Bürgerbeteiligung als Demokratiestärkung

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Die Beteiligungsangebote der Stadt Potsdam sind in den letzten 10 Jahren zahlreicher, vielfältiger und transparenter geworden. Kaum jemand kennt sie alle. Aus demokratischer Sicht ist es aber wichtig, die Kanäle zu kennen, wie Einwohnerinnen und Einwohner ihren Anliegen Gehör und Beachtung verschaffen können. Die Internetseite der Stadt über Bürgerbeteiligung hält inzwischen die Bürgerschaft übersichtlich auf dem Laufenden und darüber hinaus gibt es einen Newsletter zu den aktuellen Projekten, der kostenfrei abonniert werden kann: www.Potsdam.de/NewsBeteiligung.

Es gibt wenige Städte, die seit vielen Jahren gleichzeitig ein funktionierendes Stadtforum mit über 60 Sitzungen zu wichtigen Themen der Stadt und einen funktionierenden Bürgerhaushalt, der inzwischen mehr als 17.000 Teilnehmer zählt, vorweisen können. Seit 2013, nachdem der Oberbürgermeister zu Beginn seiner zweiten Amtszeit 2010 die immer wieder geforderte vermehrte Bürgerbeteiligung zu seinem Anliegen gemacht hat, kommt das Modellprojekt ’strukturierte Bürgerbeteiligung‘ hinzu, zusammen mit der Verwaltung, der zivilgesellschaftlichen Werkstadt für Beteiligung und dem Beteiligungsrat.

Die mehrheitlich ehrenamtlichen Bürgerinnen und Bürger im Beteiligungsrat haben das Projekt mitaufgebaut und in mehr als 70 Sitzungen zahlreiche Impulse gegeben. Der Beteiligungsrat ist dadurch ein Ort für konstruktive Debatten geworden, die öffentlich zugänglich sind und deren Protokolle auf der Internetseite der Stadt nachgelesen werden können.

Der Beteiligungsrat trifft sich einmal im Monat zu einer zweistündigen Sitzung, die vorbereitet wird. Oft werden zusätzliche kleine Arbeitsgruppen gebildet, es ist aber darauf zu achten, das Zeitbudget der neun Ehrenamtlichen nicht übermäßig zu belasten. Die professionelle Vorbereitung und Moderation der Sitzungen indessen sind unumgänglich. Wichtig ist, dass der jeweils für zwei bis drei Jahre neu zusammengesetzte Rat sich diejenigen Themen vornimmt, die er personell, sachlich und zeitlich auch angehen und lösen kann.

Dabei gibt es von der Stadtgesellschaft her Aufgaben, bei denen der Beteiligungsrat, will er seinem Anspruch gerecht werden, nicht fehlen kann. Das war zum Beispiel beim erstmaligen Leitbildprozess der Fall. Mit diesem bisher umfangreichsten Beteiligungsprozess wurde ein Leitbild 2025 für die rasant wachsende Stadt erarbeitet, das im September 2016 von der Stadtverordnetenversammlung verabschiedet worden ist und schließlich an alle Haushalte verteilt wurde.

Dieses Leitbild ist die oberste Ebene einer strategischen Steuerung, die sich auf verschiedene Ebenen bezieht. Im Sommer 2018 wurden daraus neun gesamtstädtische Ziele abgeleitet, welche die Prioritäten setzen: Wachstum mit hoher Lebensqualität, digitales Potsdam, antizipatives Flächenmanagement, Bildungsinfrastruktur (Schulen, Kitas) u.a.. Diese Ziele verbinden den Haushalt, auch den Bürgerhaushalt mit der strategischen Steuerung. So können die Planungen sich stärker auf die Bürgerinnen und Bürger ausrichten.

Vor allem die Planungswerkstätten für die integrierte Stadtentwicklung (INSEK), an denen der Beteiligungsrat mitwirkt, dienen dazu (2020). Die Coronakrise hat die Beteiligung daran erheblich erschwert und zugleich neue Techniken und Formate digitaler Beteiligung hervorgerufen, an denen der Beteiligungsrat konstruktiv mitgearbeitet hat, so dass die Demokratie systemrelevant geblieben ist.

