Demokratiepolitik im Großen

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Präsident Biden, der die freie Welt im geopolitischen Grundkonflikt der ‚westlichen Demokratien‘ gegen die ‚Autokratien‘ anführen soll – das jedenfalls ist die Auffassung des ukrainischen Präsidenten Selenski im Verteidigungskrieg gegen Russland – sieht im Wahlkampf die eigene Demokratie bedroht. 

Die politische Polarisierung mit Teilen der ‚grand old party‘, der republikanischen Partei und ihres Anhangs, die gläubig Trump folgt, ist so weit fortgeschritten und vergiftet, dass die Demokratiepolitik neben Wirtschaft, Inflation, Migration, Abtreibung und Klimaschutz tatsächlich zu einem zentralen Thema der demokratischen Auseinandersetzung selber geworden ist. Dabei steht auch die weitere kriegsentscheidende Unterstützung für die Ukraine auf dem Spiel.

Ob Trump 2024 noch einmal antritt, lässt er zunächst offen, er kokettiert damit: “ very probably“. Definitiv wird er sich erst nach den Kongresswahlen am 8. November äußern. Für den 15. November hat er ein „big announcement“ an seinem privaten Regierungssitz in Florida angekündigt. Trump kommt tatsächlich wieder: „Amerikas Comeback beginnt genau jetzt.“ Doch er wird zunächst starke interne Konkurrenz bekommen. Seine Wahlniederlage räumt er bis heute nicht ein, vielmehr will er ein drittes Mal gewinnen, verlieren kann er nicht.

So kann es noch einmal zum Duell der beiden alten Männer kommen, wobei zurzeit  
offen ist, ob Biden aufgrund seines Alters, er ist der älteste Präsident aller Zeiten und wird bald 80, noch einmal antreten wird. Bisher joggt er bewusst demonstrativ auf die Rednertribüne, viele jüngere Demokraten sehen dies jedoch anders. Was ist das demokratische Programm? 

„Um der Inflation entgegenzuwirken, müssen wir weiterarbeiten – an der Weiterbildung von Arbeitskräften, an Lieferketten, der Reduzierung von Transportkosten, Preisen von Medikamenten, Wohnraum, Kinderbetreuung, anstatt Steuersenkungen für Reiche, was die Republikaner wollen“ (so eine der möglichen Kandidaten, die Senatorin Amy Klobuchar bei CBS). 

Bei den Zwischenwahlen am 8. November ist eine überwältigende ‚rote Welle‘ für Trump erwartet worden. Die Demokraten haben jedoch besser als erwartet abgeschnitten. Der alte Biden, der ein gewiefter Innenpolitiker ist, der seit je vor allem als parteipolitischer Vermittler und nicht als linker Demokrat gewirkt hat, ist einmal mehr unterschätzt worden trotz den schwierigen Wirtschaftsfragen, die im Vordergrund stehen: „Its economy, stupid“ (Clinton). Biden bezeichnet am 9. November die Midterms als einen „guten Tag für die Demokratie“ und geht auf die Republikaner zu. 

Der amerikanische Präsident, außenpolitisch eine Weltmacht, der sich beim G20 Treffen auf Bali am 14. November mit dem chinesischen Präsidenten Xi zum ersten mal trifft, was ein wichtiger weltpolitischer Anfang bedeutet, kann innenpolitisch schnell eine ‚lame duck‘ werden. Hier zeigt sich wieder, wie schwierig demokratisches Regieren ist, was nicht ‚herrschen‘ heißt (ausführlich Kleger 2018). 

Das gilt für alle Demokratien, ob präsidial, parlamentarisch oder direkt, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Demokratie löst Probleme, sie schafft aber auch welche, was etwa mit dem anspruchsvollen Zweikammersystem im Bundesstaat (Repräsentantenhaus und Senat, Nationalrat und Ständerat, Bundestag und Bundesrat usw.) zusammenhängt. Die USA haben nicht die Demokratie erfunden, wohl aber die föderative Republik. Biden muss nach den Midterms wieder vermehrt auf die Republikaner zugehen, die dafür einen Preis fordern. Das gilt für den Klimaschutz, ein nationales Abtreibungsrecht und die Haushaltsgesetzgebung. Verhandlungsdemokratie ist nun gefragt. 

