Bürgerbeteiligung und Demokratie

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Von einer neuen Struktur der Bürgerbeteiligung ist es ein weiter Weg zu einer neuen politischen Kultur der Bürgerschaft, denn diese kann weder verordnet noch einfach organisiert werden. Sie muss vielmehr in Lernprozessen allmählich wachsen, befestigt und verteidigt werden. Das Wort ‚Beteiligungskultur‘ täuscht über vieles hinweg. Allgemein kann man sagen, dass bürgerschaftliche Kultur nicht-herrschaftlich, sondern freiheitlich-bürgerschaftszentriert und chancenorientiert ist. Das heißt noch nicht, dass es Chancengleichheit einfach gibt. Primär geht es um die Eröffnung von Beteiligungsangeboten und Chancengerechtigkeit. Zur modernen Kultur gehören heute politisch gesprochen Bürgersouveränität, demokratische (Parteien-)Politik, Gewaltenteilung und eine veränderte Verwaltungskultur, die mit Bürgerinitiativen und Protesten umgehen kann.

Die Rolle der Politiker und Parteien ändert sich in diesem Gefüge, zu dem sie selber mehr beitragen können und müssen, denn die Zukunft der Parteiendemokratie selber ist offen und gefährdet. Überdies ersetzt auch die zunehmend professionalisierte Bürgerbeteiligung weder die Parteien noch die aktive Bürgerschaft. Letztere nimmt oft nicht einmal zur Hälfte an Wahlen teil, zudem sind ihr oft die Hürden der direkten Demokratie zu hoch und zu anstrengend. Nur weil viel von Bürgergesellschaft die Rede ist, ist diese politisch noch lange nicht zahlreich und stark genug. Diskurs und Realität sind nicht dasselbe. Oft kompensiert Ersterer, was Letzteres nicht zu bieten hat. Zudem sind ein kluger Parteienwettbewerb, ein friedlicher Machtwechsel und die konsensuale Regierungsbildung in neuen Koalitionen keineswegs historische Selbstläufer. Mit einer verbesserten kommunalen Demokratie haben wir also noch lange nicht die ganze moderne repräsentative Wähler- und Parteiendemokratie im Auge, ebenso nicht die schwierigen Probleme demokratischen Regierens heute. 

Folgende Semantiken von Demokratie (Definitionen, Selbstverständnisse und Ansprüche zugleich) sind im Umlauf:

  • Demokratie als Staatsform
  • Wahl- und Parteiendemokratie
  • Demokratie als Prozess
  • direkte Demokratie (Volksabstimmungen)
  • gelebte Demokratie im kleineren Kreis.

Wichtig für angehende Bürger sind Orte für eine Demokratie von unten, wo sie eingeführt und selber aufgebaut werden kann. Hier beginnt die Erfahrung der demokratischen Selbstwirksamkeit, hier endet aber die Demokratie nicht. Potsdam hat in den vergangenen 10 Jahren sukzessive Elemente eingeführt, beginnend mit dem Bürgerhaushalt. Wie der Verfahrensmonitor belegt, sind sie im diachronen Vergleich zu 2005, als sich Potsdam programmatisch„auf den Weg zur Bürgerkommune“ machte, zahlreicher und vielfältiger geworden. Auch der Überblick für die Bürger, siehe nur die Webseite und den Newsletter der Landeshauptstadt zur Bürgerbeteiligung, ist transparenter und nachvollziehbarer geworden. Insofern hat ein sichtbarer Schub stattgefunden.

Allerdings sind die verschiedenen Verfahren noch nicht in der breiten Bürgerschaft bekannt und wirklich verankert. Zudem besteht kein notwendiger Zusammenhang zwischen Partizipationsoffenheit und Partizipationsbreite. Man kann das auch das ‚Beteiligungsparadox‘ nennen. Das soll hier nicht quantitativ kritisiert werden, sondern es liegt vor allem daran, (a) dass derzeit eher zu viel als zu wenig und vor allem zu viel gleichzeitig versucht wird und (b) dass die Unterschiede zum Beispiel zwischen Bürgerdialog, Bürgerbefragung, Bürgerbeteiligung, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid als auch (c) die Zusammenhänge etwa zwischen der Stadtverordnetenversammlung und neuen Beteiligungsverfahren noch zu wenig in den Köpfen verankert sind. Bei (a) darf man sich nicht überfordern sowohl in zeitlicher wie sachlicher Hinsicht, (b) und (c) sind ausbaufähig, was allerdings Geduld und Beharrlichkeit voraussetzt. Bürger und Bürgerinnen können sich künftig bei einem Beteiligungspool anmelden, sie sind dann nicht nur ‚ausgeloste‘, sondern immer auch besonders ‚engagierte‘ Bürger und Bürgerinnen, die sich für ihre Stadt interessieren. Dabei handelt es sich inzwischen allgemein um einen verstärkten Einsatz von zufallsbasierten Verfahren in der Bürgerbeteiligung auf allen Ebenen, künftig auch auf der europäischen. Diese Verfahren sollen die Zahlen der Teilnehmenden erhöhen und soziale Selektivität abbauen. Ob damit auch die Legitimation durch Beteiligung gesteigert wird, ist fraglich. Mit neuen Formaten wie Bürgerräten zum Beispiel, die aus Irland kommen, wird inzwischen auch in Deutschland (etwa in Leipzig oder Berlin) experimentiert. Das ist auf jeden Fall sinnvoll, wobei man aufpassen muss, dass sie nicht zu Audienzen für die Regierenden werden (wie die Bürgerkonvente in Frankreich).