Ebenso ist die Weiterentwicklung des Bürgerhaushalts, zum Beispiel die Einführung von Bürgerbudgets für einzelne Sozialräume, oder die permanente Berücksichtigung der Kinder- und Jugendbeteiligung, die in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte erzielt hat, ein durchgängiger Aspekt der Arbeit des Beteiligungsrates.

Obligatorisch für die neue Struktur des Ganzen ist aber in erster Linie die Begleitung der Werkstadt für Beteiligung durch die Diskussion ihres Verfahrensmonitors, der über den Stand der laufenden Beteiligungsprojekte informiert. Hier sehe ich auch die qualitative Evaluation angesiedelt über die Angemessenheit, Möglichkeiten und Grenzen der verschiedenen Verfahren. Dafür sollte man sich mehr Zeit nehmen. Werkstatt und BR können hier zusammen praxisbezogene reflexive Forschung betreiben, die Sinn macht und zu Erkenntnissen über Bürgerbeteiligung führt.

Mit den strukturellen Ungleichheiten auf diesem Feld muss bewusster umgegangen werden. Dass die schleichende Professionalisierung und Akademisierung der Bürgerbeteiligung Sprechfähigkeiten und Diskussionskultur bestimmen, wird zu wenig selbstkritisch reflektiert. Die soziale Selektivität ist ein großes Problem. Deshalb muss auch über veränderte Veranstaltungsformate, Settings und Ortswechsel nachgedacht werden. Die knappen zeitlichen Ressourcen vieler Bürgerinnen und Bürger werden real noch immer unterschätzt, woraus Frustrationen, Enttäuschungen und Absenzen resultieren, die zu häufig sind. Nie wird man aber allen Erwartungen gerecht werden können.

Daneben gibt es fakultative Themen und aktuelle Anfragen, die nicht weniger wichtig sind, die aber je nach persönlichen Ressourcen und Kompetenzen angegangen werden müssen. Themen gibt es für den Beteiligungsrat mehr als genug, das ist nicht das Problem. Die Lösung ist eine kluge Selbstbeschränkung und eine Priorisierung, die offenbar schwerfällt, während die Kapazitäten für die Werkstadt sowohl personell wie sachlich aufgestockt werden müssen. Drei Stellen für die interne und drei Stellen für die externe Werkstadt sind das Minimum. Der Kooperationsvertrag der regierenden Stadtkoalition (rot-rot-grün) enthält diese Bezüge, woran man für die weitere Arbeit anknüpfen kann.

Die Struktur kann so insgesamt gestärkt werden, wenn außerdem die Zusammenarbeit mit dem Oberbürgermeister und der Stadtverordnetenversammlung effektiver wird. Davon sind wir noch weit entfernt, da in den letzten Jahren eher eine Verzettelung als eine Konzentration stattgefunden hat. Wenn aber überall, vor allem in der Verwaltung, von Partizipation bloß geredet wird, findet sie am Ende nirgendwo mehr statt. Hier ist eine Neuorganisation der internen Werkstadt im Rahmen der Verwaltung nötig.

Die Parteienpolitik schreibt sich zwar die Bürgerbeteiligung gerne auf die Fahnen, ist aber personell und zeitlich selber überlastet und überfordert mit zu vielen und überlangen Sitzungen, worin Potsdam deutscher Meister ist. Wenn sich die trialogische Kommunikation zwischen Politik, Bürgerschaft und Verwaltung verbessert, was dringend notwendig ist, so ist dies auch ein Schritt in Richtung einer Demokratiepolitik, die soziale, sachliche und zeitliche Überforderungen auf allen Seiten abbaut, die viele Menschen davon abhält, überhaupt noch an den öffentlichen Angelegenheiten ihrer Stadt teilzunehmen. Die Nicht-Wähler sind nicht umsonst die größte Partei.

