Demokratie als Scheinetikette

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Die westlichen Demokratien, ob parlamentarisch präsidial oder direkt, werden gegenwärtig eingespannt in einen globalen Systemwettbewerb mit Autokratien/Diktaturen wie China und Russland. Letzteres hat sich auch schon als „gelenkte Demokratie“ (Putin) verstanden und sogar China (People’s Republic of China), beziehungsweise seine Kommunistische Partei, der zahlenmäßig größten Organisation der Welt, will sich als „bessere Demokratie“ profilieren (NZZ, 28.12. 2021, S.13).

Das erinnert an die Lehre von der „Diktatur des Proletariats“ als bessere, nicht-formale Demokratie des Volkes, eine „Volksdemokratie“ also, geführt von einer Partei besonderen Typs (Lenin), welche die Einheit von Staat und Volk verkörpert. Dieser Führungs- und Monopolanspruch hatte und hat Verfassungsrang.

Das ist Vergangenheit und Gegenwart des kalten Krieges zugleich, der nicht vorbei ist. In die Zukunft scheint die normativ positive Interpretation von „illiberaler Demokratie“ (Orban) zu weisen, allgemeiner gesprochen: die populäre Tendenz, Demokratie als autoritäres Regime über Output-Legitimität zu verstehen, wovon es weltweit unterschiedliche Varianten gibt.

Putin hat anfangs April den triumphierenden Wahlsiegern Orban in Ungarn (53%) und Vucic (59%) in Serbien gratuliert. OSZE-Beobachter bemängelten angesichts der öffentlichen Übermacht von Orbans Regierungspartei Fidesz, dass die Grundlagen für eine “ informierte Entscheidung“ der Bürger gegeben waren. Die EU eröffnet derweil ein Rechtsstaatsverfahren gegen das Land, das von der EU finanziell enorm profitiert und zugleich nicht in den Ukraine-Krieg hineingezogen werden möchte.

Auch bei der Wahl von Vucic sind Unregelmäßigkeiten festgestellt worden. Putin bietet Serbien eine erneuerte strategische Partnerschaft an, was hinsichtlich des fragilen föderalen Gebäudes von Bosnien – Herzegowina problematisch werden kann, wofür wiederum die EU eine besondere Verantwortung trägt, erst recht nach dem Jugoslawien-Krieg in den 90er Jahren. Das sollte man nun besser wissen.

Wer sind die „lupenreinen Demokraten“? Schon die Frage führt zu heftigem Streit? Wen also soll Präsident Biden zu seinem Summit for Democracy einladen? Selbst Tunesien, der hoffnungsvolle Startpunkt des arabischen Frühlings (2010-2012), scheint wieder auf dem Weg zur Autokratie. 

In der international vergleichenden Forschung unterscheidet man zwischen verschiedenen Typen „defekter Demokratie“ (Merkel 1999). Wann ist eine defekte Demokratie keine Demokratie mehr? Muss man auch von „hybriden Systemen“ sprechen (Knobloch 2002, 2006)? Fragen über Fragen, das Thema ist uferlos.

Selbst innerhalb der EU sind Demokratien wie Ungarn und Polen wegen ihrer offensichtlich rechtsstaatlichen Defizite umstritten. Sind sie deshalb „Demokraturen“ (Karolewski/Leggewie), welche die verfassungsändernde parlamentarische Mehrheit ausnutzen, um Grundlagen des liberalen Konstitutionalismus anzugreifen? Immerhin gibt es eine Opposition im Land, die dagegen lautstark protestiert.

Einen philosophisch-politischen Kampf um die Deutungshoheit von Demokratie gibt es, seitdem das Wort 430 v. Chr. im antiken Griechenland in die Welt gekommen ist. Es hat ebenso wie die Tyrannei eine lange wechselvolle Geschichte mit bis heute unterschiedlichen Akzenten in verschiedenen politischen Kulturen hinter sich. Was verstehen heute die Großmächte im Zeitalter der Globalisierung unter dem Begriff ‚Demokratie‘? Sie ist inzwischen zu einer ubiquitär bedeutsamen Worthülse geworden, auf die niemand verzichten möchte.