Die formellen wie die nicht-formellen Verfahren haben je spezifische Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen. Nicht alles ist möglich, und nicht alle Grenzen können auf einmal überwunden werden. Also kommt es auf die Spezifität und die Relationierung an, wenn bestimmte Ziele verfolgt werden. Politisches Handeln ist intentional, gleichzeitig aber auch ziel- und wertorientiert sowie verfahrensinnovativ, was man prozedurale Politik nennen kann. Insbesondere im Krisenmodus wird prozedurale Politik wichtiger. Ebenso wichtig ist aber auch eine kognitive Landkarte in den Köpfen der Bürger, Politiker und Verwalter. Sie sichert eine bessere Orientierung im Denken gerade auch über Demokratie, so dass ihre Rationalität nicht verloren geht. Neben der besseren Nachvollziehbarkeit in der heterogenen Bürgerschaft muss darüber hinaus die bessere Abstimmung der verschiedenen Elemente der Bürgerbeteiligung untereinander sowie mit den herkömmlichen demokratischen Institutionen ein hauptsächliches Ziel bleiben. Demokratiestärkung durch Demokratiepolitik bleibt das Anliegen.

Nur wenn diese Unterschiede erkannt und die Zusammenhänge verstanden sind, können sie für die Bürger als Politiker und die Politiker/Verwaltung als Bürger zu einem ‚Werkzeugkasten der Demokratie‘ werden, der fallweise eingesetzt, ergänzt und sukzessive verbessert wird. Die Machtteilung durch eine effektive und breite Bürgerbeteiligung liegt im eigenen Interesse der Politik, insbesondere auch der Parteien und ihrer Vertreter sowie der Verwaltung, um eigenen Überforderungen in sachlicher, sozialer und zeitlicher Hinsicht entgegenwirken zu können, was noch immer nicht genügend erkannt ist. Auch gibt es Ängste, Macht zu teilen und zu verteilen, nicht nur in der Verwaltung. Die neue Ausbalancierung der Macht hilft aber mit, das Politische im demokratischen Sinne von Teilnahme und Teilhabe zu stärken. Wie Partizipation so verlaufen diese Verknüpfungen und Synergieeffekte nicht automatisch, sie müssen vielmehr von verschiedener Seite erkannt, gesucht und erstritten werden. Sie werden werden allerdings auch umstritten bleiben. Streit gehört zur Demokratie.

Ebenso wenig wie die direkte Demokratie einfach ist, obwohl sie relativ schnell viel entscheiden kann, was für die meisten ihre Attraktivität ausmacht, kann man die neuen Verfahren einfach in ein System bringen. Deshalb plädieren wir dafür, begriffliche Unterscheidungen zu machen, um kognitive Zusammenhänge herzustellen, und zwar im praktischen Erkenntnisinteresse demokratischer Regierbarkeit. Diese muss nicht immer und überall neu erfunden werden, denn die einzelnen Elemente sind vorhanden. Sie muss aber stets neu gefunden und zusammengesetzt werden. Demokratisches Regieren beruht nicht einfach auf generellen Regeln, die oft nichtssagend sind. Vielmehr ist vom werkstadtspezifischen Charakter der verschiedenen Orte, Regionen und Länder, die alle ihr Geschichte und ihre eigenen Probleme haben, auszugehen. Das wiederum heißt nicht, dass man nicht voneinander lernen kann – im Gegenteil. ‚Glokalisierung‘ im doppelten Sinne der Verbindung von global und lokal sowie einer transnationalen Politik der Städte, Regionen und Staaten ist die universale Strategie, die von überall her auf unterschiedliche Weise durchführbar ist. 