Klar ist auch, dass sämtliche Trump-kritischen Untersuchungsausschüsse stillgelegt werden – darunter der besonders brisante über den Sturm aufs Capitol, bei dem sogar 
Doug Mastrioni teilnahm, der in Pennsylvania als Gouverneurskandidat antrat und ebenso scheiterte wie andere Wahlleugner, die für Trump ins Rennen gegangen sind. Dutzende ‚Wahlleugner‘ sind hingegen ins Repräsentantenhaus eingezogen. Die bewusste Strategie des rechten politischen Kriegers Steve Bannon, eigene Anhänger ins Amt der obersten Wahlleiter zu bringen, ist zum Glück nur teilweise aufgegangen. 

Die Bilanz für Trump ist also durchzogen (NZZ, 11.11., S.3). Der ‚angeschlagene Boxer‘ gilt indes als gefährlich. Was das Weiße Haus angeht, so gibt das Elektorat Biden noch einmal zwei Jahre Bewährungsfrist, die politisch nicht einfacher werden, denn im Repräsentantenhaus haben die Republikaner wahrscheinlich die Mehrheit zurückerobert und im Senat könnte es am Schluss nur 51 zu 49 für die Demokraten stehen. 

Die Demokraten haben inzwischen den Sitz für Arizona gegen Trump-Anhänger geholt, in Nevada ebenso, nachdem lange ausgezählt worden ist. Möglicherweise entscheidet erst die Stichwahl am 6. Dezember in Georgia über die knappe Mehrheit im Senat. 

Von einem Sieg der Demokraten (auch für die Demokratie) lässt sich nicht euphorisch sprechen, höchstens von der Abwehr einer schweren Niederlage, die sich auch außenpolitisch ausgewirkt hätte. Demokratische Parteien sprechen überall ständig von Siegen, auch wenn sie kontinuierlich (in verschiedenen Hinsichten!) Wähler, Mitglieder, Unterstützung Profil und Vertrauen verlieren. 

Die Republikaner legen ausgerechnet bei den Jungen und den Minderheiten zu, die ehemals eher den Demokraten zuneigten. Die demokratischen Parteien müssen bei den eigenen Fehlern beginnen und bündnisfähig werden, wenn sie wieder gewinnen wollen – das gilt auch für Länder wie Italien, Schweden und andere, was demokratiepolitisch von größter Wichtigkeit ist. 

Lediglich Etikettierungen wie Faschismus und historische Analogien mit Mussolinis Aufstieg, dem Prototypen des aufgeblasenen Maulhelden und einer Politik der Gewalt, die im Schwange sind, helfen hier nicht weiter, sie verdecken eher, als dass sie aufdecken. Die differenzierte Wahrnehmung und die Analyse der eigenen Ignoranz, die es immer gibt, wäre produktiver. 

Im damaligen Fernsehduell zwischen Trump und Biden gab es bezeichnenderweise kein Duell über außenpolitische Themen. Auf diesem Feld hätte sich noch deutlicher gezeigt als auf den innenpolitischen Politikfeldern, dass meinungsstarken Typen wie Trump jegliche Objektivität und Sachkenntnis fehlen. Heute behauptet er, „Biden bringe uns an den Rand eines nuklearen Krieges“. Die Macht, verbunden mit dem Amt des Präsidenten, bleibt groß und folgenreich nicht nur für Europa, gleichgültig wie die Mehrheitsverhältnisse im Kongress sind. 

Hier hat auch und vor allem Europa mit dem in Außenpolitik erfahrenen Biden (der auch einmal als Außenminister gehandelt wurde und von Obama die China-Politik übernahm) schlicht Glück gehabt. Auch im Ukraine- Konflikt mit der Atommacht Russland blieb er konstant entschieden und besonnen. Ob dieses Glück für Europa mit den Wahlen 2024 anhält, wird sich zeigen. Wer für die Demokraten mit welchen Chancen ins Rennen geht, davon hängt viel ab in einer Demokratie, die so gespalten und personalisiert ist wie die amerikanische. 

In Bezug auf das durchzogene Abschneiden von Trump sprach man von einer „Dialektik der Wahlen“, weil der Republikaner DeSantis, der in Florida einen Erdrutschsieg erreichte, obwohl ein Zögling Trumps, diesem als Präsidentschaftskandidat der ‚ Grand Old Party‘ von Abraham Lincoln, deren erster Präsident (1861-1865) er war, die sich wieder auf ihre zivilreligiösen Werte besinnt, als „Trump mit Gehirn“ gefährlich werden könnte. Natürlich ist die interne Entwicklung dieser Partei von besonderem demokratiepolitischem Interesse, was bei beherrschenden Zweiparteiensystemen immer für beide Seiten der Fall sein muss. 