Das ist wieder eine andere Ebene, aber es ist ebenso offensichtlich, besonders in der Eigendarstellung und Propaganda, dass die rivalisierenden Großmächte Wert auf den universellen Wert der Demokratie legen (Peters 2022). China und Russland gaben am 4. Februar während der olympischen Spiele in Peking tatsächlich eine gemeinsame Stellungnahme ab im Geiste „grenzenloser Freundschaft“ für den Wert der Demokratie in den internationalen Beziehungen.

Das richtete sich direkt gegen Bidens Summit for Democracy im Dezember 2021. Wen sollte der amerikanische Präsident dazu einladen? Wo genau verläuft aus amerikanisch-atlantischer Sicht die Grenze zwischen Demokratie und Autokratie, was auch, wie gesagt, aus politikwissenschaftlich-komparativer Sicht keine einfach zu beantwortende Frage ist? (Siehe Literatur). China, Russland, Türkei (Nato- Mitglied) und Ungarn (EU-Mitglied) waren nicht eingeladen. Dabei waren hingegen Irak, Indien, Pakistan, Polen, Philippinen, Brasilien u.v.a. (111 Länder insgesamt).

Kurz zuvor hatte China das White Paper „China: Democracy that works“ veröffentlicht. Darin ist vom „Volk als Herrscher des Landes“ die Rede. Was heißt das? Welches Volk? China sieht sich als Vorbild für den globalen Süden. Es fordert nach außen „demokratische Beziehungen zwischen den Nationen“ und nach innen wird „auf den materiellen Wohlstand als Basis der Demokratie“ hingewiesen (Peters). 

China sieht sich als Entwicklungsmodell auch für die afrikanischen Staaten zum Beispiel und verfolgt unter dem totalitären Herrscher Xi bewusst eine internationale politische Strategie mit prioritärem Blick auf die marxistische Basis ‚ ökonomischer Unterbau‘ und militärischer Stärke in Konkurrenz zu den USA. Was China dabei geistig-ideologisch alles kombinieren kann: Kapitalismus und Kommunismus, Gucci und KP ist atemberaubend.

Nun sind aber nationale und internationale politische Entscheidungen vermehrt von entfernten Ereignissen, Krisen und Katastrophen abhängig, in Bezug auf die es keine demokratischen Entscheidungsprozesse gibt. Der Wert der Demokratie muss also auch auf transnationaler und internationaler Ebene zum Zuge kommen. Schlagworte dafür wie ‚Global Governance‘ sind seit langem bekannt und kommen auch in den erwähnten Papieren von chinesisch-russischer Seite vor. 

Wo aber ist der Bezug zu den Bürgern und Bürgerschaften? Alle modischen ‚key words‘ von heute wie Deliberation, Bürgerdialog, Inklusivität u.a. kommen vor. An Worten fehlt es nicht. Im chinesischen White Paper ist sogar von „konsultativer Demokratie“ die Rede, was wir bei uns mit ‚Bürgerhaushalten“ assoziieren würden. Was aber hat das mit wirklicher Makro-Demokratie zu tun, die nicht nur elitengelenkt ist?

Oder ist es ein Etikettenschwindel (Peters)? Die Schlagworte sind aufgrund hegemonialer amerikanischer Politikwissenschaft überall dieselben. In der Sache und der Praxis differenzieren sie sich jedoch. Sie verdecken mehr als sie aufdecken und dienen den Entscheidern oft als simulierte Demokratie.

Nach der Rechtsprofessorin Anne Peters könnte sich ein globaler überlappender Konsens auf folgende Punkte beziehen:

  • auf ein formal gesichertes Recht zur Abwahl der Regierenden; auf
  • Minderheitenrechte gegen Mehrheitsentscheidungen sowie auf
  • Belange transnational betroffener Menschen und der Natur.

Dann verdiente die Regierungsform das Etikett Demokratie.

Literatur:

Wolfgang Merkel u.a.: Defekte Demokratien, 2 Bde., Opladen 2003/2006
Jörn Knobloch : Defekte Demokratie oder keine? Münster 2002
Jörn Knobloch: Hybride Systeme, Hamburg 2006
Pawel Karolewski/Claus Leggewie: Demokraturen, in: Merkur, Februar 2022
Anne Peters: Demokratie – nur ein Etikettenschwindel? In: NZZ, 28.2. 2022, S.15

Photo by Brian Wertheim on Unsplash