Die neuen informellen Verfahren prozeduraler Politik sollen zu besseren und konsensfähigeren Lösungen auf allen Ebenen führen. Mit dem bisher umfangreichsten Beteiligungsprozess strengte zum Beispiel die Stadt Potsdam als wachsende Stadt ein neues Leitbild 2025 an, welches schließlich an alle Haushalte verteilt worden ist. Es ist das erste Leitbild, das im September 2016 mit großer Mehrheit von der Stadtverordnetenversammlung bestätigt worden ist. Es benennt ausführlich, wie Potsdams Einwohner und Einwohnerinnen in den nächsten Jahren miteinander leben wollen. Der Titel ist programmatisch: „Eine Stadt für Alle“. Dabei geht es um 26 Thesen. Sie beziehen sich auf ‚Die innovative Stadt‘, ‚Die produktive Stadt‘, ‚Die Wissensstadt‘, ‚Die wachsende Stadt‘, und ‚Die lebendige Stadt‘. Dieses Leitbild bildet die oberste Ebene einer ‚strategischen Steuerung’, die sich auf verschiedenen Ebenen vollzieht. Daraus leiten sich die gesamtstädtischen Ziele ab, aus denen wiederum konkrete Schwerpunkte für die Haushaltsplanung entwickelt werden. Auf der untersten Ebene stehen die themenbezogenen Maßnahmen, die von der Verwaltung umgesetzt werden. 

Die neun gesamtstädtischen Ziele, die im Sommer 2018 entwickelt wurden, setzen die Prioritäten: Digitales Potsdam, Wachstum mit hoher Lebensqualität, antizipatives Flächenmanagement, Bildungsinfrastruktur (Schulen, Kitas) usw. Die Ziele fußen auf dem Leitbild. Sie sehen vor, die Bürgerbeteiligung zu stärken, im Haushalt kontinuierlich Eigenmittel zu erwirtschaften und die Neuverschuldung zu begrenzen. Die IT-Infrastruktur soll ausgebaut werden, ebenso geht es um die Balance von Ökologie, Sozialverträglichkeit und wirtschaftlicher Entwicklung. Zudem soll für die Beschaffung von bezahlbarem Wohnraum und einer nachhaltigen Quartiersentwicklung gesorgt werden. Die gesamtstädtischen Ziele verbinden den Haushalt, auch den Bürgerhaushalt, mit dem Ansatz der strategischen Steuerung. So können sich die Planungen stärker auf die wichtigen Aufgaben für die Bürgerinnen und Bürger konzentrieren, was diese freilich weiterhin begleiten und überprüfen müssen. Vor allem die Planungswerkstätten für die integrierte Stadtentwicklung (INSEK), an denen der Beteiligungsrat mitwirkt, dienen dazu. In der Planungswerkstatt ‚Golm-Eiche-Bornim-Bornstedt‘ beteiligten sich am 5. März mehr als 70 Bürgerinnen und Bürger. Auch in der Kulturscheune Marquard beteiligten sich viele, um über die Entwicklungen in Fahrland und Krampnitz zu diskutieren. Sobald alle Planungswerkstätten stattgefunden haben, werden die Ergebnisse in einem Planungsforum zusammengeführt (www.potsdam-de/INSEK). Hier wird sich erweisen, wie stark Bürgerbeteiligung wirksam ist. Die Vorschläge zum Potsdamer Bürgerhaushalt für die Jahre 2020 und 2021 sollen möglichst dem Leitbild sowie den gesamtstädtischen Zielen zugeordnet werden. Dieser Prozess ist nun durch die Corona-Krise erheblich verzögert und erschwert worden.

Die demokratische Legitimität einer noch so vielfältigen und kraftvollen Politik der Bürgerbeteiligung ist in einem größeren Zusammenhang zu sehen. Der von uns referierte und reflektierte Schub an Bürgerbeteiligung (am Beispiel von Potsdam) reagiert auf Defizite der Wähler-, Parteien- und Verbändedemokratie. Zugleich hat dieser Schub Verbindungen mit der Parteien- und Grundrechtedemokratie sowie vor allem auch mit der ‚Protestgesellschaft‘ (vereinfacht gesagt) seit den 60er Jahren, deren Legitimität von der einklagbaren Grundrechtedemokratie abgeleitet ist. Diese Relationen können und sollen sich wechselseitig verstärken, sie können aber auch auseinanderfallen und in Konflikt geraten bis hin zum ‚Systemkonflikt‘, beispielsweise zwischen ‚direkter Demokratie‘ und ‚Grundrechtedemokratie‘ oder ‚Protestdemokratie‘ und ‚repräsentativer (Parteien-)demokratie‘. Politische Bildung und Urteilskraft, die in Relationen denken, sind hier herausgefordert. Sie brauchen freilich Lernprozesse und Erfahrungen, um sich zu entwickeln – die Schule der Demokratie. Normativ hat für uns die Verfassung als Programmatik für eine verfassungsdemokratische Bürgergesellschaft und ihre lernfähige Demokratie einen Vorrang. Sie ist das umfassendste und oberste Konzept einer bürgerschaftszentrierten demokratischen politischen Theorie und enthält die verschiedenen Elemente der Demokratie, die ausbaufähig sind. 