Auf der anderen Seite schaffen die neuen informellen Verfahren nicht nur oft besser vorbereitete und konsensfähigere Lösungen, sondern auch eine positive Identifikation mit dem Ort, in dem man lebt. Das betrifft in erster Linie den eigenen Stadtteil. Nicht zufällig läuft in den einzelnen Stadtteilen, ob Schlaatz, Babelsberg, Potsdam-West oder Bornstedt viel, darunter auch viel Neues und Originelles. Der ökologische Umbau von Drewitz zur Gartenstadt mit Bürgerbeteiligung ist bundesweit ein Vorbild geworden.

Viele sagen, ich bin dabei, weil ich Potsdamer bin oder weil dies mein Quartier ist. Diese Verortung ist im Kleinen wie im Großen wichtig, wiewohl im Großen schwieriger in einer Welt in Stücken. Es gibt aber auch eine wichtige Verbindung zwischen der großen Welt und der Lebenswelt, die über die Glokalisierung läuft und hier spielen die Städte eine werkstattspezifische Rolle. Jede Stadt hat eigene Ansprüche und eine urbane Agenda, mit denen sie Unterschiede setzen kann.

Potsdam versteht sich als Klimastadt und als weltoffene Kommune, sie ist klimapolitisch und flüchtlingspolitisch in Städtebündnissen stark engagiert. Daraus erwachsen neben prozessualen Ansprüchen an die Beteiligung (wie Chancengleichheit, Niedrigschwelligkeit, Informationsbereitstellung u.a.) auch inhaltliche Kriterien wie die Berücksichtigung ökologischer und sozialer Aspekte, etwa beim Bauen neuer Quartiere (Innenstadt, Krampnitz, Pirschheide). Die Staaten allein, soviel ist sicher, werden die notwendige Nachhaltigkeit nicht schaffen, sie brauchen die Städte dazu – überall auf der Welt. Auch und gerade Lokalpatrioten können so produktive Weltbürger werden.

Im Großen, über die eigene Region hinausgehend, ist man nicht immer erfolgreich, auch das gehört zur modernen Demokratie. Dennoch sollte man sich die Möglichkeiten direkter Demokratie nicht ausreden lassen, so aufwendig sie sind. Erst kürzlich war das Bürgerbegehren für bessere Arbeitsbedingungen und Tariflöhne der Mitarbeiter des Bergmann-Klinikums mit 17.000 Unterschriften erfolgreich und wurde von der Stadt angenommen. Ein weiteres Bürgerbegehren gegen das Wuchern der Mietpreise „Mietendeckel“ ist im Gange, denn vergessen wir nicht den Titel des demokratisch beschlossenen Leitbildes: „Eine Stadt für alle.“

Solche Initiativen dürfen freilich nicht übereilt und unüberlegt ins Leere laufen, da bei großem Aufwand des Engagements die Enttäuschungen umso nachhaltiger wirken. Bürgerumfragen, Bürgerräte, Stadtforen, Bürgerhaushalte, Bürgerbegehren und Volksentscheide sind je spezifische Instrumente von Bürgermacht in ihren verschiedenen Facetten: von Information über Empfehlungen und Vorschläge bis hin zu Entscheidungen. Insbesondere die Brücke von der Beratung zur Entscheidung sollte vermehrt ausprobiert werden.

Diese Verfahren können potenziell alle etwas bewirken, weshalb man sie einführen und kennen sollte. Man sollte sie auch nicht gegeneinander ausspielen, sondern möglichst kombinatorisch verwenden, denn Demokratie ist komplex, anstrengend, vielstimmig und konfliktreich. Sie insgesamt in ihrer zivilen Komplexität zu erhalten und zu stärken, sollte unser Anliegen sein.

(Veröffentlicht in: Werkstattbericht 2015-2020, Werkstadt für Beteiligung, Potsdam 2021)