Wahlkreisen gewählt sowie 331 über Parteilisten verteilt. Die Zweitstimme wird verstärkt. Eine Wahlrechtsreform ist notwendig, aber heikel, denn die Systematik des Wählens muss für die Bürger nachvollziehbar bleiben. Die Wahl ist die wichtigste Institution der Demokratie.
Das sind grundlegende Entscheidungen, für die man einen demokratischen Konsens suchen muss. Der 17. März war kein guter Tag in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus, für den die repräsentative Demokratie nicht nur das ‚dominierende‘ Prinzip der Demokratie, sondern auch die ‚wahre Form‘ der Demokratie (Böckenförde) sein soll. Kritisch hat man deswegen auch schon von ‚repräsentativem Absolutismus‘ (Narr) gesprochen.
Umso vorsichtiger und seriöser müssen demokratiepolitischen Überlegungen sein, wenn es im Makrobereich um nicht weniger als die Spielregeln der Demokratie geht. Demokratie darf nicht zu einer Scheinetikette der Regierenden werden (siehe dazu den Blog „Demokratiepolitik im Großen“, 16. November 2022).
Dieser Demokratieabbau kann nicht durch Demokratiepolitik im Kleinen, durch Bürgerkommune als Beteiligungskommune, wieder kompensiert werden (siehe dazu den Blog „Demokratiepolitik im Kleinen“, 28.November 2022). Das gilt auch für die moderne direkte Demokratie im Großen, die nachvollziehbare und verbindliche Ergebnisse für Bürger und Bürgerinnen zeitigen muss. Sie kann nicht durch losbasierte Bürgerräte ersetzt werden.
Demokratiepolitik ist alles andere als ein Modethema. Weder der Begriff der Demokratie noch gar der Begriff der Demokratisierung sind heute in der Tiefe und Breite geklärt. Letzterer war in den 60er Jahren geradezu eine Ersatzreligion für progressive Kräfte. Man sieht heute, was daraus geworden ist (im Arbeits- und Wirtschaftsleben, bei den Medien, an den Hochschulen, in der EU). Das Thema hat sich nicht erledigt, im Gegenteil. Demokratisierung der Demokratie und eine Demokratiepolitik, die dies unterstützt, sind neu zu denken.
Die Partei ‚DIE LINKE‘ sprach von der „Verkleinerung der Opposition“ statt von der notwendigen Verkleinerung des Parlaments, und das Schwergewicht Wolfgang Schäuble, der vormalige Parlamentspräsident, mit seinen mehr als 50 Jahren Parlamentserfahrung sprach sogar von der „Verfälschung des Wählerwillens“. Das wirkt verheerend in einer Situation, wo das politische Vertrauen der Bevölkerung in die liberale Demokratie ohnehin nicht groß ist und in Deutschland zudem durch ein deutliches West-Ostgefälle geprägt ist.
Die größte und größer werdende Partei der Nicht-Wähler ist besonders unzufrieden mit der repräsentativen Demokratie, was zum Teil in neue aggressive Allianzen der Staatsfeindlichkeit umschlägt. In Ostdeutschland wollen bis zu 30 Prozent AfD wählen, darunter viele Jugendliche. Bald wird ihre Regierungsbeteiligung da und dort nur noch durch eine Allparteienregierung zu verhindern sein, was wiederum mögliche Proteste beschleunigt.
Die CSU erwägt eine Verfassungsklage, die chancenreich ist. Die Parlamentsmehrheit kann durch das Verfassungsgericht noch korrigiert werden, was zugleich demonstriert, wie wichtig die Gewalten- und Machtteilung für eine funktionierende rechtsstaatliche Demokratie ist. Sie ist eine schützende Bedingung der Freiheit und damit auch der Demokratie im liberalen Verständnis.
In der EU ist dies seit längerem ein großes Problem im Verhältnis zu Polen und Ungarn. Auch dort gingen Menschen auf die Straße gegen eine problematische Justizreform, für eine unabhängige Justiz, die Rechte von Minderheiten und die Freiheit der Einzelnen. Dazu kam der Frauenstreik in Polen gegen die katholisch-konservative Regierung mit ihrer Parlamentsmehrheit, die ein striktes Abtreibungsverbot durchsetzen wollte.