Jedes dieser Elemente hat eine eigene Legitimitätspolitik: 

  • Grundrechtedemokratie; sie hat höchste Legitimität;
  • repräsentative (Parteien-)Demokratie; sie hat eine hohe Legitimität;
  • direkte Demokratie; sie hat eine hohe und manchmal höchste Legitimität;
  • Protestdemokratie; sie hat eine abgeleitete und nicht verfasste Legitimität;
  • informelle Bürgerbeteiligung; sie hat eine abgeleitete und nicht verfasste Legitimität.

Mit Bürgerbeteiligung und Demokratie geht es uns um eine verbesserte und ergänzte Legitimitätspolitik der repräsentativen Wähler- und Parteiendemokratie, die deutliche Defizite aufweist. Die Wahl bleibt aber nach wie vor die wichtigste Institution demokratischer Legitimation. Die verschiedenen Ersatz-Legitimitäten vermögen diese nicht zu ersetzen. Die demokratischen Revolutionen von 1989 standen im Zeichen demokratischer Legitimität. Uns geht es heute um eine nachhaltige, verbesserte und ergänzte Legitimitätspolitik der repräsentativen Wähler- und Parteiendemokratie. In unserer schematischen Übersicht fehlen freilich noch die ‚Legitimität des Wirtschafts- und Finanzsystems‘ ebenso wie das Mediensystem, einschließlich Internet, sowie der Zustand der Öffentlichkeit, für die alle eine eigene Spalte reserviert und diskutiert werden müsste. Ob Wahlen und Abstimmungen in diese Bereiche ausgedehnt werden können, bleibt eine offene Frage. Außerdem betrifft die Verbesserung der Bürgerbeteiligung, einschließlich der Wahlbeteiligung, nicht nur die Frage der demokratischen Legitimität, sondern ebenso die Frage der sinnvollen Tätigkeiten in einer Zeit unendlicher Vermarktung. Dafür wäre der Begriff des bürgerschaftlichen Engagements sowohl über das Politische wie auch über das Bildungsbürgerliche hinaus zu erweitern und neu zu definieren. 

Unser vielfältiges Spektrum der Beteiligung bewegt sich zwischen den beiden gleichermaßen positiven Polen Regierungskunst und Basisaktivierung. Dabei entstehen kombinatorisch neue Elemente der Regierungskunst ebenso wie neue Formen der Aktivierung und Beteiligung. Unser Erkenntnisinteresse gilt der besseren demokratischen Regierbarkeit, vor, in und nach der Krise. Die demokratische Regierbarkeit besteht in einer jeweils problemlösungsorientierten und konstruktiven Kombination der Demokratieelemente, denn Regierungskunst ist nicht per se demokratisch und liberale ebenso wie Bürgerbeteiligung nicht per se demokratisch und liberal ist. Der grundgesetzliche Minderheitenschutz zum Beispiel muss beachtet werden; nicht über alles kann jederzeit abgestimmt werden, wenn Bürgerrechte ernstgenommen werden. Grundrechte stehen nicht einfach zur Disposition von Mehrheitsentscheidungen. Das Asylrecht zum Beispiel kennt grundrechtlich keine Obergrenze. In der Schweiz diskutiert man gegenwärtig – nach den Erfahrungen mit der Minarett-Verbotsinitiative –, wie Texte von Volksinitiativen besser mit völkerrechtlichen Anforderungen zu vereinbaren sind, etwa durch die Prüfung von Verfassungsrichtern. Dies würde die direkte Demokratie nach schweizerischem Vorbild mit dem Volk als Souverän der Grundrechtedemokratie nach bundesrepublikanischem Muster annähern. Legitimitäts- und Verfassungskonflikte bleiben deswegen nicht ausgeschlossen. Sie werden die Demokratiekonflikte in der Demokratie weiterhin begleiten. Eine lernende Demokratie bleibt die Aufgabe.

(April 2020)

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Diese scheinbar einfachen Fragen sind nicht leicht zu beantworten. Eine demokratische politische Theorie stellt die abwechselnde Regierung der Demokratie in den Mittelpunkt. Es geht ihr darum, die regierende Demokratie in verschiedenen Hinsichten möglichst stark zu machen. Eine gute Regierung gehört auch dazu. Aber wie viel Demokratie benötigt eine gute Regierung? Welche Elemente einer Demokratie der Bürger können wie gestärkt werden?

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