Hier fehlt die zentristische Kraft, wenn nicht die Bürger und ihre politische Kultur sowie stabile Institutionen selber eine Balance herstellen können. Das gilt auch für das Westminstermodell in Großbritannien: Labour und die Konservativen, die jeweils, inzwischen schnelle Regierungen bilden. Das heißt generell: wenn man sich mit Demokratien beschäftigt, muss man sich auch mit ihren Parteien und Parteiensystemen beschäftigen, woran kein Weg vorbeiführt. 

Es gibt auch einen Trumpismus ohne Trump und jüngere Ultras stehen in den Startlöchern. Die MAGA- Republikaner (Make America great) sind nicht verschwunden. Die Demokraten hingegen scheinen keinen Nachfolger für Biden aufzubauen, und ein charismatischer Obama ist nicht in Sicht. Für Europa sind diese Wahlen von großer Bedeutung: Mit den USA kann es besser, ohne USA wird es schlechter werden. 

Selbst die demokratische Legitimität der Wahl, die große Errungenschaft der europäischen antitotalitären Revolutionen von 1989, steht indessen zur Disposition. ‚Militär- und Medienmonster‘, die medial aufgeblasenen Maulhelden von heute, verführt und berauscht von Macht, fühlen sich darüber erhoben, sie bestimmen mit dem Chor ihrer lautstarken Anhänger die ‚postfaktische Wahrheit‘ oder greifen in vielen Ländern zum Staatsstreich mit Hilfe des Militärs. 

Man kann auch von ‚plebiszitärer Führerdemokratie‘ (Max Weber) sprechen. Das ist keine Militärdiktatur und noch kein Faschismus, aber eine Gefahr für die populismusanfällige Demokratie, mit der man es politisch frühzeitig aufnehmen muss. Auf dieses Können kommt es an. Selbst in Schweden, lange Zeit das Vorbild für die linke Mitte, ist der Rechtspopulismus inzwischen an der Regierung beteiligt (seit dem 11. September). In Italien, einem Gründungsstaat der EU, gewinnt sogar eine rechte Koalition (Salvini, Berlusconi) mit ehemaligen wirklichen Faschisten, den ‚fratelli‘ von Giorgia Meloni an der Spitze (25. September). 

Die Fratelli d’Italia sind keine faschistische Partei, aber mit faschistischen Mitgliedern und Kadern besetzt. Das Programm besteht aus den bekannten Elementen von allen Rechtsparteien: Nationalismus, Antiimmigration und Nostalgie nach der traditionellen Familie. Problematisch ist das unseriöse Verhältnis zum Rechtsstaat, das innerhalb der EU auch mit Polen und Ungarn, den beiden ‚Demokraturen‘ (Karolewski/Leggewie), große Schwierigkeiten bereitet. 

Direkte Demokratie von oben und unten ist zu unterscheiden. Initiative, Referendum und Plebiszit sind nicht dasselbe. Nach dem Brexit-Schock darf man jedoch nicht das Kind mit dem Bade ausschütten und meinen, losbasierte Bürgerräte könnten direkte Demokratie und Bürgerbeteiligung ersetzen. 

Italien ist fraglos in einer Demokratiekrise seit „mani pulite“, dass die Pfeiler des alten Parteiensystems, die Democrazia Cristiana und die Sozialisten von Craxi, zum Einsturz gebracht hat. Unbeabsichtigt ist damit dem erfolgreichsten Populisten Europas, Silvio Berlusconi („Forza Italia!“ – die Verbindung von Sport, Medien und Politik) der Weg bereitet worden, der viermal zum Ministerpräsidenten gewählt worden ist und auch Mussolini wieder salonfähig gemacht hat. 

Diese Kräfte sind mehr als meinungsstark und verachten das Schwache und Zögerliche, das Ambivalente und Komplizierte. Sie verachten die Regeln und die Toleranz liberaler Demokratien, die der Herrschsucht im Wege stehen, und spielen letztlich ihre egozentrierte Freiheit der verwilderten Selbstbehauptung gegen die Demokratie und die Schwachen aus. Dieser Naturzustand (à la Thomas Hobbes) wird sodann nach Außen auf das Verhältnis der Staaten untereinander übertragen: ‚America first‘! Italien zuerst, ‚Schwedendemokraten‘, ‚wahre Finnen‘ usw. 