In Israel gibt es zurzeit heftige Massenproteste gegen die beabsichtigte Justizreform der rechtslastigen Regierung. In Israel existiert keine feste Verfassung, daher auch kein Verfassungsgericht, aber ein ziemlich starker Oberster Gerichthof, an dessen Macht nun gerüttelt wird. Montesquieu spricht von der „ewigen Erfahrung“, „dass jeder Mensch, der Macht hat, dazu getrieben wird, sie zu missbrauchen. Er geht immer weiter, bis er an Grenzen stößt“. Worauf der ebenso beachtliche Satz folgt: “ Sogar die Tugend hat Grenzen nötig“ (Montesqieu, Vom Geist der Gesetze (De L’Esprit des Loix, 1748), Stuttgart 1994, S. 215).
In der konfliktreichen Geschichte der Demokratie war die politische Rolle von (Verfassungs-) Gerichten seit je umstritten und wird es bleiben. Erst recht ist das in der EU der Fall, die mehr ein Rechtsstaat als eine Demokratie ist (Dahrendorf). Europa hat höchstens in Ansätzen (Grundrechtecharta) eine Verfassung, die 2005 demokratisch an Frankreich und den Niederlanden gescheitert ist. Für einen neuen Anlauf zur Veränderung der Verträge nach Art. 48 EUV müsste man zuerst einmal die Lehren aus dem ersten Scheitern ziehen (Kleger, Der Konvent als Labor 2004).
Die Linke und die CSU sehen sich in ihrer parlamentarischen Existenz bedroht durch den Beschluss der Ampelkoalition vom 17. März. Dabei geht es primär um die sogenannte Grundmandatsklausel. Die Aufregung bei der CSU kann man verstehen, denn würde sie in allen 46 Wahlkreisen in Bayern das Direktmandat erringen, bundesweit aber unter der 5% Klausel bleiben, hätte sie keinen Abgeordneten im Parlament, das zurecht als nationale Bühne und Zentrum der politischen Auseinandersetzung in Deutschland gilt, und das in einem föderalistischen Staat (Bundesrepublik), der den regionalen Proporz beachtet.
Die schwächelnde Linke ist zudem mit Fraktionsstärke (39 Mitglieder) im Parlament vertreten, weil sie mit Gysi, Lötzsch und Pellmann drei Direktmandate im Osten, in Berlin und Leipzig, gewann. Das Direktmandat hat eine besondere Bedeutung im Verhältnis von Abgeordneten und Parlament und damit in der Demokratie der Bürger. Unstrittig ist, dass, wer die meisten Stimmen in seinem Wahlkreis erzielt, ins demokratisch gewählte Parlament einziehen soll. Er/sie genießt ein besonderes Vertrauen der Wähler, welches er/sie durch Arbeit und Kommunikation vor Ort verdient.
Solche Abgeordnete bleiben oft auch von Fraktionen und Parteien unabhängige eigenständigere Köpfe – Normenklarheit im doppelten Sinne des Wortes: den Wählern und dem eigenen Gewissen gegenüber, wobei Gewissen etwas mit Wissen zu tun hat, wissen, was vor Ort vor sich geht. Diese Wahl ist für die Wählenden oft wichtiger als die Parteiliste, bei der die Parteifunktionäre eine maßgebliche Rolle spielen, für die sie eine gewisse Loyalität einfordern (Müntefering).
Damit wird das Eigeninteresse der Parteien und ihr parteienstaatliches Übergewicht sichergestellt. Die Machtkämpfe um die Listenplätze – die Rangliste und die Parität- bis hin zur ‚persönlichen Verfeindung‘ tun ein Übriges, um die Politik- und Parteienverdrossenheit weiter zu steigern. Das beginnt schon auf der kommunalpolitischen Ebene.