In der internationalen Wirtschaft ist ständig explizit von „Handelskrieg“ die Rede. Gegenwärtig spricht man in Deutschland an vorderster Stelle von Wirtschafts- und Energiekrieg und bringt dies in einen Zusammenhang mit Wohlstandsverlusten und sozialen Unruhen. Mit wenig Übertreibung kann man sagen: billige Energie aus Russland, die amerikanische Sicherheit und wachsende Märkte in China machten Deutschlands Erfolgsmodell aus. Die Wirtschaftsschrumpfung der größten Volkswirtschaft Europas wird ganz Europa Sorgen bereiten. In Deutschland wiederum ist an führender Stelle von einer „Neugründung des Wohlstandes“ (Habeck) und neuer „industrieller Revolution“ (Scholz) die Rede, was offene Geschichtsprozesse sind. 

Das rechte Lager gewinnt aufgrund der Schwächen des gegnerischen Lagers, zum Beispiel fehlte die linke Wahlallianz in Italien. Wie kann es dazu kommen? Dabei mangelt es oft nicht so sehr an Moral und Werten, sondern weit elementarer, an Verschiedenem, was gleichermaßen zu beachten ist: Wahrnehmung, Geistesgegenwart, Phantasie, Strategie und Bündnisfähigkeit. Der ‚Partito Democratico‘ in Italien muss erst wieder einmal Land und Leute kennenlernen und zuhören, bevor er wieder erfolgreich sein kann. 

Auch der brasilianische Präsident Bolsonaro (Partido Liberal) hatte offengelassen, ob er einen Wahlsieg Lulas (Partido dos Trabalhadores) akzeptieren werde. Nach dessen knappem Wahlsieg in der Stichwahl am 30. Oktober, tauchte er, der die Militärdiktatur (1964-1985) stets verteidigt hat, zunächst ab und beobachtete, wie weit seine bürgerkriegsbereiten Anhänger gehen werden.

Man erinnert sich an die Bilder der Blockaden und Streiks gegen den demokratisch gewählten Sozialisten Salvador Allende in Chile 1973, dem Nixon und Kissinger nicht wohlgesinnt waren. Die Rolle des Militärs und der Geheimdienste war unrühmlich, die nachfolgende brutale Diktatur von General Pinochet dauerte bis 1990. 

Vertreter demokratischer Institutionen (Parlament, Verfassungsgericht, andere Parteien) haben derweil das brasilianische Wahlergebnis am 30. Oktober sofort anerkannt. So blieb Bolsonaro, der kleine Trump, in der Defensive. Und das Militär? Wird es verfassungsloyal bleiben? Nach einem Bericht sieht es keinen Betrug, lässt aber Raum für Zweifel (FAZ, 11.11., S.4). 

Der Machtwechsel in Brasilien ist ein globales Ereignis und wird als „Chance für den Westen“ wahrgenommen (NZZ, 5.11., S.15). Der 77jährige Lula, der zwei Jahre im Gefängnis verbrachte, ist bei der 27. Klimakonferenz in Ägypten rechtzeitig auf die Weltbühne zurückgekehrt Ein Fünftel des Amazonas-Regenwaldes, ein Gebiet so groß wie Großbritannien, ist inzwischen vernichtet. Auch Biden verspricht der Welt, sie mit dem Vorbild der USA aus der „Klimahölle“ zu führen. 

Gewalten wie Militär, Polizei, Kirche, Justiz und Medien sind wichtige Stützen der Demokratie oder der Diktatur. Sie sind keine homogenen Blöcke und nicht bloß ’schmutzige Hände‘. Auf sie kommt es in Ausnahme- und Krisensituationen vielmehr an, weshalb man sich intensiver und genauer sachlich und politisch mit ihnen beschäftigen sollte. 

Noch mehr unterschätzt als die Parteien sind nämlich die vermeintlich ’seelenlosen Staatsapparate'(Verwaltung Polizei, Dienste, Justiz), insbesondere das Militär. Hier fehlt der demokratischen Politik nicht nur der Einblick, sondern auch der Einfluss und die Kontrolle. Das ist der Fall, wenn das Militär allein in den Händen von Professionellen und Experten ist. In Deutschland spricht man dagegen von einer „Parlamentsarmee“, in der Schweiz von einer „Milizarmee“. Was bedeutet das für das Verhältnis von Politik und Militär und vor allem für die Demokratie selbst? Diese Frage spielt eine Rolle für eine widerstandsfähige Demokratie. 

Der Sturm auf das Capitol am 6. Januar 2021 war zwar kein „Staatsstreich“ im genauen Sinne, da das staatliche Monopol legitimer Gewaltsamkeit nicht erobert werden konnte, aber es war ein nie gesehener unerhörter Angriff auf die weltpolitisch führende Demokratie, zu welcher der Präsident (selbst gegen seinen konservativen Vizepräsidenten Pence) angestiftet hatte. Das Wahlergebnis sollte nicht zertifiziert werden, seitdem kursiert die Lüge von der gestohlenen Wahl, mit der weiterhin die realexistierende Demokratie und ihre Legitimität unterhöhlt wird. 

Der Sturm auf das Capitol war eine wirksame symbolische Aktion mit Gewalt, deren Bilder um die Welt gingen. Ähnliche Bilder gab es am 29. August 2020 auch vor dem Reichstag mit verbotenen Flaggen. Auch hier spielten sich die rechten Revolutionäre vor allem in den sozialen Medien auf, so als ob eine neue Querfront in Berlin kurz vor der Machtübernahme steht. Was mochte die Welt bei diesen Bildern über den Zustand der westlichen Demokratien denken? Eine Riesenblamage für die Hauptstadt Berlin ist auch die komplette Wiederholung der Wahlen vom September 2021 nach Wahlfehlern ohne Ende. Die Regierung hat keine demokratische Legitimation mehr, und die Steuerzahler werden es ausbaden müssen. 

Negative Vorurteile und Ressentiments gibt es genug. Man denke nur an die antiamerikanische Wutrede Putins am 30. September im Kreml. Werden sie bekräftigt? Der Sturm auf das Capitol hatte jedenfalls in Amerika ihren fanatischen Anhängern gezeigt, dass eine zweite Revolution möglich ist. Sie hat propagandistisch ihre Stärke demonstriert, denn sie war deutlich weiter als die Tea Party- Bewegung 2010, die ebenfalls vor dem Capitol aufmarschierte. Neu und überraschend ist inzwischen, wie weit die liberale Demokratie bei vielen ‚Patrioten‘ durch digitale Parallelwelten ausgehöhlt werden kann. Dazu kommen die zunehmenden heimlichen Kriege der Autokraten in und gegen die Demokratien (Gurijew in Tagesspiegel, 15.11., S.6). 

Plattformen wie Twitter und Facebook sind mächtiger geworden als Verfassungsorgane, sie waren und sind die Katalysatoren von Trumps Politik, dem ersten twitternden Präsidenten, der nicht mehr kann, aber auf diesem Wege viele erreicht und mobilisiert. Die Aufmerksamkeitsökonomie ist ihr Geschäftsmodell. Gute normative Institutionen dürfen uns nicht in Sicherheit wiegen. Technokonzerne kontrollieren inzwischen weit mehr Informationen als jede Regierung. 

Wir haben schon von Demokratie als Scheinetikette gesprochen, die beliebt ist und demoskopisch im Schnellen allgegenwärtig geworden ist. Sie wird als Schein-Legitimität wirksam ins Feld geführt. Im derzeitigen großen Kräftemessen zwischen Autokratien und Demokratien benötigen gerade große und wichtige Demokratien, aber auch kleine, die sich behaupten wollen, wieder eine Demokratiepolitik im Großen, denn so selbstüberzeugend und krisenresistent sind sie nicht. 

Einige Punkte zur Demokratiepolitik im Großen: 

  • Vorsicht gegenüber Demokratie als Scheinetikette; 
  • Achtung gegenüber grundlegenden demokratischen Institutionen wie Wahlen, Verfassung, Parlamenten und Gerichten; 
  • Beachtung demokratischer Legitimität; 
  • mehr Demokratie im differenzierten und kombinatorischen Sinne von repräsentativer, direkter und deliberativer Demokratie; 
  • Stärkung effektiver und verbindlicher Teilnahme von Bürgerinnen und Bürger auf allen Ebenen: kommunal, regional, national, europäisch; 
  • Fähigkeit zur öffentlich-argumentativen Auseinandersetzung, um viele überzeugen zu können. 

Für Letzteres wäre die Jesuiten-Regel, den Gegner besser zu kennen als er selbst, mit dem hermeneutischen Prinzip zu verbinden, ihn so stark wie möglich zu machen, bevor seine Schwächen aufgegriffen werden. Die vermeintlichen Stärken muss man dann möglichst überzeugend für die meisten angreifen können und nicht so sehr die offenkundigen Schwächen, was leicht ist. Dies gilt umso mehr in einer Zeit, in der alles medial in Szene gesetzt und durch Werbung überstrahlt wird. 

Das könnte die demokratische Auseinandersetzung inhaltlich verbessern helfen, bevor sie an Hybris und Rechthaberei zugrunde geht.

Bildnachweis: IMAGO / Pacific Press Agency