Bleiben wir aber vorerst auf der Makro-Ebene: Am Vorabend der historischen Abstimmung über die Wahlrechtsreform debattierte der Bundestag am 16. März auch über das sogenannte ‚Demokratiefördergesetz‘ der Ampelkoalition. Es gehört ebenfalls zu ihrem demokratiepolitischen Reformprogramm, welches im Koalitionsvertrag vom 24. November 2021 die Absenkung des Wahlrechtsalters auf 16 Jahre, die Modernisierung des Staatsbürgerschaftsrechts, die Teilhabe von Migranten, die digitalen Bürgerrechte, die Einberufung eines neuen Konvents sowie Transparenz und Lobbyregister vorsieht.
Primär geht es dabei aber (unter falschem Namen) um eine staatlich wehrfähig gemachte Demokratie gegen ihre „größte Bedrohung durch den Rechtsextremismus“, so Innenministerin Faeser. In diesem Zusammenhang vor allem soll die staatlich geförderte Zivilgesellschaft mit ihren zahlreichen Initiativen, insbesondere in Ostdeutschland, gestärkt werden.
Dazu gehört auch das demokratiepolitische Handlungskonzept ‚Tolerantes Brandenburg‘, welches 1998 gegründet und seitdem stets weiterentwickelt worden ist. Es ist in mancher Hinsicht bei der Prävention von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und politischer Gewalt zum Vorbild für andere Bundesländer geworden, weil es den durchsetzungsfähigen starken Rechtsstaat mit lebendiger liberal-toleranter Bürgergesellschaft zu verbinden versucht.
Das ist ein wichtiges und berechtigtes Anliegen, nur deckt es weder den Begriff der Zivilgesellschaft noch den der Förderung von Bedingungen der Demokratie ab, die in der wachsenden und vielfältigen Bürger/innengesellschaft stecken. „Gegen Antidemokraten zu sein, macht einen selbst noch nicht zum Demokraten“ (Linda Teuteberg). Niemand wird als Demokrat geboren, es ist ein Lernprozess.
Die Debatten der letzten Zeit zeigen, wie wenig zusammenhängend demokratiepolitisch gedacht wird, was der gegenwärtigen komplexen Demokratie in der Vertrauenskrise am meisten nützen würde. Das heißt: eine begrifflich klare, verständliche, breite und nachhaltige Debatte über die Zusammenhänge von Demokratie als Regierungs- und Lebensform ist nötig, die selbstkritisch eigene Erfahrungen und Anschauungen berücksichtigt. Dabei sollten keine Paralleluniversen zwischen Beteiligungsaktiven und Indifferenten entstehen, Ansteckungseffekte müssen möglich sein.
Die Schwierigkeiten der Parteiendemokratie und ihres notwendigerweise kompromisshaften, staatspolitisch verantwortlichen Regierens sind dabei genauso mitzubedenken wie die vielfältigen Möglichkeiten bürgerschaftlichen Engagements, das im Ehrenamt nicht aufgeht. Dazu zählen die direkte Demokratie wie die zahlreichen neuen Formen der Bürgerbeteiligung (Bürgerhaushalte, Bürgerbudgets, Beteiligungsräte, Jugendbeteiligung, Bürgerräte, Stadtforen). Die inzwischen zahlreichen (Bei-) Räte sollten ebenfalls nicht unverbunden bleiben.
Daraus können neuen Formen der Kombination von Demokratiemodellen (repräsentativ, partizipativ, deliberativ) auf allen Ebenen (kommunal, regional, national, europäisch) erwachsen – nicht grenzenlos, aber grenzen-überschreitend. Was zunächst wie ein Gedankenexperiment politischer Theorie anmutet, was legitim ist, kann in der Praxis schrittweise erprobt werden, je nach den zivilen Potentialen von Bürgersouveränität.
So lässt sich demokratische Legitimität neu zusammensetzen und über Wahlen hinaus verbessern. Das gilt sogar für die exekutivlastige europäische Ebene, wenn etwa die Bürgerinitiative (EBI) an den politischen Gesetzgeber – Parlament und Rat- adressiert und zumindest zu einer Vetoinitative ausgebaut werden kann. Dann wird sie auch ein direktdemokratisches Instrument der Unionsbürgerschaft und nicht bloß Agendasetting für die Kommission. Das erfordert nicht nur demokratisches Denken, sondern auch einen langen Atem.
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